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Erkaltet – 1:49 Uhr

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06.07.2014
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Erkaltet – 1:49 Uhr

Tanja wurde von der Stille geweckt. Sonst waren es Sand kratzende Stiefelschritte, welche durch die Flure des ausgebrannten Gewerbegebäudes hallten und ihr das Gefühl gaben, nicht völlig allein zu sein. Selbst das unaufhörliche Getöse im einige hundert Meter entfernten Zeltlager der Obdachlosen, ihrem vorherigen Schlafplatz, ließen sie besser ruhen als diese sie gerade umwickelnde Decke der Geräuschlosigkeit.

„Mutter?“, flüsterte sie in der Hoffnung, sich ihrer Einsamkeit, vielleicht sogar ihrer ganzen Situation zu irren. Doch da war nichts außer der Finsternis und dem Knarren der gammligen Bürocouch, auf der sie sich in ihrem verschlissenen Armeeschlafsack aufrichtete.

Verschlafen zog sich Tanja den Ärmel ihres ausgedienten Parkas hoch. Der Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass die Nacht noch lang war. Den Tränen nahe versuchte sie es erneut: „Mutter, wo bist du?“

„Was ist denn?“, antwortete wie aus dem Nichts die kratzige Stimme einer alten Frau.

Tanja schien erschrocken und erfreut zugleich: „Wo warst du? Ich dachte schon, du hättest mich allein gelassen.“

„Ich bin hier. Beruhige dich. Trink einen Schluck und leg dich wieder hin!“

Tanja schälte sich aus ihrem Schlafsack. Geistesabwesend bewegte sie sich sicher durch einen Irrgarten am Boden liegender Splitterreste medizinischer Ampullen, blutgetränkter Taschentücher und alten Kondomen, die wie abgepellte Schlangenhäute schnodderig am Boden zu kleben schienen. Am mit Eiskristallen verschleierten Fenster angekommen, griff sie zu ihrer Flasche. „Ich habe Hunger“, murmelte sie leise und starrte dabei traurig auf die Straße. Dabei war der Begriff „Straße“ für die Hauptader der Moskauer Armenviertel ebenso unpassend wie die Bezeichnung „Leben“ für das Dasein, das sie und viele andere hier fristeten.

„Du siehst auch hungrig aus. Wie wäre es, wenn du mir erzählst, worauf du am meisten Appetit hättest?“
Tanja überlegte einen Augenblick. „Ach egal. Hauptsache, irgendwas Warmes. Am liebsten die Kartoffelsuppe aus dem Lager, aber etwas warmer Reis wäre auch schon toll.“

„Knollensuppe aus dem Lager? Das letzte Mal wurde dir doch so übel davon. Hast du das nicht gesagt?“

„Aber nur, weil der Speck … oder das, was Speck sein sollte, schlecht war. Ansonsten war sie wirklich gut.“

„Ich wollte dich auch nur aufheitern. Doch verrate mir lieber mal, woher wir Morgen wirklich etwas zu essen bekommen!“
„Ich weiß nicht“, sagte Tanja stumm.

„Vielleicht gehen wir zurück. Du weißt schon. Zurück ins Lager“, versuchte es die Stimme.

Trotzig drehte Tanja sich vom Fenster weg und blickte nun direkt in eine der finsteren Ecken des Büroraumes. „Auf keinen Fall, dahin kriegen mich keine zehn Pferde zurück.“

„Komm schon. So schlimm war es da doch nicht. Die nehmen dich bestimmt wieder auf. Was ist schon passiert? Die haben dich dabei erwischt, wie du tagsüber mit „mir“ gesprochen hast. Na und? Das haben die bestimmt schon vergessen … wenn sie es überhaupt mitbekommen haben.“

Angespannt verzog sich Tanjas Gesicht zu einer aggressiven Fratze. Die Falten um ihren eingefallenen Mund und den tief in den Höhlen liegenden Augen verrieten, dass sie schon oft in diesen Ausdruck verfallen war. „Lass gut sein, Mutter.“

Mit belehrendem Unterton untermauerte die Stimme ihren Vorschlag. „Dir wird keine Wahl bleiben. Was willst du sonst machen? Sieh dich an! Abgemagert bis auf die Knochen, wirst du nicht weit kommen.“

Tanja wurde immer wütender. „Sei still! Warum erzählst du mir das immer wieder? Ich gehe da nicht mehr hin. Hör auf! Lass mich in Ruhe!“

Unbeeindruckt und nun ansteigend sarkastisch fuhr die Stimme der alten Frau fort. „Verhungern! Ist es das, was du willst? Oder vielleicht erfrieren? Irgend so ein Irrer könnte hier einfach reinkommen, über dich herfallen und dich wegen deiner paar Habseligkeiten erschlagen. Ist das dein Plan für heute Abend?“

„Nein. Sei ruhig. Du altes Monster. Halt die Klappe, verdammt nochmal, halt deine Klappe! Ich bleibe hier“, schrie Tanja in einer Lautstärke, der sie sich erst bewusst wurde, als sie das durch das Gebäude hallende Echo ihrer eigenen Stimme vernahm.

„Dann wirst du hier sterben.“

Die durchdringende Prophezeiung der alten Frau verdauend, blickte Tanja aus dem Fenster. An die Mauer der gegenüberliegenden Straßenseite hatte jemand mit weißer Sprühfarbe „Потерянный рай“ geschmiert. Deprimiert trank sie den letzten Schluck aus ihrer verbeulten Plastikflasche. Der brennende Gaumen und der alkoholische Geschmack schenkten ihr ein Gefühl der Geborgenheit.

In ihrer Lethargie bemerkte sie nicht, wie ihre Beine langsam nachgaben. Unvermittelt nachdem sie auf den kalten Boden aufschlug, umgab sie abermals eine Decke der Geräuschlosigkeit.

 

Hi,

erstmal herzlich Willkommen

Bevor ich etwas zu deiner Geschichte sage will ich anmerken das ich mich übergaupt nicht mit dem Thema Obdachlos zu sein, dies auch noch in Moskau, auskenne.
Daher würde mich interessieren mit welchem Hintergrund du auf dieses Thema gekommen bist.

Nun zur Geschichte:

Zuerst verstand ich nicht warum du 1:49 in die Überschrift geschrieben hast. Ich vermute es ist der Todeszeitpunkt von Tanja. Jedoch wird das ja in der Geschichte nicht mehr erwähnt und scheint daher nur eine unwichtige Rolle zu spielen. Ich würde das weglassen. Es reicht die Geschichte nur "Erkaltet" zu nennen.

Dann fiel mir die Stelle auf in welcher Tanja erschrocken und erfreut zugleich auf die Stimme ihrer "Mutter" reagiert. Das ist mir als Leser zu viel und es geht doch nicht das jemand zwei Emotionen gleichzeitig zeigen kann. Entweder eine oder zumindest nacheinander, wobei eine Emotion reicht. Ich würde erfreut weglassen da sie im weiteren Verlauf der Geschichte nicht greade erfreut wirkt sondern sogar wütend wird.

Auch ist es nicht gut das am Schlus Tanja aus dem Fenster schaut und auf der gegenüberliegenden Mauer etwas liest was du uns vorenthälst, da du es uns nur auf russisch "vorsetzt". Das geschriebene hat eine Bedeutung welche ich gerne wissen würde. Übersetz es mir bitte. So wird es den meisten Lesern gehen. Auf deutsch bitte! Nicht jeder kann russisch. Ist es unwichtig für die Handlung der Geschichte hättest es auch weglassen können.

Am Anfang dachte ich einfach das die Geschichte überall spielen könnte. Dann jedoch knallst du so nebenbei damit herraus das die Geschichte in Moskau spielt. Wenn das wichtig sein sollte, hättest du es aber auch eleganter, früher im Text erwähnen sollen.

Schön fand ich das jede wörtliche Rede deiner Protagonistin eine eigene Zeile geschenkt bekommt. Überhaupt machst du sehr viele Absätze. Ein neuer Absatz sagt ja bekanntlich das etwas in einer Geschichte neue beginnt, wobei natürlich der Rahmen bestehen bleibt. Jetzt ist es natürlich jedem selbst überlassen wann er seine Absätze macht. Ich finde sie jedoch essentiel um einen besseren Lessefluss zu ermöglichen und den Leser nicht mit einem extremen Textblock zu erschlagen. Deiner Geschichte, finde ich tuen diese Absätze gut auch um kurz zu pausieren und das gelesene noch einmal sacken zu lassen.

Der Schluss als solches fand ich zu abgehackt. Der Tod von Tanja kam mir zu plötzlich. Es macht den Eindruck das du endlich fertig werden wolltest und dir die Puste beim Schreiben ausging.

Alles in allem fand ich den Text mittelprächtig. Du kannst noch einiges Verbessern und wenn er dir etwas bedeutet würde ich an deiner Stelle dies auch noch mal tun.

Aber nochmal ein herzliches Willkommen und schreib ja weiter

Gruß Cozmo

 

Seltsame Geschichte,

liebe LeondaGarbo –
und damit erst einmal herzlich willkommen hierorts!,

eine Geschichte mit poetischen Elementen (direkt zu Anfang

Tanja wurde von der Stille geweckt …. diese sie gerade umwickelnde Decke der Geräuschlosigkeit
bis zum Schluss
…, umgab sie abermals eine Decke der Geräuschlosigkeit.
Dabei spielt „Obdach“ in seiner Bedeutung zugleich mit der Unterkunft (was O. gleichsam auch meint) mit den Gegensätzen „ob = oben/über“ und dem „unter“, da wo Tanja angekommen ist.

Aber warum ist sie „ohne Dach“ überm Kopf und damit ganz unten in der Gesellschaft (was ja selbst in unserer schönen neuen Welt so ist)? Wir wissen es nicht, erfahren nur von ihrem Stolz, nicht ins Lager zurück zu wollen/müssen und zu sterben (lieber tot als rot?). Möglich, dass dieser Schnappschuss aus früh-stalinistischer Zeit stammt, aber das gilt nur für meinen kleinen Kopf …

Zu Trivialerem:

Wie alles im Leben haben auch Sätze Anfang und Ende – wie hier der Relativsatz (…, welche …“), dem Du das Ende gönnen solltest

Sonst waren es Sand kratzende Stiefelschritte, welche durch die Flure des ausgebrannten Gewerbegebäudes hallten[,] und ihr das Gefühl gaben, …

Der Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass die Nacht noch lang war.
Ein Pronomen - possessiv-. „ihre Uhr“/personalpr. „verriet ihr“ kann eingespart werden. Ich bevorzuge das zwote (denn wem sollte „ihre“ Uhr die Zeit verraten, wenn nicht der auf die Uhr Schauenden?), ohne dass die Aussage leiden muss:
Der Blick auf ihre Uhr verriet […], dass die Nacht noch lang war.
Ähnliches gilt hier für’s Possessivpronomen
Tanja schälte sich aus ihrem Schlafsack.
eleganter:
Tanja schälte sich aus [dem] Schlafsack.

Einmal schnappt die Fälle-Falle zu:
…, blutgetränkter Taschentücher und alten Kondomen, …
Die Taschentücher wie die Kondome (die Splitter zuvor, die wohl das Modell für die Tücher geben, sind korrekt)
…, blutgetränkte[n] Taschentücher[n] und …

Hier in der direkten Rede wäre für die Hervorhebung „mir“ besser das einfache Anführungszeichen angebracht
„Komm schon. … Die haben dich dabei erwischt, wie du tagsüber mit [‚]mir[’] gesprochen hast. Na und? Das haben die bestimmt schon vergessen … wenn sie es überhaupt mitbekommen haben.“

…, verdammt nochmal, …
Noch mal immer auseinander, da eine Verkürzung des „noch einmal“

Gruß

Friedel
(PS.) der aufgrund Deiner beiden Namen leise anfragt, ob Deutsch gar nicht Deine Muttersprache sei, stattdessen also "Zweitsprache" - und wenn das so ist, bistu auf einem ausgesprochen guten Weg ...

 

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