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Erinnerungssplitter
Ich bin auf der Fahrt zu meiner Freundin Gerda. Gerda hat Geburtstag. Nach 50 Jahren sehe ich sie jetzt wieder. Sie wird nun auch so alt wie ich: 75 Jahre. Es dämmert bereits. Im sanften Schaukeln der Bahn nehme ich nur noch Umrisse wahr. Ihre Bedeutung interessiert mich nicht. Der Arzt sagte mir gestern, mein Krebs streut Metastasen. Die Zugbeleuchtung lässt die Schattenlandschaften draußen vor dem Fenster wie eine altmodische Wohnungseinrichtung verhöhnend zurück. Schwere, bleifarbene Wolken hängen so tief über den Gleisen, als wollten sie den Zug anhalten. Es sieht nach Regen aus. Das also würde mich erwarten, sobald ich die Geborgenheit dieser warmen, hell erleuchteten Kabine verlassen würde. Die Müdigkeit trifft mich jäh wie ein Fausthieb. Bilder einer langen Erinnerung überfallen mich. Ich lausche in die Stille. Eigenartig, wie sich Gefühle doch konservieren und alles wieder so erscheint, als ob es gestern gewesen ist. Wie gesunkene Schätze heben sich Erinnerungen ins Bewusstsein. Eine Melodie, Worte, Farben, Gerüche oder auch nur eine bestimmte Geste können Schlüssel für die Räume des Erinnerns sein. Aber kann denn die Stille solch ein Schlüssel sein? Doch warum steigen gerade jetzt in mir diese Bilder aus meiner Kindheit hoch? Es war der Tag, an dem sich die Türen öffneten und wir nicht wieder zurück mussten in den Luftschutzbunker. Es war ein sehr stiller Tag. Granatsplitter lagen überall herum. Seltsam glitzernde Teilchen, jedes anders. Ja, vor allem dieses Glitzern, dieses silbrige Gefühl. Die Granatsplitter glänzten. Es war so schön. Ein Granatsplitter hat mich dann auch noch viele Jahre später begleitet. Ich steckte ihn ein und bewahrte ihn auf. Das war der erste Tag. Der erste Tag des Friedens, an den ich mich plötzlich sehr genau erinnern kann. Dieses Gefühl von Freiheit. Nicht mehr beobachtet sein, unter Beaufsichtigung zu stehen. Meine Eltern hatten mich hier ganz für mich gelassen. Mein Bewusstsein erwachte vollends. Vielleicht war ich das erste Mal in meinem Leben vollkommen für mich allein. Ich entdeckte diesen riesigen Spielplatz, der sich da vor mir auftat: die Überbleibsel des Krieges, die Ruinen, die geheimnisvollen Keller, geheimnisvoll auch die Rituale, welche wir abhielten. Wir kochten Nudeln auf dem Holz, das zersplittert überall umherlag und die Kinder, die Banden bildeten und sich gegenseitig bekämpften. Gerda wurde meine Freundin. Zeit hatte keine Bedeutung. Sie stand still. Die Zukunft war eine Sache, über die niemand sprach, nicht wagte, darüber zu sprechen, weil es sie nicht gab. Mit Gerda konnte ich nur in der Gegenwart leben. Nur das allernächste: Das Brennholz aus den Trümmern holen, alte Kartoffeln und Kohlen aus den verschütteten Kellern herausbuddeln. So ging der Tag dahin. Niemand hatte Zukunft. Ideale waren zerstört. Es ging um das nackte Leben. Und das war eigentlich eine seltsame Zeit. Eine Zeit von absoluter Gegenwart. Und Stille. Ausatmen. So war meine Kindheit. Aus dem Granatsplitter bastelte ich mir dann einen Anhänger für meine Kette. Die Bahn stottert und quietscht. Ich muss aussteigen. Sie wartet auf mich. Heute schenke ich ihr die Kette.