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Erledigt
Die Wohnung von Kalle Gerschko ist klein, dunkel und nicht gerade einladend. Spärlich möbliert strahlen seine Räumlichkeiten eine bedrückende Atmosphäre aus, die nur noch von der Düsternis in Kalle`s Herz übertroffen wird. Kalle sitzt in der Küche, sein Gesicht auf beide Hände gestützt und denkt nach.
Er ist eindeutig des Lebens überdrüssig. Kalle hat eigentlich keinen speziellen Grund dafür, aber sein Dasein empfindet er als trist und leer. Kalle sieht keine Möglichkeit, etwas Farbe in seinen Alltag zu bringen – er tut sich schwer mit Gefühlen. Kalle kennt weder Fröhlichkeit, noch Traurigkeit. Andere Menschen gehen ihm schnell auf die Nerven, er bleibt lieber für sich.
Kalle Gerschko ist vierzig Jahre alt, geschieden, kinderlos und unsagbar gelangweilt. Also beschließt er, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Nun soll man aber nicht glauben, dass Kalle so gefühlskalt ist, dass er kein Pflichtbewusstsein kennt. Dieses ist bei ihm ziemlich ausgeprägt, also überlegt er, welche Variante des Selbstmordes er wählen soll, um niemanden im nach hinein auf den Wecker zu fallen. Das ist schwieriger, als Kalle glaubt. Kalle ist nicht egoistisch veranlagt.
Er würde sich am liebsten vor einen Zug werfen, aber Kalle kann den Gedanken nicht ertragen, dass die Bahnbediensteten die ganze Sauerei wegmachen müssen – Hochdruckreiniger hin oder her. Man merkt, Kalle hat eine ausgeprägte soziale Ader, was reichlich seltsam anmutet, bei einem Menschen, dem eigentlich alles egal ist.
Kalle öffnet den Kühlschrank, mustert den Inhalt und schließt die Tür wieder. Er hat keinen Hunger. Es kommt ihm so vor, als hätte er schon jahrelang keinen Hunger mehr. Wann hat ihm das letzte Mal eine Speise gut geschmeckt? Kalle erinnert sich nicht. Er setzt sich wieder an seinen Küchentisch und plant seinen Selbstmord.
Er ist froh, dass er nur entfernte Verwandte hat, denen es scheißegal ist, ob er lebt oder nicht. Sie kennen ihn kaum, das ist gut, wie Kalle findet.
In seinem Testament ist auch alles geregelt, was man so zu regeln hat, also muss er sich darüber keine weiteren Gedanken machen.
Kalle überlegt, ob er eine Buchhandlung aufsuchen soll, um sich über die verschiedenen Varianten des Selbstmordes zu informieren, aber er denkt sich, dass er die Angelegenheit auch ohne einschlägige Ratschläge auf die Reihe kriegen wird.
Er denkt darüber nach, ob er über die Feuerleiter auf`s Dach des Wohnhauses klettern soll um mit einem kühnen Sprung auf die Straße seine Freiheit zu erlangen. Es spricht zuviel dagegen. Erstens gäbe es wieder eine Sauerei, zweitens will er den Anblick seines zerschmetterten Körpers niemanden zumuten, schon gar nicht Kindern. Gegenüber dem Wohnhaus liegt eine Volksschule. Nicht auszudenken, dass wegen ihm die Schüler einen Schock für`s Leben bekommen.
Kalle wird leicht nervös. Er hat sich eigentlich bis heute Morgen keine Gedanken über seinen Abgang gemacht und jetzt stellt sich heraus, dass die Planung desselben einiges Fingerspitzengefühl erfordert.
Er geht zum Medizinschränkchen und beginnt mit der Inventur. Vor einiger Zeit hat ihm sein Hausarzt Valium verschrieben, weil Kalle unter Schlafstörungen leidet.
Er seufzt, sein Vorrat ist bis auf einen kaum nennenswerten Rest aufgebraucht.
Also schlurft Kalle zum Telefon und ruft seinen Hausarzt an - bedauerlicherweise läuft das Tonband. Der Arzt ist auf Urlaub und weist in dringenden Notfällen auf seine Vertretung hin, aber Kalle – der langsam sauer wird – wirft missmutig den Hörer auf die Gabel.
Er beschließt, sich einen Kaffee aufzubrühen und die Tageszeitung zu lesen, um sich zu beruhigen. Vielleicht fällt ihm ja nachher eine Lösung ein. So denkt Kalle.
Später überlegt er, wie es wohl wäre, wenn er sich in der Badewanne die Pulsadern aufschneiden würde. Das wäre zwar auch eine blutige Schweinerei, aber diese wäre auf eine Stelle konzentriert – und auf jeden Fall eine Überlegung wert. Dann fällt ihm ein, dass er gar keine Badewanne besitzt, wie in seiner alten Wohnung, sondern lediglich eine Duschkabine.
Kalle läutet nochmals frustriert bei seinem Hausarzt an und notiert sich die Adresse der Urlaubsvertretung. Er zieht seinen Mantel und seine Schuhe an, versperrt sorgfältig die Haustüre und macht sich auf den Weg.
Als er in Gedanken versunken die Straße überquert, nicht auf den Verkehr achtend, wird er von einem Lastwagen – der Obst und Gemüse transportiert – überfahren.
Kalle Gerschko war vierzig Jahre alt, geschieden, kinderlos und unsagbar gelangweilt.