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Erinnerungsfoto
Erinnerungsfoto
Sie lächelten so glücklich in die Kamera.
Flankiert durch die starken Arme des Kindermädchens dort vor den Apfelbäumen mitten im Juni.
Schwarz-weiße Sommertagsstimmung, eingefangen durch den Apparat des Vaters,die Haare zu Gretelzöpfen gebändigt, innerlich schon an das nächste Spiel mit dem Kindermädchen denkend, unruhig von einem Bein auf das andere tretend.
Das leise Klicken des Kameraverschlusses wird übertönt vom Pfiff des ankommenden Zuges.
Hinter der Mauer geht es geschäftig zu.
Befehle werden gerufen, Rampen klappern herab und das dumpfe Gemurmel tausender Menschen summt in der Luft, untermalt von dumpf schabendem Trappeln, erst auf Holz, dann auf Stein.
Hinter der Mauer, welche den Apfelbaumgarten umschließt ist Frieden.
Blumen nicken im leichten Mittagswind mit den leuchtenden, duftenden Köpfen als wollten sie das Kinderlachen gutheißen.
Wenn man auf die Mauer hinter den Apfelbäumen schaut, sieht man dort Schornsteine. Vier stück an der Zahl, welche,bald wieder zu Rauchen beginnen werden,ihrer Bestimmung folgend.
Annegret hasst dieses Foto genauso wie sie es liebt.
Sie liebt das Kindermädchen darauf genauso wie ihre Schwester die jetzt schon seit langem in den Staaten lebt, und nur selten zu Besuch kommt seit ihre Mutter von ihnen gegangen ist.
Das Herz will ihr zerreißen und schnell stellt sie das Bild wieder zurück auf das Bord an der Wand, hinter die zwei Bücherstapel...sichtbar und doch unsichtbar für den, der nicht zu sehen gewohnt ist.
Der Schmerz, der sich dumpf in ihr ausbreitet ist in all den Jahren nicht geringer geworden, obwohl sie sich immer wieder sagte:“Du kannst doch nichts dafür. Du warst doch noch ein Kind“
Wie immer steht abwartend die Flasche in erreichbarer Nähe.
Freunde sind schnell angerufen, für Zerstreuung und einen Grund sich zu betrinken ist rasch gesorgt.
Egal wie..die Bilder sind unerträglich, deshalb meidet sie diesen Raum in dem, wie sie weiß immer dieses Foto lauert.
Sie fürchtet alles was die Erinnerung zurückbringt genauso, wie sie dankbar dafür ist, wenn sich manchmal das Ventil in ihrem Inneren öffnet, und die Last auf ihrer Seele wenigstens für ein paar Stunden geringer wird.
Papa war an jenem Morgen sehr nervös gewesen, und Mutti hatte geweint.
Annegret hatte sich an ihre Mutti gekuschelt und gefragt:“Was hältst Du nicht mehr aus? Tut dir denn was weh? Du kannst doch den netten Onkel Doktor aus der Fabrik holen, das ist doch ein Freund von Papa, der macht Dich ganz schnell wieder gesund.“
Die Mutter hatte bei ihren Worten laut aufgeschluchzt, sich dann mit ihren kleinen energischen Händen die geröteten Augen gewischt und etwas tröstendes gesagt.
Dann gab sie Klein-Annegret einen Kuss und sie durfte hinaus in den Garten spielen gehen.
Oft stand Annegret vor der großen Backsteinmauer über die sie nicht hinwegsehen konnte und fragte sich, wie die Fabrik, in der ihr Vater Direktor war, wohl aussähe.Nie durften sie ihn dort besuchen.
Sie wusste nur das hier dreimal mam Tag große, rumpelnde Güterzüge ankamen und wieder abfuhren.
Es hörte sich manchmal an wie eine große Herde Vieh, manchmal wie die murmelnde Menge im Theater, in das sie neulich zum ersten mal in ihrem Leben mitgehen durfte, kurz bevor sich der Vorhang gehoben hatte und den Blick auf das Wunder freigab.
Die Schornsteinspitzen konnte sie immer sehen, denn sie waren eckig und hoch und stießen meistens einen übelriechenden fettigen Qualm aus.
Wenn der Rauch in Richtung ihres Gartens wehte, mußten Annegret und ihre Schwester immer sofort ins Haus.
Viele nette Onkel waren Abends zu Besuch, und Onkel Hermann mit seinem dicken Bauch war schon dreimal dagewesen.
Wenn Onkel Josef kam, hatte er manchmal seine Kinder dabei und sie konnten dann so richtig im Garten toben und Räuber und Gendarm spielen.
Übermorgen schon sollte Onkel Josef wieder einmal kommen, aber ohne Kinder, und Papa schien sich diesmal gar nicht zu freuen über diesen Besuch.
„Irgentwann fliegt uns allen diese Scheiße um die Ohren“ hatte Vater beim Frühstück gerufen und Mutter hatte zu weinen begonnen.
„Ich steh für alles ein.Ich bin kein Feigling und stehe zu meiner Pflicht.“
Dann war er wie jeden Morgen ins Kontor gegangen, nicht ohne zuvor jedem der Mädchen über die blonden Haare gestreichelt zu haben, mit der Ermahnung“..und dass mir keine Klagen kommen.“
Fünf Monate später, kurz nach Annegrets sechsten Geburtstag kam ein großes Auto, welches die Mutter, sie, ihre Schwester und das Kindermädchen nebst umfangreichem Gepäck nach Westen zur Tante fahren sollte.
Papa musste hierbleiben, aber er sagte, er käme bald nach.
Er stand winkend am Tor über dem etwas geschrieben stand.
Annegret sah ihn da zum letzten Mal.
„Mama, was steht denn da über dem großen Tor ?“ fragte Annegret.
„Arbeit macht frei“ sagte die Mutter mit tonloser Stimme und drückte Annegret fest an sich.
Die Freunde waren gegangen, der Kopf war rotweinschwer und der kalt werdende Rauch im Zimmer verdichtete sich mit dem Knacken der Flammen im Kamin zu einer Kakophonie aus Erinnerung und Schmerz.
Sie breitete die Arme aus, um den heraufziehenden Schlummer wie einen alten Freund in die Arme zu schließen.
Das Foto steht noch immer hinter der Lücke im Regal und wartet geduldig darauf, alte Wunden wieder aufzureißen.
28.04.2002 AP (gewidmet:Annegret K.)
[ 22.05.2002, 01:03: Beitrag editiert von: Lord Arion ]