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Erlöschende Flammen
Die Nacht legte sich wie eine Decke über die Stadt, dämmte die Geräusche und nahm die Kälte. Das Haus stand am Hang und gewährte der Betrachterin vom Fenster aus eine gute Sicht. Es hatte zu schneien begonnen. Im Licht der Straßenlaterne, sah die Stadt aus wie in einer dieser kleinen Glaskugeln, in denen durch Schütteln ein Schwarm kleiner Flocken aufgewirbelt wurde. Ihr Blick versuchte sich an einer einzelnen Schneeflocke festzuklammern, versuchte ein Einzelschicksal bis zum Ende zu verfolgen. Doch es gelang stets nur für einen kurzen Moment. Es waren zu viele, die in hektischer Schweigsamkeit ihrer Erfüllung entgegen fielen. Ihr wurde das Paradoxe bewusst, dass gerade das unruhige Durcheinander tausender Schneeflocken ihr diese Ruhe vermittelte.
Sie wandte sich wieder dem Kamin zu und nahm ihren Platz in dem alten und massiven Ohrensessel ein. Neben sich das kleine runde Tischchen, das gerade genügend Platz bot, um die Lampe, ein Glas Glühwein und das Buch darauf abzulegen. Sie schaute in den Kamin.
Unruhiges Lodern. Wechselspiel der Farben zwischen rot und gelb. Untermalt von leisem Knistern, das nur von gelegentlichem, lauten Knacken durchbrochen wurde. Die Wärme passte sich dem Flammenspiel an und wogte im gleichen Rhythmus wie die Farben sich änderten. Ihr Blick entglitt in Regionen, die außerhalb des Sichtbaren lagen. Durch die Flammen hindurch blickte sie auf ihre Vergangenheit. Sie sah die tröstenden Hände der Mutter, als sie sich den Arm gebrochen hatte. Hörte ihre warme Stimme, wie sie der Tochter zum bestandenen Examen gratulierte. Noch einmal pulsierte die Ungeduld der Jugend durch ihren Körper. Ein weiteres Mal schloss sie ihrem gestorbenen Vater die Augen und stand weinend am Grab der Eltern. Wieder begegnete sie ihrem Mann, gebar ihr erstes Kind, dann ihr zweites. Sie durchlebte die Höhen und Tiefen der Schulzeit ihrer Kinder, lernte noch einmal die jungen Männer kennen, die ihr die Töchter wegnehmen würden. Sie half ihnen beim Umzug, der sie mit ihrem Mann allein im Haus ließ.
Die Flammen waren kleiner geworden. Sie stand auf und legte einige Scheite nach. Draußen hatten sich die Schneeflocken zu einem weißen Mantel zusammengefügt. Sie wandte sich vom Fenster ab. Es fiel ihr schwer, sich schmerzfrei zu bewegen. Der Körper war schneller gealtert als der Geist. Sie schenkte sich etwas Glühwein nach und setzte sich ächzend zurück in den Sessel. Der Raum war voller Bücher, die nur vom Flackern des Kamins beleuchtet wurden. Über dem Kamin zeigte ein altmodisches Bild ein Segelboot auf stürmischer See. Nur kurz blieb sie daran hängen. Es brauchte keine Konzentration, willig überließ sie sich der Magie der erneut auflodernden Flammen.
Sie hielt ihrem Mann die Hand, als er aufhörte gegen die Krankheit und den Tod anzukämpfen. Sie wurde das erste Mal Oma und hielt ihren ersten Enkel im Arm. Sie erlebte die letzten Weihnachten. Das Haus voller Leben, voller überschäumender Energie und Lachen. Sie hatten noch so viele Jahre vor sich. Sie roch den Geruch frischer Weihnachtsplätzchen, hörte das Kichern des Enkels, als er der Oma wieder eines stibitzt hatte. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. Das waren die Momente, die das Leben lebenswert gemacht hatten. So, wie die großen Augen der Enkel unter dem Weihnachtsbaum. Erwartungsvoll sahen sie die vielen Pakete, fieberten der Zuteilung entgegen, um sich weltentrückt dem Auspacken zu widmen. Das Lächeln verstärkte sich. Ihre Augen, auf das Feuer gerichtet, sahen keine Flammen. Sie war in der Vergangenheit, hatte ihre Liebsten um sich versammelt und dort blieb sie. Die stürmische See war überwunden. Das Feuer erlosch. Der Schneefall stoppte. Für kurze Zeit herrschte Dunkelheit, Stille und Kälte. Dann begann ein neuer Tag.