Erkaltet – 1:49 Uhr
Tanja wurde von der Stille geweckt. Sonst waren es Sand kratzende Stiefelschritte, welche durch die Flure des ausgebrannten Gewerbegebäudes hallten und ihr das Gefühl gaben, nicht völlig allein zu sein. Selbst das unaufhörliche Getöse im einige hundert Meter entfernten Zeltlager der Obdachlosen, ihrem vorherigen Schlafplatz, ließen sie besser ruhen als diese sie gerade umwickelnde Decke der Geräuschlosigkeit.
„Mutter?“, flüsterte sie in der Hoffnung, sich ihrer Einsamkeit, vielleicht sogar ihrer ganzen Situation zu irren. Doch da war nichts außer der Finsternis und dem Knarren der gammligen Bürocouch, auf der sie sich in ihrem verschlissenen Armeeschlafsack aufrichtete.
Verschlafen zog sich Tanja den Ärmel ihres ausgedienten Parkas hoch. Der Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass die Nacht noch lang war. Den Tränen nahe versuchte sie es erneut: „Mutter, wo bist du?“
„Was ist denn?“, antwortete wie aus dem Nichts die kratzige Stimme einer alten Frau.
Tanja schien erschrocken und erfreut zugleich: „Wo warst du? Ich dachte schon, du hättest mich allein gelassen.“
„Ich bin hier. Beruhige dich. Trink einen Schluck und leg dich wieder hin!“
Tanja schälte sich aus ihrem Schlafsack. Geistesabwesend bewegte sie sich sicher durch einen Irrgarten am Boden liegender Splitterreste medizinischer Ampullen, blutgetränkter Taschentücher und alten Kondomen, die wie abgepellte Schlangenhäute schnodderig am Boden zu kleben schienen. Am mit Eiskristallen verschleierten Fenster angekommen, griff sie zu ihrer Flasche. „Ich habe Hunger“, murmelte sie leise und starrte dabei traurig auf die Straße. Dabei war der Begriff „Straße“ für die Hauptader der Moskauer Armenviertel ebenso unpassend wie die Bezeichnung „Leben“ für das Dasein, das sie und viele andere hier fristeten.
„Du siehst auch hungrig aus. Wie wäre es, wenn du mir erzählst, worauf du am meisten Appetit hättest?“
Tanja überlegte einen Augenblick. „Ach egal. Hauptsache, irgendwas Warmes. Am liebsten die Kartoffelsuppe aus dem Lager, aber etwas warmer Reis wäre auch schon toll.“
„Knollensuppe aus dem Lager? Das letzte Mal wurde dir doch so übel davon. Hast du das nicht gesagt?“
„Aber nur, weil der Speck … oder das, was Speck sein sollte, schlecht war. Ansonsten war sie wirklich gut.“
„Ich wollte dich auch nur aufheitern. Doch verrate mir lieber mal, woher wir Morgen wirklich etwas zu essen bekommen!“
„Ich weiß nicht“, sagte Tanja stumm.
„Vielleicht gehen wir zurück. Du weißt schon. Zurück ins Lager“, versuchte es die Stimme.
Trotzig drehte Tanja sich vom Fenster weg und blickte nun direkt in eine der finsteren Ecken des Büroraumes. „Auf keinen Fall, dahin kriegen mich keine zehn Pferde zurück.“
„Komm schon. So schlimm war es da doch nicht. Die nehmen dich bestimmt wieder auf. Was ist schon passiert? Die haben dich dabei erwischt, wie du tagsüber mit „mir“ gesprochen hast. Na und? Das haben die bestimmt schon vergessen … wenn sie es überhaupt mitbekommen haben.“
Angespannt verzog sich Tanjas Gesicht zu einer aggressiven Fratze. Die Falten um ihren eingefallenen Mund und den tief in den Höhlen liegenden Augen verrieten, dass sie schon oft in diesen Ausdruck verfallen war. „Lass gut sein, Mutter.“
Mit belehrendem Unterton untermauerte die Stimme ihren Vorschlag. „Dir wird keine Wahl bleiben. Was willst du sonst machen? Sieh dich an! Abgemagert bis auf die Knochen, wirst du nicht weit kommen.“
Tanja wurde immer wütender. „Sei still! Warum erzählst du mir das immer wieder? Ich gehe da nicht mehr hin. Hör auf! Lass mich in Ruhe!“
Unbeeindruckt und nun ansteigend sarkastisch fuhr die Stimme der alten Frau fort. „Verhungern! Ist es das, was du willst? Oder vielleicht erfrieren? Irgend so ein Irrer könnte hier einfach reinkommen, über dich herfallen und dich wegen deiner paar Habseligkeiten erschlagen. Ist das dein Plan für heute Abend?“
„Nein. Sei ruhig. Du altes Monster. Halt die Klappe, verdammt nochmal, halt deine Klappe! Ich bleibe hier“, schrie Tanja in einer Lautstärke, der sie sich erst bewusst wurde, als sie das durch das Gebäude hallende Echo ihrer eigenen Stimme vernahm.
„Dann wirst du hier sterben.“
Die durchdringende Prophezeiung der alten Frau verdauend, blickte Tanja aus dem Fenster. An die Mauer der gegenüberliegenden Straßenseite hatte jemand mit weißer Sprühfarbe „Потерянный рай“ geschmiert. Deprimiert trank sie den letzten Schluck aus ihrer verbeulten Plastikflasche. Der brennende Gaumen und der alkoholische Geschmack schenkten ihr ein Gefühl der Geborgenheit.
In ihrer Lethargie bemerkte sie nicht, wie ihre Beine langsam nachgaben. Unvermittelt nachdem sie auf den kalten Boden aufschlug, umgab sie abermals eine Decke der Geräuschlosigkeit.