Erkenne, wer du bist
Es hat alles keinen Sinn mehr, der Tod ist der einzige Ausweg... Nebeneinander sitzen sie auf dem Sofa, sehen sich zum letzten Mal in die Augen, er küsst sie noch mal zum Abschied auf die Lippen... Ihr ist klar, was jetzt kommt, aber sie hat keine Angst mehr. Sie sieht, wie ihr Liebster mit zitternder Hand die Pistole nimmt, und beißt auf die Kapsel, die ihrem Leben ein Ende setzen wird... Sie wird müde, hört noch wie aus weiter Ferne einen Schuss... Danach ist alles still.
„Mensch Alexa! Kriegst du zu Hause nicht genug Schlaf oder was ist das Problem?“
Genervt verdreht Alexa die Augen. „Mia, ich hatte gerade wieder einen dieser Träume, musst du mich denn immer wecken? Lass mich ein einziges Mal durchschlafen, vielleicht komme ich dann dahinter, was es zu bedeuten hat!“
„Okay, du brauchst mir ja nicht gleich den Kopf abzureißen, ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, dass wir in Wien angekommen sind und alle nur noch auf uns warten.“
***
Die kleine Gruppe von Jugendlichen steht im Foyer des Hotels. Alle warten darauf, dass die Zimmerschlüssel verteilt werden. Da fängt der Reiseleiter an, die Namen aufzurufen. „Sandra Meier und Anita Koch - Zimmer dreihundertzwölf, Maria Stracevic und Alexandra Blume, ihr habt Zimmernummer fünfhundertfünfundvierzig.“
"Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen!" hört Alexa eine Stimme in ihren Gedanken schreien und zuckt zusammen. Stirnrunzelnd nimmt sie den Schlüssel und geht langsam zurück zu Mia.
„Was ist denn jetzt mit dir los?“ fragt Mia „Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
„Ach nichts, lass uns aufs Zimmer gehen.“ knurrt Alexa.
***
Ächzend lässt Alexa ihre Tasche aufs Bett fallen. „So ein Mist aber auch, dass der Fahrstuhl kaputt ist, ich kann mir echt was besseres vorstellen, als mit diesem blöden Teil die ganzen Treppen hochzulatschen!“
„Du armes 'Tuk-Tuk'!“ lacht Mia „Warum schleppst du auch deinen ganzen Kleiderschrank mit?“
„Schließ nicht von dir auf andere, da sind echt nur wenige Klamotten drin!“
„Und was verschweigst du mir?“ fragt Mia verschmitzt. Inzwischen hat Alexa ihre Tasche geöffnet und Mia schaut neugierig rein. „Ach, du Scheiße, was sind denn das für dicke Bücher? Kein Wunder, dass du dir fast den Rücken brichst! Traumsymbole... versuchst du etwa so, deine Träume zu verstehen?“
„Ja, was soll ich denn sonst machen?“ fragt Alexa.
„Es wäre gar nicht mal so schlecht, wenn du ein Traumtagebuch führen würdest. Gleich nach dem Aufwachen notierst du, was dir einfällt aus deinem Traum, vielleicht kannst du dann etwas erkennen.“
„Mia, du bist mein rettender Engel! Warum bin ich nicht von alleine draufgekommen?“
„Tja, manchmal muss man dir schon einen kleinen Schubs geben... und schau mal, was ich hier für dich habe!“ Mia holt ein Buch aus ihrer Tasche, was wie ein Poesiealbum aussieht, und reicht es Alexa, die ihr dankbar um den Hals fällt.
„Och, Mia! Was würde ich nur ohne dich machen?“
„Klarer Fall: in der Irrenanstalt landen!“ kichert Mia und scherzt „Hier schreibst du also bald die dunkle Seite deines Lebens rein...“
„Sag mal, Mia...“
„Was denn?“
„Sollten wir nicht besser eine Runde pennen, bevor es in drei Stunden losgeht? Ich bin echt kaputt.“
„Komisch, dabei hast du doch die halbe Busfahrt verschlafen! Also gut, ich gehe aber erstmal unter die Dusche. Träum was schönes!“
„Damit ich gleich mal testen kann, ob das wirkt, was? Na dann - gute Nacht!“
***
Sie liest den getippten Brief und atmet auf. "Mein liebes Tschapperl, es geht mir gut, mach Dir keine Sorgen, vielleicht ein bisschen müde. Ich hoffe, bald heimzukommen und mich dann in Deinen Armen ausruhen zu können. Ich habe ein großes Bedürfnis nach Ruhe, aber meine Pflicht gegen das deutsche Volk geht über alles andere. Vergiß nicht, daß meine Gefahren nicht mit denen unserer Soldaten an der Front verglichen werden können...
Als erstes greift Alexa nach dem Traumtagebuch, als sie aufwacht, und fragt dann erst Mia, die gerade aus der Dusche kommt: „Habe ich lange geschlafen?“
“Ach, no problem. Hast noch gute zehn Minuten Zeit alles dem Buch und mir anzuvertrauen!“ Nach kurzem Zögern fragt Mia: „Hast du denn überhaupt wieder geträumt? Du bist so ruhig...“
„Lass mich erstmal aufschreiben, woran ich mich erinnere, bevor ich es wieder vergesse!“ Alexa klappt das Buch auf und schreibt auf die erste Seite: „03.07.1998: Krieg, ein Attentat. Brief bekommen. Keine Sorgen, es geht ihm gut. Pflicht geht über alles. Etwas mit 'Soldaten' und 'Front' stand drin.“
Stirnrunzelnd liest sie ihren Eintrag nochmal und sagt zu Mia, die sich in einem der Bücher über Traumanalyse vertieft hat: „Also, für mich ergibt das keinen Sinn!“
„Was denn, darf ich lesen?“ erkundigt sich Mia neugierig.
„Hier, ich gebe dir einen aus, wenn du daraus schlau wirst!“ Alexa gibt ihr das Tagebuch „Du als meine beste Freundin darfst es natürlich lesen, aber was da reinkommt, bleibt unter uns.“
„Das ist doch selbstverständlich!“ Angespannt liest Mia den kurzen Eintrag und ihr bleibt die Spucke weg. „Ist ja echt der Hammer! Hast du einen Kriegsfilm gesehen oder was liest du zur Zeit?“
„Kriegsfilm? Bleib mir bloß damit weg, sowas gucke ich mir doch nicht an! Was ich lese... Zuletzt war es glaube ich "Romeo und Julia auf dem Dorfe", kennst du doch.“
„Oh Gott, das packst du noch an, nachdem wir das schon in der Schule durchgekaut haben? Streberin!“
„Ach komm, hör schon auf... Die Geschichte war doch nicht schlecht oder? So traurig, wie sie zusammen gestorben sind...“ Alexa blinzelt schnell die aufsteigenden Tränen weg.
„Hey, übertreib mal nicht! Ist doch kein Grund die Bude unter Wasser zu setzen. Mich persönlich hat ja mehr der süße Referendar interessiert, aber...“ Alexa unterbricht sie mitten im Satz: „Du hast gut reden!“ und weint nun wirklich fast. Verschwommene Erinnerungsfetzen kommen ihr hoch. Alles ist so aussichtslos... Der Tod ist die einzige Lösung... Da bricht der Gedanke ab und im nächsten Moment weiß Alexa nicht mehr, warum sie eigentlich so traurig geworden ist. „Mia, du hast ja Recht... Warum ticke ich nur dauernd aus?“
„Na, weil du so sensibel bist und dir alles viel zu sehr zu Herzen nimmst! Und zu dem Traum kann ich dir eins sagen: ich blicke auch nicht mehr durch, was das mit dem Krieg auf sich hat. Du hast nie einen miterlebt und meidest Nachrichten und Kriegsfilme wie ein Vampir das Licht, träumst aber so einen Unsinn. Das ergibt keinen Sinn...“
„Tja, mal gucken, wie sich das mit dem Tagebuch entwickelt, vielleicht gibt es ja irgendwann einen Hinweis darauf, was es bedeutet.“
Erschrocken schaut Mia auf die Uhr und sagt: „Also, wenn wir nicht auf der Stelle unsere lahmen Hintern nach unten bewegen, fahren die anderen ohne uns!“
„Das wollen wir doch nicht riskieren, ich wollte schon immer mal Wien wiedersehen.“
Mia stuzt. „Wiedersehen? Du warst doch noch nie in Österreich, soweit ich weiß?“
„Was habe ich gesagt, wiedersehen? Muss ein Versprecher gewesen sein.“
***
Total geschafft stehen Alexa und Mia etwas abseits von der Gruppe auf dem Heldenplatz in der Wiener Innenstadt und hören nur noch mit wenig Interesse dem Reiseleiter zu. „Puh, was für eine Hitze“ stöhnt Mia „Wirklich schlechtes Timing, uns jetzt durch die halbe Stadt zu führen.“ Geistesabwesend nickt Alexa und sieht sich fröstelnd um. Dieses große Gebäude, der hohe Balkon... alles kommt ihr auf unheimliche Weise bekannt vor und doch wieder fremd. Soviel scheint sich verändert zu haben, aber sie weiß, dass sie noch nie an diesem Ort war. Unheimlich... das Gefühl, schon mal hier gewesen zu sein, lässt sich nicht abschütteln. Sie blickt zum Balkon rauf und... sieht da oben eine Gestalt stehen. Der Mann streckt den rechten Arm in die Höhe und blickt auf die Menschen unten. Alexa blinzelt verwirrt, stupst Mia an und fragt: „Was ist das für ein schräger Typ, der da oben steht?“
Mia schaut nach oben und sagt: „Welcher Typ denn? Ich sehe dort niemanden.“
„Ja bist du denn blind? Der Mann mit dem komischen Schnurrbart, der mit hochgestrecktem Arm auf dem Balkon steht.“ Kopfschüttelnd sagt Mia:
„Welcher Mann? Da ist keiner... sag mal, kann es sein, dass du zuviel Sonne abbekommen hast?“
Während Alexa noch nach oben sieht - wer ist das nur, sie kennt ihn doch irgendwoher? - verblasst die "Erscheinung", wird durchsichtig und ist weg, als wäre nichts gewesen. Erschrocken krallt sie Mia ihre Nägel so fest in den Unterarm, dass diese leise aufschreit. „Aua, was soll das?“
„D-das war ein G-geist...“ stottert Alexa verängstigt.
„Ein Geist?! Siehst du vor lauter Hitze schon Gespenster, meine liebe Alexa?“ Mia kann sich gerade noch das Lachen verbeißen.
Schmollend hört Alexa wieder dem Reiseleiter zu, der über die Geschichte der Hofburg erzählt.
***
„Zwei Stück Sacher-Torte und zwei Kaffee.“ bestellt Mia. Der Kellner nickt und verschwindet wieder. „Und nun zu dir.“ wendet sie sich an Alexa, die sich neugierig umschaut und tut, als wäre nichts passiert. Das Café "Sacher" ist gut besucht, fast alle Tische sind besetzt. Auf der anderen Straßenseite sieht Alexa das Mahnmal gegen Faschismus, eine weiße Säule. Irgendwie macht das Gebilde sie traurig...
„Was genau hast du auf dem Heldenplatz gesehen?“ fragt Mia eindringlich.
„Das habe ich dir doch schon gesagt!“ ruft Alexa lauter als beabsichtigt. Dann senkt sie ihre Stimme und flüstert fast schon: „Es war ein Geist, eine Erscheinung, wie soll ich das denn sonst nennen?“
„Zum Beispiel einen klassischen Sonnenstich...“ murmelt Mia fassungslos. „Du weißt doch genauso gut wie ich, dass es keine Geister und Gespenster gibt!“
„Ja, du hast Recht. Lass uns von was anderem sprechen.“
„Und? Was machen wir morgen?“ lenkt Mia ein.
Alexa überlegt nicht lange und sagt: „Wie wär's mit einem Opernbesuch?“
„Bitte, was? Wie kommst du denn auf die Schnapsidee? Du weißt doch, mit klassischer Musik kann man mich jagen!“ ruft Mia im gespielten Entsetzen.
„Ich weiß nicht, mir kam gerade so der Gedanke...“
„Ihr Kaffee und die Torte, meine Damen!“ ruft der Kellner und stellt die Teller auf den Tisch. Als er weg ist, fragt Mia: „Das meinst du doch nicht ernst, oder?“
„Doch, warum denn nicht? Weißt du, mir ist gerade etwas eingefallen...“
„Was denn?“ fragt Mia neugierig.
„Heute als ich vorhin im Hotelzimmer eingeschlafen bin, habe ich kurz vor dem Aufwachen in meinem Kopf eine Musik gehört und im Schlaf wusste ich noch, dass es etwas von Richard Wagner war.“
„Wagner? Der berühmte deutsche Komponist? Mach dich nicht lustig über mich, du kannst doch normalerweise nicht mal Mozart von Beethoven unterscheiden!“ prustet Mia los.
„Schließ nicht immer von dir auf andere!“ lacht Alexa mit „Du bist doch von uns diejenige mit null Ahnung von Musik!“
„Ja, ich gebe zu, dass ich für Katzenmusik nichts übrig habe.“ kontert Mia „Da ist mir doch immer noch die 'Kelly Family' lieber!“
„Besser Katzenmusik als etwas, das direkt aus der Biotonne gekrochen ist! Jetzt mal im Ernst. Ich habe vorhin irgendwo zufällig ein Plakat gesehen, dass morgen 'Parsifal' von Wagner aufgeführt wird. Lass uns doch mal hingehen, vielleicht ist die Musik ja irgendwie eine Art Schlüssel zu meinen Träumen.“
„Was kostet überhaupt eine Karte? Die berühmte Wiener Oper, das dürfte etwas teuer werden... oder hast du im Hotelzimmer einen Goldesel stehen?“ witzelt Mia.
„Stehplatz umgerechnet nur fünf Mark. Ist doch fast geschenkt! Ach komm schon, es könnte doch sein, dass ich mich dann an den Traum erinnern kann und endlich rauskriege, was es damit auf sich hat.“
„Okay, was tut man nicht alles für die beste Freundin...“ Mia gibt sich geschlagen. „Wann fängt es denn überhaupt an?“
„Keine Ahnung, lass uns doch mal jetzt gleich am Opernhaus vorbeigehen und nachgucken, das ist hier direkt um die Ecke.“
„Lass mich nur noch schnell den Kaffee austrinken.“
***
„Um fünf Uhr fängt es also an.“ stellt Alexa nach einem Blick auf den Aushang fest. „Dann schaffen wir es vorher sogar noch uns mit den anderen die Schatzkammer der Habsburger anzusehen und das Kunst-Historische Museum zu besichtigen.“
„Und was stellen wir jetzt an? Es ist erst neun Uhr abends, zu früh um zum Hotel zurückzugehen.“
„Wie wär's mit einem Eis? Ich lade dich ein, als Entschädigung für die 'Katzenmusik' morgen!“
„Da sage ich doch nicht nein! Es gibt bei diesem Wetter nichts besseres als ein schönes kaltes Eis.“
Plötzlich wird es Alexa trotz der mindestens fünfundzwanzig Grad im Schatten furchtbar kalt. Sie zuckt zusammen und fragt Mia: „Sag mal, merkst du das auch?“
„Was meinst du?“
„Es ist auf einmal so kalt.“ wundert sich Alexa, worauf Mia mit den Schultern zuckt.
„Ich merke nichts, es ist immer noch so heiß wie vorhin. Kneifst du jetzt etwa wegen dem Eis? Nichts da, versprochen ist versprochen!“ grinst sie. Da überkommt Alexa das seltsame Gefühl, dass jemand sie mit Blicken durchbohrt. Sie dreht sich um zum Operneingang und sieht dort eine Gestalt stehen. Es ist ein Mann von etwa vierzig Jahren in einem altmodischen hellen Mantel und mit einem großen Filzhut in der Hand, der Alexa unverwandt anschaut. Alexa schnappt nach Luft und erinnert sich plötzlich schwach an eine Situation, die schon ewig her zu sein scheint und ihr gleichzeitig so fremd ist, als wäre das nicht ihre eigene Erinnerung. Sie steht auf einer Leiter vor einem Regal und sucht einen Ordner, da kommt ihr Chef herein und mit ihm ein Mann mit einem komischen Schnurrbart in einem hellen Mantel und mit einem großen Filzhut in der Hand. Sie schielt zu ihnen rüber und merkt, dass der Mann auf ihre Beine schaut... „Alexa? Was schaust du so entgeistert die Wand an?“ fragt Mia. „Steht da was spannendes geschrieben?“ Erschrocken findet Alexa in die Wirklichkeit zurück und sieht nochmal zu dem Mann hin, der ihr so vertraut vorkommt.
„Mia, wer ist der Mann dahinten?“ flüstert sie Mia zu. „Ich kenne ihn doch irgendwoher...“
„Welcher Mann, Alexa? Da steht niemand.“
In diesem Augenblick erkennt Alexa, was ihr die Träume und Erscheinungen die ganze Zeit mitzuteilen versuchten. Es müssen Erinnerungen an ein früheres Leben gewesen sein, sie hatte schon lange das unbestimmte Gefühl, nicht zum ersten Mal auf dieser Welt zu sein. Nur... welcher Krieg war es, von dem sie immer träumt? Wann genau hat sie gelebt? Wer war sie damals?
[ 14.06.2002, 18:29: Beitrag editiert von: Jurate ]