Erkenntnis am Meer
Julia stand an der Reling und beobachtete die Möwen. Die hellbraunen Locken wehten ihr ins Gesicht und um die Schultern und gaben ihr jenes Mädchenhafte Aussehen, dass ihren Vater dazu veranlasste, sie noch immer ‘Locke’ zu nennen. Es war ein Augusttag wie man ihn sich vorstellt und Julia fragte sich was die Menschen dazu bewog, sich bei einem solchen Wetter in den Innenraum der Fähre zu begeben. Der Himmel hatte die gleiche tiefblaue Färbung wie die Signalstreifen am Schornstein des Schiffes. Vereinzelte weiße Wölkchen bildeten einen wunderschönen Kontrast und ließen das Blau des Himmels noch intensiver wirken. Die Nachmittagssonne überzog die Oberfläche des Meeres mit einem silbrig glänzenden Schimmer. Julia lehnte sich leicht über die Reling und konnte so das Wasser sehen, das vom Bug des Schiffes mit kaum zu erahnender Kraft verdrängt wurde. Sie hatte Schiffe schon immer geliebt. Die Sonne wärmte ihren Rücken und der Wind machte die Hitze erträglich. Sie fühlte sich so gut wie lange nicht mehr. Die salzige Luft und das Meer gaben ihr das Gefühl von Freiheit zurück, dass sie fast schon nicht mehr kannte. Die Einsamkeit die sie fühlte inmitten unzähliger Familien und Paare so allein auf dem Schiff zu sein erschien ihr groteskerweise als angenehm. Eine Weile genoss sie all die Eindrücke noch schweigend bevor die Fähre sich langsam aber kraftvoll dem Anleger näherte. Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen? Sie dachte kurz an die unzähligen Male, die sie hier als Kind mit ihren Eltern verbracht hatte und fühlte etwas von der Geborgenheit von damals wieder in ihr aufkommen. Gut, dass sie sich für diesen Ort entschieden hatte. Die Erinnerungen an ihre Kindheit würden ihr dabei helfen sich selbst wiederzufinden.
Sie verließ das Schiff und betrat seit langer Zeit wieder den Grund und Boden einer Insel. Die Augen mit den Händen vor der Sonne abgeschirmt schlenderte sie am Anleger entlang und wartete, dass sich der Trubel der An- und Abreisenden ein wenig legte. Die Insel war schon zu ihrer Kindheit ein beliebtes Ferienziel gewesen. Familien, ältere Ehepaare sowie junge Paare und Alleinreisende wurden schon seit vielen Jahren vom individuellen Charme dieses Ortes angezogen und wer diesem einmal verfallen war, kam nicht mehr von ihm los. „Wie bei manch anderen Dingen im Leben auch“, dachte Julia und bemühte sich sofort um andere Gedanken - soweit so etwas möglich war. Sie hatte sich vorgenommen, bevor sie ihr Zimmer bezogen hatte nicht an ihn zu denken. Und auch nicht an Felix. Um nichts in der Welt wollte sie sich die Anreise hierher von den Gedanken an einen der beiden verderben lassen. „Julia?“ Sie fuhr herum - etwas verlegen über ihre Abwesenheit.
Vor ihr stand Rosa. Die gute alte Rosa, wie konnte sie nur glauben, dass sie sie nicht mehr erkennen würde? Rosa hatte ein bisschen zugenommen, aber ansonsten war sie noch immer ganz und gar Rosa. Ihr gutmütiges Gesicht hatte ein paar Fältchen mehr und ihr honigblondes Haar war leicht ergraut, allerdings trug sie es noch immer zum gleichen Knoten gebunden wie in Julia’s Kindheit. Sie hatte sich bei Rosa immer sehr wohl gefühlt. Allein war sie allerdings noch nie hier gewesen. „Mein Gott, die kleine Julia - ich kann es nicht glauben. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Du bist ja wunderschön geworden, aber das hab’ ich ja immer gewusst, ich hab’ immer zu Deinen Eltern gesagt dass ...“ „Rosa! Du machst mich ganz verlegen.“ Rosa schloss Julia in ihre Arme und drückte sie mütterlich an sich. „Ach Kind! Ich freue mich!“ „Ich freue mich auch,“ und in Gedanken fügte sie hinzu: „Ich habe mich seit einer Ewigkeit nicht mehr so gut gefühlt.“ Am liebsten hätte Julia sie nie mehr losgelassen, jedoch wollte sie bei Rosa in keinster Weise den Eindruck erwecken sie bedrücke etwas. Sie löste sich aus ihrer Umarmung und schnappte sich ihre Tasche. „Komm, wir fahren heim.“ Auf der 10 km langen Fahrt vom Hafen zur Pension erzählte Rosa von den Veränderungen, die in den letzten Jahren auf der Insel stattgefunden hatten. Zu Julia’s Erstaunen waren es nicht sehr viele. Rosa’s viele Fragen bezüglich ihres Lebens beantwortete Julia wahrheitsgemäß und der Reihe nach.
Sie erzählte von ihren Eltern, von der Arbeit ihres Vaters als Arzt in Indien, von der knapp bemessenen Zeit die sie zusammen hatten, der Angst um ihn, was das Leben und die Arbeit in diesem Land anging und auch vom Leben mit ihrer Mutter, die als Schriftstellerin ähnlich wenig Zeit hatte und schließlich von ihrem eigenen, mittlerweile sehr selbständigen Leben, der Wohnung, die sie sich seit zwei Jahren mit ihrem Freund Felix teilte und sie erzählte darüber, dass sie und Felix seit jetzt fast 5 Jahren zusammen waren und sie mit ihrem Leben und ihrem Studium der Psychologie sehr zufrieden war. Rosa fuhr den Jeep die Einfahrt zur Pension hinauf und lächelte. Sie war allem Anschein nach mit dem, was Julia ihr erzählte zufrieden. „Hier hat sich ja nichts verändert, Rosa!“ Rosa schaute sie nachdenklich an. „Tja, manchmal denke ich allerdings, dass es das sollte. Etwas mit der Zeit gehen und so,“ antwortete Rosa in Gedanken versunken. Julia sah sich genau um. Sie blickte vom Eingang des Hauses mit der blauen Eingangstür zum Garten, der in den verschiedensten Farben leuchtete. Trotz der Hitze war nichts vertrocknet. Rosa war wirklich eine Künstlerin was das anging. „Nein, Rosa - du darfst nichts verändern! Das hier ist alles so wunderschön und vollkommen, hier fehlt nichts und alles was es gibt ist genau so wie es sein muss. Dein Garten ist noch immer der schönste, den die ich je gesehen habe.“ Rosa konnte ein stolzes Lächeln nicht verbergen. „Ach Kind - das hast du schon mit drei Jahren zu mir gesagt.“ Julia ging auf den Hauseingang zu. „ Ich hab es eben als erste erkannt.“ Sie gingen lachend ins Haus. Magst du noch immer so gerne kalten Kakao?“ Julia blickte sich aufmerksam um. „Und wie,“ sagte sie und nahm Rosa kaum noch war, als diese anfing über Julia’s Gewohnheiten als Kind zu erzählen. Viel zu stark machte sich jetzt das Gefühl der Erinnerung in ihr breit. Sie konnte fast die Stimmen ihrer Eltern hören. Sie brannte darauf ihr Zimmer zu sehen. „Geh’ ruhig schon mal hoch“ sagte Rosa als könne sie ihre Gedanken lesen. „Ich mache schon mal den Kakao fertig.“ Julia überlegte nicht lang, nahm ihre Tasche und stieg die Stufen zum 1. Stock empor. Sie öffnete die Tür zu ihrem ehemaligen Zimmer, als wäre sie erst vor ein paar Monaten zum letzten Mal hier gewesen und nicht als wäre dieser Tag jetzt fast fünfzehn Jahre her. Sie betrat das Zimmer und wunderte sich selbst über die enorme Vertrautheit, die sie sofort überkam. Sie schloss die Tür hinter sich. Nichts hatte sich verändert. An dem gemütlichen Dachfenster hingen noch die hübschen gelb-weiß karierten Gardinen. Das Bauernbett mit der Bettwäsche aus dem gleichen Stoff stand noch immer an der selben
Stelle inmitten des Raumes mit dem Kopfende unter der Dachschräge. Gelbe Rosen standen auf dem Tischchen gegenüber des Bettes und aus dem Badezimmer, das direkt vom Zimmer aus betreten werden konnte, duftete es tatsächlich noch nach der gleichen Seife, wie sie schon zu Julia’s Kindheit dort gelegen hatte. „Der Kakao ist fertig!“ Rosa’s Stimme riss Julia abrupt aus ihren Gedanken. Sie warf noch einen letzten Blick auf ihr Zimmer, bevor sie es wieder verließ. Julia verbrachte einen wundervollen Abend mit Rosa, Kakao und Unmengen an alten Fotos und Erinnerungen. Sie redeten bis spät in die Nacht und als Julia erschöpft in ihr Bett fiel, dachte sie weder an Felix noch an ihn. Sie würde sich morgen melden. Julia schlief tief und traumlos und erwachte, als die Morgensonne ihr wärmend ins Gesicht schien. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie wusste wo sie war und drehte sich dann zufrieden noch mal um. Sie konnte nicht mehr schlafen. Sie musste an ihn denken und merkte, dass sie vor ihren Problemen nicht davonlaufen konnte. Sie rief bei Felix an und erzählte von der Überfahrt und dem Wiedersehen mit Rosa und schließlich sagte sie ihm noch, dass sie sich freue ihn in zwei Wochen wiederzusehen und dass sie ihn vermisse. Sie legte auf und hatte den Eindruck Felix zufriedengestellt zu haben. Aber war er es wirklich? Oder spielte er nur, so wie sie selbst? Hatte sie gelogen? Vermisste sie ihn? Wenn ja, warum merkte sie es dann nicht? Sie wollte ja, sie wollte es so sehr, oder dachte sie nur dass sie es wollte? Da war ja immer noch Eric. Der wunderbare Eric. Er war der umwerfenste Mann, den sie je kennengelernt hatte. Im Gegensatz zu Felix war Eric ein Denker und Philosoph. Man konnte stundenlang mit ihm über die unglaublichsten Dinge reden und musste ständig über das, was er sagte, nachdenken. Eric war schwierig, eine Herausforderung und während sie ihn näher kennenlernte erkannte Julia, dass er tiefer für sie empfand. Er hatte es ihr nie gesagt, aber sie hatte es irgendwie gespürt. Sie fühlte sich mehr zu ihm hingezogen als zu irgendjemandem sonst und dieses Gefühl ließ nicht nach. Die Gedanken an ihn bestimmten ihren Tag und beeinflussten ihr Leben mit Felix. Bislang war ihr Leben einfach und verhältnismäßig unkompliziert, Felix war unkompliziert. Sie waren aufeinander abgestimmt. Felix war wunderbar, ohne Zweifel, aber war er der Mann für ihr Leben? Er war berechenbar und leicht zufriedenzustellen. Er war Realist und Julia eine Träumerin. Sagte man nicht immer Gegensätze ziehen sich an? Sie wusste es nicht. Julia hatte das Gefühl, dass sie zusammen mit Eric eine Welt erleben würde, die ihr mit jemandem wie Felix immer verschlossen bleiben würde. Sie verdrängte diese Gedanken, wie schon so oft, stieg unter die Dusche, schlüpfte in ihre abgeschnittenen Jeans und zog ein luftiges, weißes T-Shirt an und ging hinunter um mit Rosa zu frühstücken. Anstelle von Rosa fand sie allerdings nur den Haustürschlüssel und einen Gruß auf einem Zettel:
Wollte Dich nicht wecken,
bin für ein paar Stunden in der Stadt.
Die Schlüssel sind für Dich.
Mach Dir einen schönen Tag!
Alles liebe Rosa.
Ach - und noch etwas: Das, was Du siehst, wenn Du die Augen geschlossen hast, ist das was Du wirklich fühlst.
„Hm, Rosa und ihre klugen Sprüche,“ dachte Julia amüsiert und machte sich einen Kakao und aß dazu ein Brot mit Honig, nahm sich dann den Schlüssel und machte sich auf den Weg zum Strand.
Sie fand den Weg durch die Dünen zum Strand sofort. Die Sonne stand mittlerweile sehr hoch aber durch den Wind spürte Julia die Hitze nicht so stark. Das Meer lag türkiesblau vor ihr, Möwen kreisten am wolkenlosen Himmel und ihr Geschrei und das Tosen der Wellen waren die einzigen Geräusche die zu hören waren. Julia blickte von der Düne hinab auf den menschenleeren Strand. Der Sand war so hell, dass sie blinzeln
musste um etwas sehen zu können. Sie stand einfach so da, nahm all dies so intensiv wie möglich in sich auf, als wäre es ihre letzte Chance dazu. Sie ließ den Wind mit ihrem Haar spielen, lauschte dem Geschrei der Möwen und dem Rauschen der Wellen. Sie hatte das Gefühl wieder zehn Jahre alt zu sein und mit der unschuldigen, reinen Auffassungsgabe eines Kindes all dies zu erleben. Sie schloss die Augen.
Die Sonne war so kräftig, dass sie fast noch mit geschlossenen Augen blinzeln musste. Julia dachte ausnahmsweise an nichts, ihr Kopf war leer sie versuchte nur so intensiv wie möglich zu fühlen, all dies hier zu fühlen. Plötzlich war es da. Es war ganz klar und deutlich vor ihrem geistigen Auge zu sehen. Sie öffnete die Augen. Nichts hatte sich verändert, aber inmitten dieser natürlichen Schönheit dieses unberührten Stücks Erde war ihr plötzlich klar geworden was sie wollte.
Julia lief zurück zum Haus. Sie konnte nicht schnell genug voran kommen. Dort angekommen schloss sie die Haustür auf, bemerkte beiläufig, dass Rosa zurückgekommen war, sie stand in der Küche und wusch Salat, und rannte dann ohne ein Wort die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und schloss hinter sich die Tür. Sie atmete tief durch bevor sie sich auf ihr Bett setzte und zum Telefonhörer griff. Sie wählte und nach zwei Freizeichen hörte sie Eric’s Stimme.
„Hallo?“ Julia zögerte einen Moment bevor sie sprach. „Ich bin es,“ sagte sie ohne einen Zweifel daran zu haben, dass er sofort wusste wer dran war.
„Oh“, seine Stimme klang überrascht. „Ich dachte, du bist auf deiner einsamen Insel.“
Julia’s Herz begann wie wild zu schlagen. „Bin ich auch. Ich... wollte dir nur sagen, dass ich gut angekommen bin.“ Eric’s Tonfall nahm einen belustigten Unterton an. „Das hab ich mir gedacht, aber danke - sehr nett von dir.“ Julia bemerkte zum ersten Mal, dass sie gar nicht genau über seine Gefühle Bescheid wusste. Was, wenn sie sich seine Zuneigung die ganze Zeit nur eingebildet hatte? Ihre Gedanken ignorierend sagte sie:
„Du fehlst mir.“ Sie bemerkte, wie er stockte. „Das ist ja schön, aber meinst du nicht, dass du das besser Felix sagen solltest?“ Jetzt wusste Julia genau, dass das, was sie sagen wollte richtig war. „Nein, nicht wenn ich Felix nicht belügen will.“ Er sagte nichts mehr. Dann: „Was soll mir das sagen, Julia?“ Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Das soll dir sagen, dass ...“, sie rang nach Worten, „das soll sagen, dass ich dich liebe.“ In der Leitung blieb es still.
„Warum sagst du nichts?“ Julia presste den Hörer fester an ihr Ohr, so als müsste sie sich anstrengen, um das, was er jetzt sagen würde zu verstehen. Tatsächlich antwortete er sehr leise und sehr langsam: „Wann kommst du zurück?“
„Bald,“ sagte sie und legte den Telefonhörer ganz vorsichtig auf die Gabel, als ob er plötzlich aus Glas und ganz zerbrechlich geworden wäre. Sie stieg die Treppe hinab und ging zu Rosa.
„Du willst abreisen, nicht wahr, Kind?“ Julia stockte. „Ich muss mit meinem Freund reden. Aber woher weißt du ...?“ Rosa kam auf Julia zu, nahm sie liebevoll in die Arme und sagte: „ Julia, es gibt nicht immer auf alles eine Antwort.“
Julia stand an der Reling und beobachtete die Möwen. Sie dachte an Felix und daran, was sie ihm zu sagen hatte und während sie so dastand fand ihre Hand in ihrer Hosentasche den zerknüllten Zettel mit der Nachricht von Rosa. Sie faltete ihn sorgfältig auseinander und las den letzten Satz: Das, was Du siehst, wenn Du die Augen geschlossen hast, ist das, was Du wirklich fühlst.
Vorsichtig steckte Julia den Zettel wieder zurück in ihre Hosentasche. Sie schloss die Augen und versuchte diesmal nicht zu verdrängen was sie sah.
Der Wind fegte ein paar vereinzelte Wolken über den strahlend blauen Himmel, die Möwen zogen kreischend ihre Bahnen und die Luft schmeckte wunderbar salzig. Julia ließ die Augen noch eine ganze Weile geschlossen und genoss das unbeschreibliche Gefühl von Freiheit, das sie überkam.