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Erlebnisse eines Einkaufswagens

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19.06.2002
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Erlebnisse eines Einkaufswagens

Bruch - plautz! Das war ein Stoß. Mir zittern noch alle Stangen. Was für ein grober Kerl! Der junge Mann, der mich soeben in die Reihe zu meinen Kollegen geknallt hat, kettet mich ungeduldig an und zerrt seine Mark aus meinem Schlitz. Ich überlege schon, als Strafe die Mark zu behalten, unterlasse es dann aber aus Angst vor noch gröberer Behandlung. Wir Einkaufswagen haben kein leichtes Leben. Tagaus, tagein werden wir durch die Regalreihen gezerrt, gestoßen, gerammelt, getrieben, geschleift. Kein Wunder, dass manches Mal unsere Räder den Dienst verweigern und selbst die Richtung bestimmen wollen. Das macht die Menschen aber noch ungeduldiger. Kaum einer hat Zeit und Muße, behutsam mit uns umzugehen. So rolle ich nun tagein, tagaus durch den Supermarkt und mache mir so meine Gedanken.

Da ist die alte Frau, die es verschmäht, mich als Stütze, als Geh-Roller, zu benutzen und mich aufrecht vor sich her schiebt, obwohl es ihr sichtlich schwer fällt. Von ihr habe ich keine grobe Behandlung zu erwarten. Behutsam umfährt sie mit mir alle Klippen; sogar die Pyramide aus aufgetürmten Konservendosen, die unvermutet in einer Biegung auftaucht, meistert sie. Vorgestern hatte ein Student dort eine Katastrophe verursacht, indem er mich schlenkernd hinter sich herzog. Da blieb es nicht aus, das mein linkes Hinterrad unten einige Büchsen herausriss. Es war, wie in der „Olsenbande“, als Benny bei der Ausführung eines PLANS Egon auf dessen Wunsch hin eine Büchse reichte, die er unten aus der Pyramide genommen hatte. Das ganze KUNSTWERK stürzte scheppernd ein und rief in Bennys Fall die Polizei und im Fall des Studenten die entsetzten Mitarbeiter des Marktes auf den Plan. Während Benny die Suppe, die er sich EINGE-STÜRZT hatte, auslöffeln musste, kümmerte sich der Student nicht um das von ihm angerichtete Malheur und zerrte mich weiter bzw. wollte mich weiterzerren. Das ging aber nicht, weil sich eine Büchse unter meinem Bodengitter verklemmt hatte. Wütend klaubte der Student seine Einkäufe aus meinem Bauch und ließ mich stehen. Von meinem Platz aus konnte ich sehen, wie er an der Kasse nach dem Nennen des Gesamtpreises erst einmal seinen Rucksack abnahm und umständlich die Geldbörse suchte, wobei ihn die Kassiererin und die nach ihm Wartenden je nach Temperament zornig, resigniert oder gleichgültig beobachteten. Der freundliche Auffüller vom Tierregal machte mich wieder flott und brachte mich zu meinen Kameraden. Er schaffte es sogar noch, den Studenten abzupassen und ihm seine Mark wiederzugeben. Doch der bedankte sich nicht einmal.

Die Beobachtung an der Kasse richtet meine Gedanken auf diejenigen, die meinen, auf meine Dienste verzichten zu können. Das mag ja noch hingehen, wenn es sich um eine Palette Bier handelt, wenn aber jemand bis unters Kinn mit Kleinkram bepackt ist und den dann gemütlich in seinen Rucksack verstaut, während die anderen nicht nachrücken können und artistische Verrenkungen machen müssen, um an ihre Waren zu kommen, ist dies schon eine Zumutung. Dabei sind die Betreffenden häufig oft selbst ganz ungeduldig und können nicht einmal das Bellen des vor dem Markt angebunden Hundes ertragen, der nach seinem Frauchen ruft.
Nun werde ich doch noch als Geh-Hilfe, als Geh-Roller benutzt. Ein kräftiger Mann in mittleren Jahren hängt sich über meine Stange und erweckt den Eindruck, als ob ICH ihn durch den Markt schleife. Zum Glück geht der Weg nur bis zum Schnapsregal. Gut gefüllt schleppen wir uns dann zur Kasse. Potz Blitz und Wagengerassel! Bin ich froh, dass ich den so schnell wieder los wurde. Ich kam mir selber ganz schlapp vor.

Während ich auf meinen nächsten Wagenlenker warte, denke ich über die verschiedenen Hinterteile der Menschen nach, mit denen mein Vorderteil absichtlich oder unabsichtlich Bekanntschaft macht. Da ist der pubertierende Jüngling, der mit einem vorsichtigen, wie unabsichtlichen Stoß, die Elastizität des wohlgeformten Hintern der jungen Frau vor ihm testet; da ist der Ungeduldige, der dem langsamen, alten Mann vor ihm, hinten ’rein fährt und ich nur harte Knochen spüre; da stehe ich eingekeilt zwischen zwei dicken Klatschbasen und versinke fast im Fett und da habe ich den jungen Mann, der den rückwärtigen Anstoß als Anlass für ein Ge-spräch, nutzte. Ich blinzelte meinen Kollegen zu und tatsächlich: Beim nächsten Einkauf brauchten die Zwei nur noch einen Einkaufswagen - nämlich mich.

Richtige Charakterstudien kann ich im Zusammenhang mit dem Pfand für meine Benutzung machen. Nun hat das sowieso eine mehr symbolische Bedeutung im Verhältnis zu dem Wert, den ich repräsentiere, aber trotzdem lässt kaum jemand seine Mark oder sein rundes Plastteil, hochtrabend Chip genannt, im Stich. Der Sinn des Chips ist sowieso nicht einzusehen, außer, dass man ihn nicht aus Versehen ausgeben kann. Die Rückgabe der Wagen bei Knappheit hat sich aber kompliziert, denn der Nächste in der Warteschlange muss dann den Führer des leeren Wagens bei der Übergabe immer erst fragen: „Chip oder Mark?“ - und bei Bejahung des Ersteren gemeinsam zum Standplatz gehen, damit der Andere seinen Chip wiederbekommt. Ach, machen die Menschen das Leben kompliziert! Dann gibt es diejenigen, die vorsorglich in allen Jackentaschen eine Mark stecken haben und die anderen, die Groschen und Pfennige zusammensuchen und bei einem Zurückbringer eintauschen wollen. Doch da haben sie meistens kein Glück, denn sie bringen den Ordentlichen ihr System durcheinander, da diese dann keine Wagenmark für den nächsten Einkauf haben. Nun habe ich aber genug philosophiert und der Dienst muss weitergehen.

Eine nervöse Frau mittleren Alters kommt und sucht die Mulde zum Einlegen der Marke, die man dann einschiebt. Das ist aber das andere System. Na, endlich hat sie begriffen, dass ich das System mit Schlitz habe und kettet mich los. Doch schon naht das nächste Malheur. Nach ein paar Artikeln wirft sie in der Hektik den Nächsten in meinen Kollegen, der neben mir steht, und zieht mit dem los. Ich ahne schon, was kommt. Der ursprüngliche Besitzer des Kollegen ist mit meinem Inhalt nicht zufrieden, nachdem er ihn misstrauisch beäugt hat und fährt mich zur Rezeption. Nun werden wir ausgerufen: „Ein Einkaufswagen wurde vertauscht. Bitte bei der Rezeption melden.“ Nach einer Weile hatte ich meine nervöse Frau wieder. Diesmal war es ja nicht weiter schlimm; problematisch wird es aber, wenn Taschen mit Geld und Papieren an der vertauschten Wagen hängen. Nachdem ein freundlicher Herr meiner Nervösen geholfen hat, mich anzuketten, hatte ich wieder eine Verschnaufpause. Der Kollege neben mir ist ganz verrostet. Erst seit kurzem ist er wieder in unserer Gemeinschaft. Vorher hatte er in einem Park wochenlang im Freien gestanden, bevor ihn Gärtner fanden und zurückbrachten. Sein Münzenschlitz war ganz zerbeult, denn man hatte die Mark mit Gewalt aus seinen Zähnen gerissen.

Nanu, was geht denn jetzt los. Ein Karton wird in meinen Bauch gestellt, der offensichtlich die Einkäufe aufnehmen soll. Vorläufig sitzt ein junger Hund darin. Er ist so still, dass ihn viele für ein Stofftier halten. Auch gut, da gibt es wenigstens keinen Ärger. Für heute reichen mir die Aufregungen. Es ist ja auch bald Feierabend. Das war ein anstrengender Tag. Unter unserem Schutzdach klappern wir Einkaufswagen noch ein wenig miteinander und tauschen unsere Erlebnisse aus. Das wars dann. Gute Nacht!

Martin Eberhard Kamprad, Leipzig

[ 08.08.2002, 20:42: Beitrag editiert von: Eberhard_Kamprad ]

 

Hi!!!

Eine sehr orginelle Idee, alle Achtung!!! Der Titel macht schon Lust, dein Werk zu lesen. Und ses lässt sich wirklich gut lesen. Dein Schreibstil ist klasse und sprachliche Fehler hab ich keine gefunden.

Die Geschichte war unterhaltsam und interessant, doch als außergewöhnlich lustig hab ich sie nicht empfunden. Da hab ich schon weitaus komischere Sachen gelesen. Doch die Idee war wirklich gut.

Ciao

Kaschi

 

Grüß´ Dich,
Du kannst Dich wirklich gut in das Seelenleben eines Einkaufswagens versetzen!
Vielleicht könntest Du noch über die kleinen Einkaufswagen schreiben, die von den Kindern benutzt werden.
Werden die Nachts gezeugt, wenn ihr angekettet seid ??
Schöne Grüße, Hot Soul.

[ 19.06.2002, 19:17: Beitrag editiert von: Hot Soul ]

 

Mit der Einteilung in Kategorien ist das so eine Sache: Die Geschichte hätte auch in die Kategorien "Alltag", "Gesellschaft" oder gar "Philosophisches" gepasst.
Gruß - Eberhard

 

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