Ernie Erpelgrün wird unsichtbar
Ernie Erpelgrün wird unsichtbar
Über Nacht war es Winter geworden. Eine dünne Schneedecke lag auf der Wiese und färbte sie weiß, ebenso den Teich; der war von einer zarten Eisschicht überzogen, auf der sich nun Schnee sammelte.
Ernie Erpelgrün mochte den Winter nicht. „Schnee ist doof!“, hatte er auf dem Heimweg vom Kükengarten zu Fiona Federweich gesagt. „Man rutscht darauf aus und wird ganz nass, und kalt ist er auch! Und der Teich ist zugefroren und ich kann nicht schwimmen gehen!“, maulte er.
„Herrje - Ernie, nag nag!“, sagte Fiona, „sei doch nicht so griesgrämig, nag nag! Es ist doch lustig, im Schnee zu schlittern“, sagte sie und schlitterte ein wenig mit ihren Füßchen auf dem weißen Grund. „Und es ist lustig, Schneeflocken zu fangen!“, sagte sie, öffnete den Schnabel und hatte – schwupps! – eine Schneeflocke geschnappt.
„Ich mag keinen Winter und ich mag keinen Schnee!“, brummelte Ernie.
„Na - dann nicht, nag nag!“, erwiderte Fiona, die zuhause angekommen war und sich nun von ihrem Freund verabschiedete.
Ernie, der noch ein kleines Stück bis zum heimatlichen Nest zu gehen hatte, erreichte kurz darauf Lehmanns Scheune. Etwas schien sich darin zu tun. In den vergangenen Tagen hatte Ernie Männer mit weißen Kitteln und Mützen gesehen, die große Eimer mit weißer Flüssigkeit in die Scheune trugen. „Ich will doch mal sehen, was die da drin machen!“, dachte der kleine Erpel und schlüpfte durch einen winzigen Spalt der großen Tür hinein.
In der Scheune war es viel wärmer als draußen, was Ernie gut gefiel. „Oh – hier riechts aber fein!“, bemerkte Ernie, „ein frischer und fremder Geruch!“ Er sah sich um in der der alten Scheune, in der Bauer Lehmann allerhand Gerät und Werkzeug lagerte. “Und so schön hell ist es hier drin geworden, die Wände sind nicht mehr so langweilig grau, wie sie es neulich waren, als ich mich hier beim Versteckspielen verkrochen habe!“
Von den Männern mit weißer Kleidung war nichts zu sehen. Aber Ernie fand einen der großen Eimer, die sie herein getragen hatten. Der stand an einer Wand neben einem Haufen Holzscheite. Wie auf einer Treppe hüpfte Ernie auf dem Holzhaufen empor und konnte von dort in den offenen Eimer hineinsehen. „Oh – ein kleiner Teich – toll!“, freute er sich. „Da will ich gleich mal eine wenig Schwimmen gehen!“, beschloss Ernie und sprang - plumps! - in den Eimer hinein, der bis zum Rand gefüllt war.
Ernie tauchte ein wenig, Ernie schwamm ein bisschen und war enttäuscht. „Es ist nicht so schön wie im großen Teich“, dachte er. „Dieses Wasser ist so dick und riecht so merkwürdig!“ Und Ernie kletterte aus dem Eimer heraus und sprang vom Eimerrand auf den Scheunenboden hinunter. „Hihi!“, kicherte er, als er an sich herab sah. „Ich bin ganz weiß geworden!“, wollte er sagen, doch aus seinem verklebten Schnabel kam nur ein „Hm hm hm!“, heraus. „Was ist das?“, dachte Ernie und wollte sich mit den Flügelchen die klebrige, weiße Flüssigkeit aus den Augen wischen. Dann stellte er fest: „Ich kann meine Flügel nicht mehr bewegen – sie sind wie angeklebt!“, und ihm wurde bange zumute.
Mittlerweile war Mutter Erpelgrün sehr beunruhigt – ihr Ernie war immer noch nicht aus dem Kükengarten nach Hause gekommen! Sie lief zu Federweichs und erfuhr dort von Fiona, dass die sich vor einiger Zeit von Ernie verabschiedet hatte. „Wo kann der Bursche nur stecken?“, fragte Mutter Erpelgrün und bat Fiona: „Würdest du mir beim Suchen helfen?“
„Aber gerne, nag nag!“, sagte Fiona, und die beide watschelten los und hielten Ausschau nach Ernie.
„Eeeeeeernieeeee!“, rief Mutter Erpelgrün immer wieder. „Woooo steeeeeckst duuuu?“
„Ernie, nag nag! Das ist nicht lustig, nag nag!“, schimpfte Fiona. Das hörte Ernie in der Scheune und lief hinaus. Da stand er im Schnee, von Kopf bis Fuß schneeweiß, mit verklebtem Schnabel, verklebten Flügeln und verklebten Augen.
Ernie konnte nicht sehen und nicht sprechen!“ „Hm hm hm!“, murmelte er, was heißen sollte: „Ich bin hier!“ Doch seine Mutter und Fiona, die beide ganz aufgeregt schnatterten, hörten das nicht, obwohl sie immer wieder dicht am nun unsichtbaren Ernie vorbei liefen. Ernie folgte den Rufen der beiden, watschelte blind und stumm durch den Schnee, lief dabei gegen Steinchen und Bäume und stieß sich dabei die Füße und den Kopf, was ihm jedesmal ein „Hm!“ entlockte, wenn er „Aua!“ sagen wollte.
Mutter Erpelgrün erhob sich mit einigen kräftigen Flügelschlägen in die Luft und setzte sich auf die Motorhaube eines alten, verrosteten Traktors. Von dort oben hielt sie nun Ausschau. „Eeeeeerniiiiieeee!“, rief sie und suchte die Gegend nach ihrem Sohn ab, sah aber nur Fiona Federweich. Die lief im Schnee herum, schnappte hin und wieder verspielt nach einer Schneeflocke und schnatterte: “Ernie – wenn du nicht sofort herauskommst aus deinem Versteck, spiele ich nie wieder mit dir, nag nag!“ Ernie, der immerzu „Hm hm hm!“ murmelnd hinter Fiona herlief, konnte Mama Erpelgrün nicht sehen.
Fiona war wütend auf Ernie! Sie blieb stehen und stampfte mit dem Füßchen in den Schnee! „Ernie – zum letzten Mal - komm jetzt raus, nag nag!“, rief sie böse. Da spürte sie plötzlich einen sanften Stoß am Bürzel! Erschrocken drehte Fiona sich um – da war niemand zu sehen! „Was ist das, nag nag, wer hat mich da gestoßen?“, wunderte sie sich.
„Hm hm hm, Hmhmhm!“, murmelte Ernie, was heißen sollte: „Ich bin das, Fiona!“ Fiona vernahm das leise Murmeln, dessen Ton ihr bekannt vorkam. Zentimeter für Zentimeter suchte sie den weißen Boden ab, bis sich ihre Augen an die Helligkeit des Schnees gewöhnt hatten. Und dann erkannte sie die Umrisse ihres weißen Freundes, der im Schnee lag! „Frau Erpelgrün – ich hab ihn gefunden!“, rief die kleine Entendame Ernies Mutter zu.
„Nichts als dummes Zeug macht dieser Bengel, wenn man ihn alleine lässt!“, schimpfte Ernies Mutter, „unsichtbar macht er sich!“, und: „Zur Strafe kriegst du heute keinen Nachtisch, Ernie – und jetzt werde ich dich erstmal gründlich waschen, damit du wieder sichtbar wirst!“ Dann packte sie ihren zappelnden und „Hm hm hm!“ wimmernden Sohn am Schlafittchen und trug ihn fort, begleitet von Fiona Federweich.
„Wo will Mama nur mit mir hin?“, überlegte Ernie, der im Schnabel seiner Mutter hing. Frau Erpelgrün ging zielstrebig auf den schnee- und eisbedeckten Teich schritt. Dort angekommen, ließ sie ihren Sohn in den Schnee fallen. Mit den Flügeln fegte sie ein Stück Eis frei vom Schnee. Und dann hackte Ernies Mutter mit dem Schnabel auf das dünne Eis ein. Nicht lange – und sie hatte ein beachtlich großes, kreisrundes Loch ins Eis geschlagen.
„Nanu - blubb!“, blubberte Karl Karpfen und steckte seinen moosbedeckten Schädel aus dem eisfreien Loch heraus. „Frau Erpelgrün - blubb! Fiona - blubb! Schön, dass ihr mich besucht, blubb!“, freute sich Karl, der ältester Bewohner und Bürgermeister des Teiches war.
„Eigentlich bin ich hier, um Ernie gründlich zu waschen, Herr Bürgermeister!“, sagte Mutter Erpelgrün.
„Ernie - blubb? Aber wo ist er denn? Ich sehe ihn nicht, blubb!“, sagte der Fisch und strengte sich an, den kleinen Erpel ausfindig zu machen.
„Hier ist er!“, sagte Mutter Erpelgrün, packte ihr Söhnchen wieder an den weißen, verklebten Nackenfedern, und ließ ihn – plumps! – in den Teich fallen, direkt vor Karl Karpfens Kopf!
„Hm hm hm!“, schimpfte Ernie und zappelte im Wasser, das ihm sehr kalt vorkam. Mutter Erpelgrün tauchte ihren Sohn mehrfach im Wasser unter und zupfte mit dem Schnabel an seinem weißen Gefieder herum.
Nach und nach löste sich die Farbe aus den Federn, und bald konnte Ernie wieder sehen, mit den Flügelchen schlagen und endlich auch wieder den Schnabel öffnen!
„Kalt! Es ist kalt! Das Wasser ist so kalt“, schnatterte er. „Dummes Zeug!“, sagte Mutter Erpelgrün und sprang nun auch ins Wasser.
„Dummes Zeug, Ernie, nag nag!“, pflichtete Fiona Ernies Mutter bei und sprang ebenfalls ins Wasser. „Unser Federkleid ist so dicht, dass wir die Kälte des Wasser gar nicht spüren!“, erklärte sie ihrem Freund und schwamm um ihn herum. „Stimmt …“, dachte Ernie, als er feststellte, dass Fiona recht hat, „es ist gar nicht kalt!“
Vergnügt schwammen die drei Enten im Eisloch immer um den alten Karl Karpfen herum, der sich über den lustigen Besuch freute. Und Ernies Mutter vergaß völlig, dass sie ihrem Sohn keinen Nachtisch geben wollte!