Ernie Erpelgrün trifft einen Buck
Ernie Erpelgrün trifft einen Buck
Frau Bürzelbreit, Ernies Kükengärtnerin, hatte Husten, und der Kükengarten fiel aus. So hatte Ernie einen ganzen Vormittag frei - am Nachmittag war er mit Fiona Federweich zum Schwimmen verabredet. „Es ist toll, frei zu haben!“, dachte Ernie, als er sich nach dem Frühstück von seiner Mutter verabschiedet hatte. „Eine Million Sachen kann ich heute Vormittag tun!“, freute er sich und watschelte über die große Wiese. „Ich könnte zum Beispiel …“, überlegte Ernie, während er den fleißigen Bienen zusah, wie sie Blütenstaub in den Blüten der Wiesenblumen sammelten. „ … andererseits wäre es vielleicht besser, ich würde erstmal …“, grübelte Ernie und winkte Hans Hopp zu, dem kleinen Hasen, der gerade von einem Löwenzahn naschte. „Nein - ich werde zunächst…“, beschloss Ernie und kratzte sich mit der Flügelspitze am Kopf.
„Es gibt eine Million Sachen, die ich tun könnte, und mir fällt nicht eine einzige davon ein!“, stöhnte Ernie und stellte dann fest: „Mir ist langweilig!“
Trotzig setzte der kleine Erpel sich auf die große Wiese und ärgerte sich. „Warum musste Frau Bürzelbreit auch unbedingt heute einen Husten bekommen? Warum nicht erst übermorgen? Da ist Samstag! Da ist sowieso kein Kükengarten!“, maulte Ernie vor sich hin.
Während der kleine Enterich da saß und schmollte, kam die Sonne hinter der großen Eiche hervor, die jenseits des Teiches stand. „Jeden Morgen, etwa zur gleichen Zeit, geht die Sonne hinter dem großen Baum auf, und jeden Abend, etwa zur gleichen Zeit, geht sie hinter Lehmanns Scheune unter!“, wusste Ernie. „Das ist schon toll!“, staunte er und genoss die wärmenden Strahlen der Sonne. „Überhaupt ist die Natur etwas ganz Tolles!“, erzählte Ernie sich selbst, um die Langeweile zu vertreiben. „Manchmal regnet es, und manchmal scheint die Sonne – und so ist immer genug warmes Wasser im Teich! Außerdem wachsen davon die Blumen, also das Frühstück für Hans Hopp und das Futter für die Bienen, hat Papa gesagt!“
Ernie freute sich, dass er so einen klugen Vater hat, der so viel über die Natur weiß. „Manchmal macht die Natur aber auch merkwürdige Sachen, sagt Papa!“ Hans Hopp hatte seine Mahlzeit beendet und war angehoppelt gekommen, um Ernie zuzuhören. Ernie freute sich, einen Zuhörer zu haben. „Manchmal“, fuhr er fort, „macht die Natur zum Beispiel ein Erdbeben! Dann tut sich ein großes Loch in der Erde auf, Häuser stürzen ein, Bäume fallen um und Entennester gehen kaputt!“ Hans Hopp stotterte vor Aufregung: Da-da-das ististist ja schrecklich!“ Ernie nickte bedeutungsvoll mit dem Kopf und schwieg.
Was war das? Da bewegte sich etwas unter Ernies kleinem Po!
Da – schon wieder! Es bewegte sich immer heftiger! Auf einmal blickte der kleine Erpel nicht mehr zu dem größeren Hasen auf – er blickte zu ihm herunter! Ein Berg wuchs aus der Wiese heraus, genau unter Ernie! „Bleib hier, Hans! Lauf nicht weg!“, rief Ernie noch, der wie gelähmt auf dem wachsenden Hügel saß! Doch Hans Hopp war so beängstigt von dem, was da geschah, und hoppelte davon, so schnell er konnte.
„Ein Erdbeben!“, dachte Ernie noch, „das ist ein Erdbeben!“ Dann öffnete sich die Spitze des Hügels und Ernie fiel in die Erde hinein.
„Aua!“, sagte er, als er mit dem Hinterteil auf feuchtem Grund landete. Es tat ihm nicht weh, er hatte sich nur erschrocken. Ernie schnupperte. Es roch eigenartig, aber nicht unangenehm. Und es war kühl. Hoch über sich, in unerreichbarer Höhe, sah er das Loch, durch das er gefallen war. Da schien die Sonne herein und sorgte wenigstens für etwas Licht in der Dunkelheit. Er konnte erkennen, dass es ein langes Loch war, eine Art Tunnel „So funktioniert also ein Erdbeben“, dachte Ernie. „Hoffentlich ist die große Eiche nicht umgefallen!“, wünschte er. „Und Lehmanns Scheune – hoffentlich ist die nicht eingestürzt, beim Erdbeben!“ Ernie dachte weiter nach, dann erst fiel ihm die größte denkbare Katastrophe ein: „Unser Nest! Hoffentlich ist unser Nest nicht kaputt! Wo sollten Papa und Mama und Bobby und Bibi und Trutzi und Lucy und Luggi und Mucki schlafen, wenn unser Nest kaputt ist?“, dachte er weiter, und dann: „Und ich? Wo soll ich schlafen, wenn unser Nest kaputt ist – falls ich jemals wieder hier herauskommen sollte?“
Ernie blickte an den steilen Wänden empor zu dem Loch, das er ohne Hilfe nie und nimmer erreichen konnte. „Ich bin alleine, tief drinnen in der Erde, verschluckt von einem gewaltigen Erdbeben …“, dachte Ernie und begann zu weinen.
Zunächst rollten nur einzelne Tränchen an seinem vor Angst zitternden Schnabel hinunter, doch dann weinte Ernie lauter und lauter. „Uääähuäckuäckuäck! Uääähuäckuäckuäck! Uäääck!“, weinte er, und ein kleinen Käfer flüchtete vor Ernies Gebrüll. „Uääähuäckuäckuäck! Uääähuäckuäckuäck! Uäääck!“, weinte Ernie weiter, und ein Regenwurm, der kurz den Kopf aus einer Wand gesteckt hatte um zu sehen, wer da solchen Lärm macht, verschwand wieder. „Uääähuäckuäckuäck! Uäääck!“, weinte Ernie und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Und während er so weinte und jammerte, sah er etwas aus der Dunkelheit des Tunnels auf sich zukommen!
Ernies Weinen ging in ein leises Schluchzen über. Das war ein Tier, wie er es bisher noch nie gesehen hatte! Es war mehr lang als hoch gewachsen und nicht viel größer als Ernie. Und es hatte keine Ohren - wie Ernie. Aber es hatte auch keine Augen in seinem dicken Kopf, der von schwarzem Fell dicht bewachsen war, wie der ganze Körper des fremden Tieres! Doch noch eigenartiger als die spitze rote Nase des Fremdlings waren dessen Vorderbeine: Das waren gigantische Schaufeln mit enorm langen Krallen daran! Zwischen der Nasenspitze des schwarzen Tieres und Ernies Schnabelspitze hätte kaum ein Löwenzahnstengel gepasst, so nahe waren sich die beiden nun.
„Guten Tag!“, sagte Ernie, der keine Angst vor dem fremden Tier spürte. „Ich heiße Ernie Erpelgrün, und es hat ein Erdbeben gegeben, und ich bin hier hereingefallen und ich weiß nicht, wie ich wieder herauskommen soll und ob unser Nest noch heile ist, und wie es meinen Eltern und meinen Geschwistern geht, und ob der große Baum und Lehmanns Scheune noch stehen!“, schnatterte Ernie ohne Luft zu holen, und spürte, dass er gleich wieder weinen würde. „Und wie heißt du?“, fragte er das Tier, das ihn augenlos anblickte. Und das Tier öffnete seine spitze Schnauze einen kleinen Spalt weit und sagte heiser: „Buck!“
Es war Fiona Federweich, die den großen Hügel mit dem Loch in der Spitze gefunden hatte. Sie war gerade bei Erpelgrüns Nest angekommen um Ernie zum Schwimmen abzuholen. Die gesamte Familie Erpelgrün war da, nur Ernie nicht. Und dann kam Hans Hopp angehoppelt und war noch aufgeregter als üblich! Er klopfte mit den Hinterbeinen auf die Erde und sprang in die Höhe und hoppelte im Kreis herum und wackelte mit den langen Ohren und stammelte: „Ernie … er … es ist … ein Berg … Wiese … Zack - weg!“ Papa Erpelgrün übersetzte das völlig richtig mit: „Es ist irgendwas mit Ernie, auf der großen Wiese! Wir müssen ihn suchen – los!“ Und sofort war die Entenschar schnatternd ausgeschwärmt.
Als Fiona zu dem braunen Erdhügel kam, von dem es einige auf der Wiese gab, glaubte sie, Ernies Stimme aus der Tiefe zu hören. Schnell watschelte sie auf den Gipfel des Hügels hinauf, blickte von dort durch ein Loch hinab in die Erde und sah ihren besten Freund, der sich munter mit einem eigenartigen Tier unterhielt! „Ernie, nag nag! Was machst du da unten, nag nag?“, rief Fiona verwundert durch das Loch.
„Fiona! Oh – du bist da! Das ist toll! Ich hatte schon Angst, hier nie wieder herauszukommen! Ich habs gerade meinem neuen Freund erzählt, dass ich gar nicht weiß, wie ich hier herauskommen soll! Und jetzt bist du da! Schnell – hol bitte Mama und Papa, damit sie mir helfen!“
Sofort holte Fiona Mama und Papa Erpelgrün und die ganze Geschwisterschar herbei. Papa Erpelgrün, der den längsten Hals der ganzen Familie hatte, steckte den Kopf durch das Loch und machte seinen Hals lang und länger, bis er seinen verlorenen Sohn an den Nackenfedern zu packen kriegte und ihn vorsichtig aus der Grube heraushob. „Tschüss, Buck - bis bald!“, rief Ernie seinem neuen Freund noch zu, und der antwortete: „Buck!“
Wieder zurück an der Erdoberfläche, sah Ernie, dass die große Eiche noch aufrecht stand - und auch Lehmanns Scheune war noch ganz! „Unser Nest, was ist mit unserm Nest?“, fragte Ernie sofort seine verwunderten Eltern! Die begriffen nicht. „Na – das Erdbeben! Es hat doch ein Erdbeben gegeben - und dabei bin ich in die Tiefe gestürzt und habe meinen neuen Freund getroffen, den Buck!“, berichtete Bernie ganz aufgeregt, und beschrieb dann, wie sein neuer Freund aussah.
Oh - wie lachten Mama und Papa Erpelgrün da! Fiona und Ernie und dessen Geschwister verstanden das nicht. „Was ist daran so lustig?“, fragte Ernie.
„Einen Buck hast du also unter der Erde getroffen, Ernie! Na, dann freu dich! Die sind in Ordnung, die Bucks!“, sagte Ernies Vater, wischte sich mit einer Flügelspitze die Lachtränen aus den Augen und legte den anderen Flügel versöhnlich um seinen kleinen Sohn, „Das konntest du nicht wissen, Söhnchen! Die Bucks können auch kleine Erdbeben auslösen, aber die sind völlig harmlos, dabei kommt niemand zu schaden!“ Und Fiona stellte fest: „Nur manchmal fällt dabei eine kleine Ente ins Loch und landet auf dem Po!“, und begann zu lachen. Und die ganze Entenschar stimmte ein und lachte und lachte! Und am lautesten lachte Ernie Erpelgrün!