Erkannt
Die Geschichte, die ich euch erzählen möchte, begann an einem warmen und sonnigen Spätsommerabend. Der Wind spielte mit den ersten herabgefallenen Blättern und die Sonne hatte schon etwas von ihrer sommerlichen Stärke eingebüsst, die frühen Vorboten des Herbstes machten sich bemerkbar. Nach einem langen Arbeitstag, der viel zu früh begonnen hatte, beschloss ich, wieder einmal eine kopfbefreiende Joggingrunde zu unternehmen. Was sich zunächst jeweils wie ein weiterführen der alltäglichen Tretmühle anfühlt, entpuppt sich meistens als gutes Unterfangen. Dann nämlich, wenn ich nach beendeter Tour vom Alltag entlastet zu Hause ankomme, dusche, esse und die Alltagssorgen hinter mir lasse.
Als ich meine allzu auffälligen, im Sonderverkauf erworbenen Laufschuhe schnürte, ahnte ich noch nichts vom kommenden Ereignis. Es sollte eine der ungewöhnlichsten Joggingrunden werden, die ich je erlebt habe.
Nach einem ungefähr zehnminütigen Anstieg, hatte ich mein erstes Erholungsziel erreicht. Von da an konnte ich mit Sicherheit sagen, dass ich die hektische Stadt hinter mir gelassen hatte. Eine vom Spätsommer verzauberte Allee empfing mich. Ich lauschte dem rhythmischen Knacken der Nüsse und Blätter, die ich zertrat. Nach einer Weile hörte ich dieselben Geräusche noch einmal hinter mir, wohl von einem Mitjogger verursacht, der mir offensichtlich dicht auf den Fersen lag. Ich zügelte mein Tempo, in der Hoffnung mein Verfolger würde mich dann überholen. Doch er oder sie blieb mir hartnäckig im Nacken. Nach einer Weile setzte die Person doch zum Überholmanöver an, blieb jedoch zu meinem Entsetzen neben mir. Ich fühlte mich bedroht und zwar nicht auf physische Weise, nein, die Person raubte mir meinen Raum. Ich kam schliesslich nicht hierher, um mich mit Leuten zu treffen, was ohnehin nicht zu meinen Stärken gehört. Ich bin eine Einzelgängerin und Träumerin. Zu viele Menschen um mich herum rauben mir meine wertvolle Energie.
Ich fühlte den Blick der Person neben mir auf meinem Gesicht brennen. Hier konnte ich mich nicht entziehen. So zu tun als wäre nichts, machte die Situation nicht weniger peinlich. Dennoch unternahm ich nichts und versuchte die Welt um mich herum auszublenden.
Plötzlich sagte mein Nebenbuhler: «Hallo»! Die Frauenstimme traf mich wie ein Blitzschlag. Ich konnte meine Anonymität nun nicht länger bewahren. Eine Reaktion war gefordert. Weiteres Ignorieren hätte mir nur noch mehr Bauchschmerzen bereitet. Die Flucht in die andere Richtung schwebte mir zwar kurz vor. Doch das schien mir dann zu überstürzt und wäre mir unendlich peinlich gewesen. Also antwortete ich mit gespielter Fröhlichkeit: «Oh, Hallo!», als hätte ich die Person neben mir erst jetzt bemerkt. Ich warf meiner Verfolgerin nun zum ersten Mal einen Blick zu und erschrak heftig. Denn wer da neben mir herlief, das war ich selbst. Mein eigener Anblick raubte mir derart den Atem, dass mir schwindelig wurde. Ein pfeifendes Geräusch machte sich im inneren meines Kopfes bemerkbar. Ich musste daraufhin mein Tempo drosseln und begann zu spazieren. Meine Begleiterin passte ihr Tempo an.
Ich wusste sogleich, dass mein zweites Ich über alles Bescheid wusste. Sie war sich im Klaren darüber, wie ich mich fühlte, was mich ausmachte, ja sie kannte jede Faser meines Daseins und meine intimsten Geheimnisse. Überhaupt war mir klar, dass sie allwissend war und das betraf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie wusste weshalb sie hier war und mich aufsuchte, für sie war es keine Überraschung. Ich fühlte mich exponiert, verletzlich, angegriffen, mit dem Unausweichlichen konfrontiert. Ich konnte mich hinter keiner Fassade verstecken, wie ich es sonst zu tun pflegte. Es gab kein Entrinnen, ich musste mich der Situation stellen. Ich konnte nicht anders und fragte sie beinahe verzweifelt: «Was willst du von mir?». Auf dem Gesicht meiner Begleiterin zeichnete sich ein warmes, herzliches Lachen ab.
Ich versuche euch nun zu beschreiben, was mit mir von diesem Moment an geschah. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich, als wäre ich angekommen. Innert kürzester Zeit änderte sich mein Gefühlszustand. Ich musste vor nichts und niemandem mehr davonlaufen. Anscheinend auch nicht von mir selbst. Ich konnte zum ersten Mal seit ganz langer Zeit loslassen. Das war für mich so überwältigend, dass ich den Drang verspürte, mich auf den von der Sonne gewärmten Boden zu setzen. Mein zweites Ich sass sich mir gegenüber hin. Endlich konnte ich durchatmen und innehalten, ohne ein Gefühl des Gehetzt seins und der Rastlosigkeit spüren zu müssen, was sonst mein ständiger Begleiter ist. Ich wusste, endlich habe ich den Zeitpunkt erreicht, den ich schon ein Leben lang verfolgte. Die Ruhe und Zufriedenheit, die mich nun erfüllte, machte mich sprachlos. Ich war froh, dass mein Gegenüber kein Wort sprach und mich zu nichts aufforderte. Sie lächelte mich lediglich an und nahm meine Hände.
Für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen, alles schien sich zu drehen. Als ich wieder klare Sicht hatte, war mein Gegenüber verschwunden. Ich fühlte aber noch immer den sanften Druck ihrer Hände in meinen. Mein Körper und mein Geist fühlten sich an wie neu geboren. Aber ihre Abwesenheit versetzte mich kurz in eine tiefe Traurigkeit. Doch ich wusste, dass sie mich jederzeit fände und mich niemals mehr im Stich liesse.