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Ernüchterung
Entschuldigung, der Herr, dürfte ich mich mit an ihren Tisch setzen? Danke, sehr freundlich von Ihnen. Schönes Wetter, nicht wahr? Sind Sie nicht auch der Meinung, dass es nichts schöneres geben kann als einen herrlichen Sommertag auf der Terrasse einer Kneipe hier in Friedrichshain zu verbringen? Ach, sie sind nicht aus Berlin? Urlaub? Schön, da haben Sie eine gute Wahl getroffen, mein Herr. Es gibt keine interessantere Stadt als Berlin. Und Friedrichshain hat von allen Berlinern Bezirken den größten Charme. Das können Sie mir glauben.
Ah, sehen Sie. Das gehört auch zum Sommer. Ein turtelndes Pärchen läuft gerade an unserem Tisch vorbei. Schön, finden Sie nicht? Sie glauben, dass die beiden verliebt sind? Vorsicht, Vorsicht, mein Herr, nicht so eilig mit solchen Äußerungen. In „verlieben“ steckt das Wort „Liebe“. Und glauben Sie mir, die Liebe, die Liebe gibt es nicht. Sie ist ein Trugschluss, eine Erfindung, eine Farce. Ausgedacht von den Rilkes und Goethes dieser Welt, um unserem jämmerlichen Dasein einen Sinn einzuhauchen.
Sie schauen ungläubig, entsetzt möchte ich fast sagen. Das kann ich verstehen. Sie sind noch relativ jung. So Mitte 20, schätze ich. Habe ich Recht? Es ist nur normal, dass man in ihrem Alter noch an so etwas Fantastisches wie die Liebe glaubt, glauben will.
Sie denken, dass Sie zur Zeit jemanden lieben? Sie haben eine Freundin, sagen Sie. Schön. Aber sie lieben nicht, da können sie mir ruhig vertrauen. Jetzt werden Sie doch bitte nicht wütend, junger Mann. Ich will Sie keineswegs beleidigen. Ich erkläre es Ihnen ja. Wie lange sind Sie und Ihre Freundin schon zusammen? Drei Monate? Sie erlauben, mein Herr, dass ich ein wenig schmunzle. Ich erlaube mir zu behaupten, dass Sie nicht lieben, sondern begehren. Dies wird von vielen Leuten verwechselt. Der Unterschied? Nun, lassen Sie es mich so sagen. Die Liebe ist zunächst einmal etwas Dauerhaftes. Damit meine ich nicht einen Zeitrahmen von mehreren Jahren, wie Sie eventuell vermuten könnten. Nein, nicht weniger als die Ewigkeit meine ich damit. Oder zumindest solange die beiden Menschen auf dieser Erde leben. Was danach kommt, weiß selbst ich nicht, obgleich ich schon ein weises Alter erreicht habe. Sie meinen, ich sehe noch recht jung aus? Vielen Dank mein Herr, Sie schmeicheln mir.
Bleiben wir bei der Liebe. Für die Zeit der Ewigkeit fühlt die Seele des einen stets die Seele des anderen, denn wenn zwei Menschen sich lieben, sind die Seelen eins. Sie schauen schon wieder so ungläubig. Lassen Sie es mich auf einen einfachen Nenner bringen. Zwei Liebende würden füreinander sterben, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Jetzt kommen Sie ins grübeln. Habe ich Recht? Aber wenn Sie wirklich ehrlich zu sich selbst sind, dann kommen Sie zu dem Schluss, dass Sie niemals für jemanden sterben würden. Deshalb brauchen Sie sich nicht schlecht zu fühlen. Der Mensch ist nun einmal ein Egoist. Und aus diesem Grund existiert die Liebe nur in Gedichten. Leider.
Die Begierde, die Sie für ihre Freundin empfinden, ist ein kurzweiliges und triebhaftes Gefühl. Entschuldigen Sie, dass ich das so sage. Es gründet sich zum einen auf unseren sexuellen Trieb und zum anderen auf der Begeisterung für das Neue, die in jedem Menschen inne wohnt.
Ah, Sie fragen, was Menschen für eine lange Zeit zusammenhält, wenn es nicht Liebe ist. Eine gute Frage stellen Sie da. Ich möchte versuchen Sie ihnen mit einer Geschichte aus meinem Leben zu beantworten.
Doch warten Sie eine Minute, ich gehe kurz hinein, um mir ein Bier zu bestellen. Die Bedienung scheint ja heute gar nicht mehr zu kommen. Bei diesem schönen Wetter brauche ich einfach ein eiskaltes Bier. Für Sie noch etwas? Einen Schnaps wollen Sie? Alle Achtung! Ich bestelle Ihnen einen. Ich komme gleich wieder.
Hier bin ich auch schon wieder. Ging ganz fix.
Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, ist Folgende. Als ich in Ihrem Alter war, glaubte ich auch jemanden zu lieben. Sie studierte an der selben Universität wie ich Psychologie. Sie war für mich die 100%ige Frau. Nicht, dass sie unbedingt wunderschön war. Nein. Sie hatte einfach eine Wirkung auf mich, wie ich sie nie wieder spürte. Sie war eine sehr sinnliche Frau, ihr Blick und ihre Gestik waren pure Emotion. Sie verstehen? Auf den ersten Blick konnte man sie vielleicht für ein wenig unscheinbar halten, wenn sie zusammengekauert auf einer Bank auf dem Campus saß und in eins ihrer vielen Bücher vertieft war. Sie hatte immer so einen Pullover oder ein Baumwollhemd an, das viel zu lang zu sein schien. Jedenfalls hingen die Ärmel immer so schlaff herunter und nie konnte man ihre Hände sehen, höchstens die Fingerspitzen, die das Buch festhielten. Auch ihre Haare waren stets etwas zerzaust.
Ja, ja, gedulden Sie sich doch einen Moment, mein Herr. Die Geschichte ist schnell erzählt. Ich verliebte mich also in diese Frau oder zumindest glaubte ich das. Doch das Problem war, dass sie zu dieser Zeit einen Freund hatte, der ihr nicht ganz gleichgültig war, wenn Sie verstehen. Doch das war mir egal, denn für mich war sie die Frau meines Lebens. Ich versuchte alles um sie zu erobern. Ich war nicht aufdringlich. Nicht, dass Sie das denken, junger Mann. Zielbewusst und bestimmt war ich ab und an präsent und gab ihr zu verstehen, dass ich sie liebe und wenn ich sie besäße, würde ich sie nie mehr loslassen. Das war natürlich eine Lüge. Doch das wusste ich damals noch nicht. Im Gegenteil, ich war fest davon überzeugt, meine zweite Hälfte getroffen zu haben und jeden Liebesschwur den ich ihr gegenüber leistete, meinte ich in diesem Moment genau so.
Die Zeit verging, doch meine Angebetete erhörte mich nicht und blieb statt dessen bei ihrem Freund.
Sie meinen, dass ich also doch geliebt habe? Aber, nein. Denn bereits nach ein paar Monaten vergaß ich diese Frau und meine angebliche Liebe zu ihr kam mir mit den Tagen immer alberner vor. Wie kann ich also jemanden geliebt haben, wenn meine Liebe bereits nach einigen Monaten vergessen war? Ich bin kein Werther. Keiner von uns ist es.
Doch die Geschichte nahm noch einen unheilvolleren Verlauf. Nach ein paar Jahren kreuzten sich wieder unsere Wege. Und die Frau meiner vergangenen Träume, die sich mittlerweile von ihrem Freund getrennt hatte, verliebte sich in mich. Wir wurden ein Paar, ohne dass ich viel dafür tun musste. Anfangs waren wir auch sehr glücklich mit unserer Beziehung und ich glaubte erneut, ich sei verliebt. Doch das anfängliche Verlangen, die Begierde schlug nicht etwa um in Liebe. Sie wandelte sich einfach irgendwann in Vertrauen und gegenseitigen Respekt. Und dann war die Begierde tot. Die Routine kehrte ein. Ich musste sie verlassen.
Mmmmh, so ein kaltes Bier ist etwas feines. Sie schauen ein wenig ernüchtert drein. Sie haben keinen Grund dazu. Nur weil die Liebe nicht existiert, können Sie ja trotzdem ein schönes Leben führen. Genießen Sie die Beziehung zu ihrer Freundin, solange Sie noch das Verlangen und die Begierde spüren. Und wenn diese tot sind, ziehen Sie weiter.
Ob ich in einer Beziehung bin? Ja, in der Tat. Seit zehn Jahren bin ich nun schon verheiratet. Sehen Sie, irgendwann kommen Sie in ein Alter, in dem Sie das gegenseitige Vertrauen und die Gewohnheit der Begierde und dem Drang nach Veränderung vorziehen.
So, ich muss leider schon wieder los, meine Frau wartet zu Hause auf mich. Genießen Sie Ihr junges, abwechslungsreiches Leben mein Herr. Und suchen Sie nicht nach der großen Liebe. Sie werden Sie nicht finden, zumindest nicht auf dieser Welt. Sie existiert nur in Ihrer Fantasie.