Mitglied
- Beitritt
- 04.05.2016
- Beiträge
- 28
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Erschütterungen
Schnellen Schrittes ging sie zu ihrem Auto.
Nur kurz glitten ihre Gedanken zu der Hitze, die sie darin erwarten würde. Sie hatte am Morgen einfach den erstbesten Parkplatz genommen, ohne darüber nachzudenken, dass ihr Auto den ganzen Tag in der sengenden Sonnenhitze stehen würde. Das würde sich nun rächen.
Sie zog den Schlüssel hervor, in Gedanken schon wieder bei dem Gespräch, dass sie gerade geführt hatte. Wie lange hatte es gedauert? Sie blieb stehen, starrte ins Leere.
Wie lange hatte es gedauert, ihre Welt zu erschüttern?
Sie schluckte. Er war vierzehn. Vierzehn und hatte sie mit wenigen Worten in den luftleeren Raum geschickt.
Was sollte nun werden? Wie sollte sie weitermachen?
Hätte sie jemand aus ihrer Gemeinde gesehen, er hätte sich über sie gewundert. Sie war bekannt für ihre feste Überzeugung, ihren Glauben, ihre Energie, ihren grenzenlosen Optimismus und vor allem dafür, dass sie immer in Eile war. Immer unterwegs zur nächsten Verpflichtung, Termin oder Notfall oder aber natürlich nach Hause, zu ihren Kindern, ihrem Mann. Es passte nicht ins Bild: die Pastorin, wie erstarrt auf dem menschenleeren Parkplatz vor ihrem Gemeindehaus, den Autoschlüssel in der Hand, verloren.
Dabei hatte sie am Morgen noch gedacht, es würde einer dieser leichten Tage, die ihr eine Atempause gewährten in ihrem manchmal so schwierigen Alltag. Sie hatte sich gefreut. Die Konfirmationen standen an und der Unterricht näherte sich seinem Ende.
Vor einigen Jahren hatte sie Einzelgespräche mit den Jugendlichen eingeführt, die ihren Konfirmationsunterricht besuchten, um ihren Schäfchen auf den Zahn zu fühlen. Sie wollte sichergehen, dass sie verstanden, was sie mit der Zeremonie taten. Sie wollte nicht nur eine dieser netten Spaßfreizeiten anbieten, bei der man am Ende Geld von den Verwandten bekam und den Führerschein bezahlen konnte. Die Mädchen und Jungen sollten wirklich wissen, in was sie eintraten.
Die ersten Gespräche waren gut verlaufen. Dann kam er.
Sie hatte sich ihn absichtlich für den Schluss aufgehoben, sich Zeit nehmen wollen. Irgendwie hatte sie ihn in all den Monaten nicht einzuschätzen gelernt. Immer wieder war er ihr entglitten. Dabei konnte sie nicht sagen, was sie eigentlich störte. Nie hatte er den Unterricht blockiert, sie nicht geärgert, nein, eigentlich hatte er sich überhaupt nicht groß beteiligt. Wenn sie ihn etwas gefragt hatte, hatte er stets die richtigen Antworten parat. Wie ein Fisch hatte er sich nicht packen lassen.
Das hatte sich heute ändern sollen.
Sie hatte ihn gefragt, warum er sich konfirmieren lassen wolle.
Er hatte gefragt: „Warum nicht?“
Sie hatte gefragt, welchen Wert die Worte Jesu Christi in seinem Leben hätten.
Er hatte gefragt: „Was für einen Wert haben die denn in Ihrem Leben? Wenn sich morgen herausstellen sollte, dass Jesus nichts von alledem gesagt hat, was in der Bibel steht, würden sie aufhören, sich um andere zu kümmern?“
Da hatte sie aufgehorcht. Sie hatte ihn gefragt, ob er denn überhaupt an Gott und Jesus Christus glaube.
Er hatte geantwortet:
„Ich ‚glaube‘ nicht. Ich weiß mit dem Wort nichts anzufangen.“ Er hatte sich vorgebeugt und sie gemustert. Es schien ihr, als versuchte er einzuschätzen, ob er ihr seine Gedanken anvertrauen konnte.
Sie hatte sofort reagiert:
„Raus mit der Sprache. Ich höre Dir zu.“
„Hm“, er traf eine Entscheidung, schloss kurz die Augen, holte tief Luft.
„Also gut. Was soll das bedeuten? 'Glauben'? Entweder ich habe Anhaltspunkte, dann brauche ich nicht zu glauben, dann kann ich aus den Anhaltspunkten schließen oder ich habe keine, dann brauche ich mir auch nichts auszudenken.“
Sie war verblüfft.
„Aber warum bist du dann in meinem Unterricht? Deine Familie ist doch gar nicht in der Kirche.“
„Nein. Aber ich will hinein.“
„Warum?“, hatte sie gestottert, erschrocken von seiner Heftigkeit. „Und warum überhaupt ausgerechnet in die Evangelische Kirche?“
„Die Kirche selbst ist mir völlig egal. Ich glaube nicht an ihre Religion oder irgendeine andere. Überhaupt finde ich den ganzen Hokuspokus um die Entstehung der christlichen Welt ziemlich Banane. In sieben Tagen die Welt erschaffen, Adam, Eva kriegen Kain und Abel. Kain erschlägt Abel und findet seine Frau… Wo kommt die her? Inzest ohne Ende. Dann ewig alte Leute, eine Flut, bei der von allem nur ein Pärchen überlebt und ich mich die ganze Zeit frage, was zum Geier, die vielen Tiere eigentlich die ganze Zeit fressen, wenn schon nicht sich gegenseitig. Kaum ist das überstanden, zwingt der so genannte ‚liebe‘ Gott einen, der ihm wirklich ergeben ist, die Bereitschaft ab, den eigenen Sohn zu töten. Dann dieser Hiob. Der ist die ärmste Wurst von allen, aber es heißt ja auch, der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen, oder? Ach nee, das ist hier ja auch der so genannte ‚liebe‘ Gott. Und dann das Wort ‚christlich‘, da wird mir voll schlecht. Die Menschen haben ein bemerkenswert selektives Gedächtnis. ‚Christlich‘ sind auch Inquisition, Kreuzzüge, Völkermord, Hexenverbrennung, Ausbeutung, Sklaverei, Missbrauch und Ausgrenzung. Na herzlichen Dank, da will man doch gleich Christ werden, oder?
Und wenn wir hier schon mal so nett zusammen sitzen, Frau Pastorin, haben Sie jemals das Neue Testament gelesen und nicht gedacht, dass Jesus ein echt manipulativer Guru war?
Ha! Wäre das alles ein Hollywoodfilm und man würde ihn im Kino zeigen, die Leute würden entweder buhen oder sich totlachen. Aber trösten sie sich, die anderen Religionen sind ja nicht besser. Absolut nicht! Eine beknackter als die andere. Sobald der Mensch eine Religion entwickelt, ist es vorbei. Erst kann man sich was nicht erklären, also schiebt man es einem höheren Wesen unter, dann findet man Leute, die mitmachen und schon ist man eine Glaubensgemeinschaft.
Wussten Sie, dass alle Kirchen mal Sekten waren? Und jetzt blicken die Kirchen verächtlich auf die Sekten. Was für‘n Quatsch. Da geht es nur um Macht. Das war schon immer so. Die, die mitmachen, belohnt man mit Geld, Ämtern oder zumindest der Hoffnung auf‘s Jenseits und die, die nicht mitmachen, sind die Bösen, die bekriegt man, vernichtet oder unterwirft man.“
Geschockt hatte sie ihn angestarrt.
Das musste sie ersteinmal verdauen. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Schließlich hatte sie herausgebracht:
„Also, also bist du Atheist?“
„Nein!“ hatte er geschrien, „Auf keinen Fall!“
Dann hatte er sich zusammengerissen:
„Ich 'glaube' nicht, aber ich 'hoffe'. Ich hoffe, dass es so was wie Gott gibt. Dass das alles hier einen uns nicht erkennbaren Sinn ergibt. Dass die Kinder, die auf dem Weg zu uns im Mittelmeer ertrinken, nicht einfach nur weg sind, dass Jungs wie mein kleiner Bruder, die aber nicht hier, sondern in Sao Paulo geboren werden, nicht einfach nur auf Müllkippen nach Essen suchen, dass kleine Mädchen nicht einfach nur an Leute, die sie zu Tode vergewaltigen, verkauft werden, dass keine Mutter zusehen muss, wie ihrem Baby von einem Geier die Eingeweide aus der Bauchdecke gerissen werden, sondern dass irgendein verschissener Zweck dahinter steckt.
Denn was ist die Alternative, Frau Pastorin? Was wäre unsere Welt ohne die Hoffnung auf einen Gott? Ich wäre nur ein Junge, der sieht, ohne helfen zu können. Wie Scheiße wäre das denn? Wie könnte je wieder irgendein Mensch auf dieser Welt, der auch nur den kleinsten Fitzel Gutes in sich hat, morgens aufstehen, ohne zu kotzen? Sie werden jetzt sagen, die Menschen verdrängen, ich sage, die Menschen brauchen Gott, Allah, Shiva oder sonstwen, um an den Konsequenzen, die eine Welt ohne Gott hätte, nicht zu Grunde zu gehen. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Oder halten Sie es für möglich, dass das Universum eine so geniale Entwicklung wie das Bewusstsein einfach verschwendet? Und was ist mit unserem Gehirn? Es heißt, wir verwenden nur einen Bruchteil davon. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Natur ein so aufwendig zu unterhaltendes Organ ohne erkennbaren Sinn, quasi sicherheitshalber betreibt? Ich ziehe also den Schluss, dass da noch mehr sein muss.
Aber, habe ich mir gedacht, vielleicht sollte ich meine ‚Hoffnung‘ sicherheitshalber lieber amtlich machen. Deshalb will ich in eine Kirche und Ihre ist nun mal direkt nebenan.“