Erlösung
Ich muss das Messer abspülen, bevor ich die restlichen Zucchini damit schnipple, aber ich muss sie jetzt ja gar nicht mehr schnippeln. Dieser Gedanke war eine Endlosschleife. Der einzige, zu dem ihr Gehirn fähig war. Sie war glücklich darüber, dass sie das Gemüse nun nicht mehr in Würfel mit anderthalb Zentimetern Kantenlänge (und wehe, du weichst davon ab!) zerlegen musste. Natürlich war ihr klar, dass es Konsequenzen geben würde – es gab ja immer Konsequenzen, vor allem, wenn man von irgendwas abwich. Dann gab es schlimme Konsequenzen. So schlimme, dass man froh sein konnte, wenn man nur verprügelt wurde. Mit diesen Konsequenzen war nun Schluss. Es würde andere geben.
Die Sache mit den Konsequenzen hatte sie von Papa gelernt. Alles hat Konsequenzen, hatte er immer gesagt. Er hatte es selten so deutlich gesagt, weil er dazu meistens zu betrunken war. Gonsezenen, hatte er meistens gesagt. Aber es war ohnehin scheißegal, ob er es richtig aussprechen konnte oder nicht. Wichtig war nur die Wirkung. Die war im Allgemeinen sogar besser, wenn er betrunken war. Komisch, hatte sie das immer genannt – natürlich nur für sich, denn sie war die einzige, mit der sie reden konnte. Folglich kannte sie weder das Wort betrunken noch wusste sie irgendetwas darüber. Für sie war nur relevant, dass Papa irgendwann angefangen hatte, immer öfter wegzugehen und komisch zurückzukommen. Das war ziemlich bald, nachdem er seine Frau versehentlich mit dem Traktor überfahren hatte. Bis dahin war Papa nie komisch gewesen. Bis dahin hatte sein Gesicht im Grunde nur dann nicht fröhlich ausgesehen, wenn er geschlafen hatte. Aber danach, nachdem er in einem Moment der Unachtsamkeit Mamas Kopf auf einer der Heugabeln vorne am Traktor (die rechte in Fahrtrichtung betrachtet), mit denen er immer die großen Heuballen auf einen Anhänger geladen hatte, aufgespießt hatte und ihr Körper dann unter das rechte Vorderrad geraten und von ihrem Kopf getrennt worden war, danach ging Papa plötzlich öfter weg und kam komisch wieder zurück. Ein paar Mal hatten Polizisten geklingelt und nach Papa gefragt. Meistens konnte sie wahrheitsgemäß sagen, dass er nicht zu Hause sei, manchmal log sie die Polizisten auch an, weil es sonst Konsequenzen gegeben hätte.
Der Hof, auf dem sie lebten, war zu groß, um ihn klein zu nennen und umgekehrt irgendwie auch. Aber er lag weit draußen. Einödlage, nannte man das wohl. Das hatte sie mal gehört, als Papa mit jemanden am Telefon gesprochen und ein paar Minuten später den Hörer auf die Gabel geschmettert hatte. Er hatte dasselbe rote Gesicht, das er immer hatte, wenn Konsequenzen im Raum standen, nur ohne diesen komischen Blick. Manchmal gab es auch Konsequenzen, wenn man gar nichts getan hatte. Manchmal gab es Konsequenzen, wenn andere etwas getan hatten. Zum Beispiel einen Aufschub für die Rückzahlung von Krediten verweigern. Dann musste man meistens die Hose herunter lassen, damit Papa mit dem Gürtel die Konsequenzen ziehen konnte. Oder mit der Reitgerte. Oder dem Schürhaken. Oder was er sonst in die Finger bekommen konnte.
Anfangs hatte sie tief in sich drin die Hoffnung, dass die Sache mit den Konsequenzen eines schönen Tages vorbei sein könnte. Dass Papa nicht mehr komisch sein würde und dass Andere ruhig auch mal etwas falsch machen konnten, ohne dass sie die Hose herunter lassen musste.
Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Papa erweiterte das Arsenal an Konsequenzen beständig. Irgendwann, als plötzlich Blut in ihrer Unterhose war und sie dachte, sie müsse jetzt sterben – was vielleicht gar nicht so schlecht gewesen wäre – da hatte Papa wieder eine neue Konsequenz eingeführt – aber die war ganz anders als die anderen. Er brachte sie oft zum Einsatz. Sehr oft. Natürlich hatte sie bemerkt, dass dieses Blut regelmäßig kam, und als es einmal einfach nicht kommen wollte, da hatte Papa ihr so fest in den Bauch getreten, dass es dann doch kam. Danach aber kam es nie wieder.
Eines Tages lag Papa tot im Flur. Das war schrecklich, denn wer sollte nun die Konsequenzen ziehen? Das musste doch jemand machen. Es konnten doch nicht einfach keine Konsequenzen gezogen werden. So was geht doch nicht, wie Papa oft gesagt hatte. So was geht doch wirklich nicht.
Weil sie nicht wusste, was sie tun sollte – und wer hätte es ihr auch sagen sollen – ließ sie Papa dort liegen und machte, was Papa von ihr verlangt hatte. Sie molk die Kühe, fütterte die Schweine und Hühner und sorgte für frisches Wasser in den Tränken. Zum Essen nahm sie sich das, was die Schweine übrig ließen. Genau wie Papa es ihr gezeigt hatte. Sie lebte ihr Leben normal weiter.
Wenige Wochen später stand ein Mann vor der Tür. Er fragte nach Papa und sie sagte, er liege tot im Flur. Oh, wirklich, hatte der Mann gesagt und versucht, traurig auszusehen. Ob sich den jemand um sie kümmere.
»Wie meinen Sie das?«
»Na, ob jemand da ist, der dir zu essen macht und dich ins Bett bringt?«
»Ich.«
»Du?«
»Ich.«
Der Mann ließ die Augen herumfahren, wie man es tut, wenn man über etwas nachdenkt, dann sagte er, er käme bald wieder und ging.
Er kam tatsächlich bald wieder. »Ich kümmere mich um dich. Ich bin ein alter Freund deines Vaters, weißt du?«
Nein, wusste sie nicht. Sie hatte das Wort Freund noch nie gehört. Der Mann räumte Papa weg. Den Teppich, auf dem Papa gelegen hatte, vergrub er irgendwo auf dem Hofgelände. Was auch immer das sollte.
Dann lebten sie eine Zeitlang. Der Mann wollte viele Sachen anders haben, als Papa. Sie hatte Mühe, sich das alles zu merken und machte viele Fehler. Anfangs waren damit komischerweise keine Konsequenzen verbunden, aber als der Mann spitz gekriegt hatte, dass nie jemand vorbei kam, dass es da einfach niemanden gab, der für ihn Konsequenzen hätte ziehen können, da begann er damit, Konsequenzen für sie zu ziehen, wenn sie Fehler machte. Später zog er dann auch Konsequenzen, wenn ihm gerade danach war. Noch etwas später nutzte er genau wie Papa fast nur noch diese eine Konsequenz. Er hatte Freude daran, ihr immer wieder etwas anderes da unten reinzuschieben. Endlich war sie wieder glücklich. Endlich wurden wieder Konsequenzen gezogen.
Der Mann mochte Zucchini, baute sie aber nicht selbst an. Im Gegensatz zu Papa war er nicht helle genug, um zu erkennen, dass es vielleicht Konsequenzen haben könnte, wenn er sie zum Wochenmarkt in die Stadt schickte, statt selbst zu gehen.
Er wollte immer Zucchini-Würfel. Im Grunde war das natürlich völlig egal, wie die Dinger auf dem Teller aussahen, aber wenn man filigrane Aufgaben stellte, die das Gör nicht hinbekam, konnte man das Gör nach Belieben verprügeln und es hinterher in den Arsch rammeln – und das Gör fand das auch noch gut! Wie bekloppt muss man sein?
Sie ging also einmal die Woche zum Markt und kaufte Zucchini. Dabei beobachtete sie die Leute (und wurde natürlich ebenso beobachtet). Einmal fiel einer Frau etwas herunter, sagen wir ein Apfel. Und der Mann, der daneben stand – und jetzt Achtung! – der hob den Apfel auf, gab ihn ihr und sie lachten miteinander. Ein anderes Mal hatte eine Frau es nicht geschafft, den großen Schirm, der über die Gemüseauslage gespannt war, zusammenzuklappen. Und der Mann, der daneben stand, zeigte ihr, wie man das machte. Danach probierte sie es selbst und sie lachten miteinander. Sie lachten miteinander! Wo gab es denn so was?
Bei mir zu Hause nicht, dachte sie auf dem Heimweg oft. Bei mir zu Hause gibt es noch die guten alten Konsequenzen. Zucht und Disziplin, hatte Papa das genannt. Man kann ja schließlich nicht dauernd Fehler machen. Wenn man Fehler macht, dann passieren Schlimme Dinge. Man tötet zum Beispiel versehentlich seine Frau, mit der man seit drei Jahren verheiratet war, die man liebte, wie nichts sonst auf der Welt und mit der man sich gerade versuchte, eine Existenz aufzubauen, beflügelt und unbeugsam durch die Kraft der Liebe. Pläne für die Zukunft. Gemeinsam alt werden im Bewusstsein, den Menschen gefunden zu haben, mit dem an der Seite alt zu werden ein Privileg ist.
Also darf man keine Fehler machen. Und wenn doch, dann muss es Konsequenzen geben.
Oder?
Was war das denn jetzt? Eine kleine Stimme. Irgendwo in ihrem Kopf. Irgendwie lästig wie eine Stubenfliege. Sie verkündete, dass wirklich vielen Menschen auf diesem Markt Missgeschicke passieren. Einmal hat eine Frau die ganze Obstauslage umgestoßen. Die ganzen Äpfel waren kreuz und quer über den Marktplatz gekullert. Und was war passiert? Alle hatten geholfen, sie wieder einzusammeln! Alle hatten dabei gelacht! Keine Konsequenzen. So was geht doch nicht, sagte Papa.
Vielleicht ging es ja doch.
Der Mann wollte oft Zucchini haben. Natürlich fand er immer etwas, was nicht richtig war. Also musste es Konsequenzen geben. Bis sie es endlich gelernt und auch im Kopf behalten hatte. Die Schalen höchstens zwei Millimeter dick (was war ein Millimeter?) und die Würfel mit anderthalb Zentimeter Kantenlänge (was war ein Zentimeter und was war eine Kantenlänge?). Dann anbraten mit einem Löffel Öl bis sie leicht braun waren. Nur leicht braun. So und so viel Salz und Pfeffer, so und so lange braten. Sehr viele Fehlerquellen, sehr viele Konsequenzen. Aber brauchte es die wirklich? Erst letzte Woche war sie auf dem Weg zum Wochenmarkt an einem Unfall vorbeigekommen. Ein Mann und eine Frau diskutierten miteinander, aber Konsequenzen gab es keine. Was, wenn Papa und der Mann sich irrten? Dann müsste der Mann mir nicht ständig mit dem Stock auf die Fußsohlen schlagen und ich könnte vielleicht schmerzfrei gehen.
Sie schnitt Zucchiniwürfel, während sie das dachte. Durch das Fenster beobachtete sie den Mann, der im Hof Holz spaltete. Sie schnitt sich in den Finger. Es brannte leicht und ein wässriger Blutfaden bekleckerte die Zucchiniwürfel. Das würde natürlich Konsequenzen geben müssen. So was geht doch nicht. Sie wollte gerade das Fenster öffnen und hinausrufen, dass sie die Zucchini verdorben hätte. Aber als ihre Finger den Griff berührten, stockte sie. Wenn eine Frau eine ganze Ladung Äpfel über den Markt verstreuen kann, ohne dass es Konsequenzen gab, wenn die Leute sogar mit ihr darüber lachten, musste es dann wirklich für drei Tropfen Blut auf Zucchiniwürfel Konsequenzen geben? Man konnte sie doch einfach abwaschen? Man musste sich nicht wieder den Schürhaken oder die Schrotflinte da unten reinschieben lassen. Und überhaupt: der Mann bediente dauernd die Geräte falsch, ließ überall unnütz das Licht brennen (eine Todsünde, wie Papa befand) und kümmerte sich nicht gut um das Vieh (eine andere Todsünde). Wieso wurden bei ihm keine Konsequenzen gezogen?
Wieso nicht?
Der Mann legte die Axt beiseite, sah zum Fenster und kam in Richtung Haus marschiert. Sie senkte ihren Blick. Oh je, das Blut. Er darf es nicht…
Die Äpfel!
Der Unfall!
Keine Konsequenzen.
»Wann gibt es Essen, Fotze?«, sagte er. Er nannte sie immer so. Was auch immer das bedeuten mochte. Er kam an sie heran. Sie nahm seinen sauren Geruch nach altem Schweiß und Kuhscheiße wahr. Er drückte sich von hinten gegen sie und sah ihr über die Schulter.
»Was ist das?« Seine Stimme bebte vor Wut. »Ich soll dein Blut essen? Das Blut einer Fotzen-Schlampe wie du eine bist?« Er presste die Zähne aufeinander, so dass man ihn kaum verstehen konnte. Speichel spritzte von seinen Lippen.
Er schlug ihr mir der flachen Hand ins Gesicht. Dunkle Flecke tanzten vor ihren Augen. »Soll ich das wirklich essen?«, zischte er.
Die ganzen Äpfel. Und niemand hat Konsequenzen gezogen.
»Soll ich das wirklich essen, ja?«. Sein Gesicht war rot wie ein Stoppschild. Seine Hand formte sich zu seiner Faust, die er hoch über seinem Kopf schwenkte.
Sie rammte ihm das Messer in den Hals. »Uff«, machte er. Er riss die Augen auf, dass sie ihm fast aus den Höhlen traten. Seine Hand, die eben noch als drohende Faust über seinem Kopf kreiste, fuhr zu seinem Hals und hielt das Messer dort fest. In einer Art irren Panik schien er nachzudenken, ob er es herausziehen sollte oder nicht. Blut rann zwischen seinen Fingern hervor. Viel Blut. »Uff«, machte er schon wieder. Aber es blubberte irgendwie lustig. Er sank auf die Knie. Dann verdrehte er die Augen und schlug der Länge nach auf den Boden. Blut sickerte aus seinem Hals hervor.
Ich muss das Messer abspülen, bevor ich die restlichen Zucchini damit schnipple, aber ich muss sie jetzt ja gar nicht mehr schnippeln, dachte sie.