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Erinnerungsfoto

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26.10.2001
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Erinnerungsfoto

Erinnerungsfoto

Sie lächelten so glücklich in die Kamera.
Flankiert durch die starken Arme des Kindermädchens dort vor den Apfelbäumen mitten im Juni.
Schwarz-weiße Sommertagsstimmung, eingefangen durch den Apparat des Vaters,die Haare zu Gretelzöpfen gebändigt, innerlich schon an das nächste Spiel mit dem Kindermädchen denkend, unruhig von einem Bein auf das andere tretend.

Das leise Klicken des Kameraverschlusses wird übertönt vom Pfiff des ankommenden Zuges.
Hinter der Mauer geht es geschäftig zu.
Befehle werden gerufen, Rampen klappern herab und das dumpfe Gemurmel tausender Menschen summt in der Luft, untermalt von dumpf schabendem Trappeln, erst auf Holz, dann auf Stein.
Hinter der Mauer, welche den Apfelbaumgarten umschließt ist Frieden.
Blumen nicken im leichten Mittagswind mit den leuchtenden, duftenden Köpfen als wollten sie das Kinderlachen gutheißen.
Wenn man auf die Mauer hinter den Apfelbäumen schaut, sieht man dort Schornsteine. Vier stück an der Zahl, welche,bald wieder zu Rauchen beginnen werden,ihrer Bestimmung folgend.

Annegret hasst dieses Foto genauso wie sie es liebt.
Sie liebt das Kindermädchen darauf genauso wie ihre Schwester die jetzt schon seit langem in den Staaten lebt, und nur selten zu Besuch kommt seit ihre Mutter von ihnen gegangen ist.
Das Herz will ihr zerreißen und schnell stellt sie das Bild wieder zurück auf das Bord an der Wand, hinter die zwei Bücherstapel...sichtbar und doch unsichtbar für den, der nicht zu sehen gewohnt ist.
Der Schmerz, der sich dumpf in ihr ausbreitet ist in all den Jahren nicht geringer geworden, obwohl sie sich immer wieder sagte:“Du kannst doch nichts dafür. Du warst doch noch ein Kind“
Wie immer steht abwartend die Flasche in erreichbarer Nähe.
Freunde sind schnell angerufen, für Zerstreuung und einen Grund sich zu betrinken ist rasch gesorgt.
Egal wie..die Bilder sind unerträglich, deshalb meidet sie diesen Raum in dem, wie sie weiß immer dieses Foto lauert.
Sie fürchtet alles was die Erinnerung zurückbringt genauso, wie sie dankbar dafür ist, wenn sich manchmal das Ventil in ihrem Inneren öffnet, und die Last auf ihrer Seele wenigstens für ein paar Stunden geringer wird.

Papa war an jenem Morgen sehr nervös gewesen, und Mutti hatte geweint.
Annegret hatte sich an ihre Mutti gekuschelt und gefragt:“Was hältst Du nicht mehr aus? Tut dir denn was weh? Du kannst doch den netten Onkel Doktor aus der Fabrik holen, das ist doch ein Freund von Papa, der macht Dich ganz schnell wieder gesund.“
Die Mutter hatte bei ihren Worten laut aufgeschluchzt, sich dann mit ihren kleinen energischen Händen die geröteten Augen gewischt und etwas tröstendes gesagt.
Dann gab sie Klein-Annegret einen Kuss und sie durfte hinaus in den Garten spielen gehen.

Oft stand Annegret vor der großen Backsteinmauer über die sie nicht hinwegsehen konnte und fragte sich, wie die Fabrik, in der ihr Vater Direktor war, wohl aussähe.Nie durften sie ihn dort besuchen.
Sie wusste nur das hier dreimal mam Tag große, rumpelnde Güterzüge ankamen und wieder abfuhren.
Es hörte sich manchmal an wie eine große Herde Vieh, manchmal wie die murmelnde Menge im Theater, in das sie neulich zum ersten mal in ihrem Leben mitgehen durfte, kurz bevor sich der Vorhang gehoben hatte und den Blick auf das Wunder freigab.

Die Schornsteinspitzen konnte sie immer sehen, denn sie waren eckig und hoch und stießen meistens einen übelriechenden fettigen Qualm aus.
Wenn der Rauch in Richtung ihres Gartens wehte, mußten Annegret und ihre Schwester immer sofort ins Haus.
Viele nette Onkel waren Abends zu Besuch, und Onkel Hermann mit seinem dicken Bauch war schon dreimal dagewesen.
Wenn Onkel Josef kam, hatte er manchmal seine Kinder dabei und sie konnten dann so richtig im Garten toben und Räuber und Gendarm spielen.
Übermorgen schon sollte Onkel Josef wieder einmal kommen, aber ohne Kinder, und Papa schien sich diesmal gar nicht zu freuen über diesen Besuch.

„Irgentwann fliegt uns allen diese Scheiße um die Ohren“ hatte Vater beim Frühstück gerufen und Mutter hatte zu weinen begonnen.
„Ich steh für alles ein.Ich bin kein Feigling und stehe zu meiner Pflicht.“
Dann war er wie jeden Morgen ins Kontor gegangen, nicht ohne zuvor jedem der Mädchen über die blonden Haare gestreichelt zu haben, mit der Ermahnung“..und dass mir keine Klagen kommen.“

Fünf Monate später, kurz nach Annegrets sechsten Geburtstag kam ein großes Auto, welches die Mutter, sie, ihre Schwester und das Kindermädchen nebst umfangreichem Gepäck nach Westen zur Tante fahren sollte.
Papa musste hierbleiben, aber er sagte, er käme bald nach.
Er stand winkend am Tor über dem etwas geschrieben stand.
Annegret sah ihn da zum letzten Mal.
„Mama, was steht denn da über dem großen Tor ?“ fragte Annegret.
„Arbeit macht frei“ sagte die Mutter mit tonloser Stimme und drückte Annegret fest an sich.

Die Freunde waren gegangen, der Kopf war rotweinschwer und der kalt werdende Rauch im Zimmer verdichtete sich mit dem Knacken der Flammen im Kamin zu einer Kakophonie aus Erinnerung und Schmerz.
Sie breitete die Arme aus, um den heraufziehenden Schlummer wie einen alten Freund in die Arme zu schließen.

Das Foto steht noch immer hinter der Lücke im Regal und wartet geduldig darauf, alte Wunden wieder aufzureißen.

28.04.2002 AP (gewidmet:Annegret K.)

[ 22.05.2002, 01:03: Beitrag editiert von: Lord Arion ]

 

Hi Brüderchen :) ,

mit dieser Geschichte hast du mich mehr als nur beeindruckt.
Sie ist sehr feinfühlig, fast zärtlich geschrieben und stellt damit einen wuchtigen Kontrast zu diesem dahinter stehenden bitteren Thema dar. Die Gratwanderung zwischen diesen beiden Themen ist dir gelungen.
Deine Geschichte geht unter die Haut.

Bitte versuche noch die teilweise störenden Grammatikfehler zu beseitigen.

dein Schwesterchen ;)

[ 29.04.2002, 01:43: Beitrag editiert von: lakita ]

 

Hi Lord,

wunderschön erzählte Geschichte! Da muß ich lakita vollkomemn zustimmen! Könnte glatt nach einer wahren Begebenheit sein (ist es vielleicht auch? Du hast eine Widmung drunter geschrieben... hm... *rätselt* :susp: )...

Wie auch immer, auf jeden Fall lesenswert! :thumbsup:

Gruß,
stephy

 

Der Lord hat unter einer anderen Geschichte gepostet, dass es dieses Foto wirklich gibt.

Äh, Lord, geht zu sehr unter die Haut, als das ich jetzt auf die Schnelle was dazu sagen könnte. Entschuldige. Ob sie mir gefallen hat? Schon, wenn auch auf die Art, wie das Tagebuch der Anne Frank "gefällt". Worte wie schön, spannend, etc. können hier nur falsch sein. Deshalb... vielleicht fällt mir später noch was ein.

 

Hi Lord!

Dachte, ich schau mich hier mal ein bißchen um und bin über deine Geschichte gestolpert...

Kann mich meinen "Vorschreibern" nur anschließen... ich bin beeindruckt... nein, vielleicht das falsche Wort. Deine Geschichte hat einen bleibenden Eindruck hinter lassen. Irgendwie so ein Gefühl... unbedingt weiter darüber nachdenken zu müssen, die Geschichte immer wieder und wieder lesen zu müssen, um auch wirklich alles zu erkennen, was in ihr steckt.

Ich finde auch, dass es dir wirklich gelungen ist, die schwierige Thematik so in Worte zu fassen, dass man sich ihr einfach nicht entziehen kann...

Sprachlich gefällt mir der Stil auch sehr gut, er passt, nur manchmal wird man beinahe von den Kommata erschlagen.

Nichts desto trotz ganze vorne mit dabei, von dem, was ich bisher hier gelesen habe...

wolkenschubser

 

Hallo ihr lieben..nur soviel sei gesagt..das Foto gibt es genauso wie es Annegret, eine der Töchter von Rudolf Höss, dem Lagerkommandanten von Auschwitz gibt, und ich sie kennenlernte als Mutter einer meiner großen vergangenen Lieben...

@ Schwesterchen...vielleicht schickst Du mir privat die gröbsten Fehler, ich editiers dann sofort ..ja ?

Lord

[ 29.04.2002, 12:52: Beitrag editiert von: Lord Arion ]

 

Hallo Arvid!

Eine tiefgehende Story. Die Idee ist gut und deren Umsetzung, von einem alltäglichen Foto ausgehend, eine so große Tragweite zu erreichen, ist beeindruckend. Auch die unheimliche Belastung, die das Wissen über die Vergangenheit des Vaters für die Protagonistin darstellt, erreicht den Leser.

Einige Fehler, die stören:

Das leise klicken
Klicken groß.

untermalt von hölzern rumpelndem trappeln
untermalt vom hölzern rumpelnden Trappeln
Wobei mir hier die Verbindung von "rumpeln" und "Trappeln" nicht sehr gefällt. Wenn jemand trappelt, bewegt er sich zwar mit hörbaren Schritten, aber es beinhaltet auch, dass es sich um kleine, schnell aufeinanderfolgende Schritte handelt und ich kann es dabei irgendwie nicht rumpeln hören. Subjektiver Eindruck, vor allem da später im Text die Güterzüge rumpeln.

vier stück an der Zahl, welche,bald wieder ihrer Bestimmung folgend, zu rauchen beginnen werden.
vier Stück an der Zahl, die ihrer Bestimmung folgend bald wieder zu rauchen beginnen werden.
"welche" ist als Relativpronomen natürlich grammatikalisch völlig richtig; für mich hört es sich nur unschön an, holprig.

Sie liebt das Kindermädchen darauf, genauso wie ihre Schwester die jetzt schon seit langem in den Staaten lebt, und nur selten zu Besuch kommt, seit ihre Mutter von ihnen gegangen ist.
Alle Kommas weg, aber: ihre Schwester, die...
Es kommt noch häufiger im Text vor, dass Du bei Relativsätzen das Komma vergessen hast. Ich nenn jetzt nur dieses eine Beispiel.
Ebenfalls ist es Dir öfter passiert, dass Du vor "und" ein Komma gesetzt hast. Das ist nur ok bei gleichrangigen, selbständigen Sätzen und auch in diesen Fällen nach der neuen Rechtschreibung nicht mehr nötig.
Zwei Ergänzungen mit "seit" ist zuviel, vielleicht: ..., die jetzt schon lange in den Staaten lebt...

hinter die zwei Bücherstapel..sichtbar
Wenn Du Punkte als Einfügungen verwendest, immer drei, nicht zwei und nicht vier ;)

obwohl sie sich immer wieder sagte"Du kannst doch nichts dafür
Doppelpunkt vergessen.

Dann gab sie klein-Annegret
Klein-Annegret

Sie wusste nur das
...wusste nur, dass...

„Irgentwann fliegt uns
Irgendwann...

kurz nach Annegrets sechsten Geburtstag
...sechstem Geburtstag

Beeindruckendes Ende, wahnsinnig einprägende und unter die Haut gehende Bilder!

Alles Liebe,
Sylvia.

 

Liebe Sylvia.
...danke für die Anregungen, ich habe sie gerade umgesetzt und hoffe, dass ich nichts übersehen habe.

Arvid/Lord

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Arvid,

das Grauen bleibt unausgesprochen, liegt aber beständig in der Luft. In der Rückschau auf die in jenem Foto aufbewahrte Erinnerung ist das gar ganz wörtlich zu nehmen. Sobald sich der Wind wieder dreht und der Rauch aus den Schornsteinen in den Garten hinter der Mauer gelangt müssen die Kinder wieder in das Haus zurück. Und was meinte Vater neulich nur mit seinem Ausruf beim Frühstück, dass ihnen allen bald "diese Scheiße um die Ohren fliegen wird"?

Geschichten wie diese lässt uns die Zeit, die sich Jahr für Jahr immer weiter in die Vergangenheit verliert, wieder lebendig und nah werden. Und sie spannt zugleich einen weiten Bogen in unsere Gegenwart, stellt damit einen Bezug zu dieser her.

Was ich mir noch gewünscht hätte, wäre eine etwas nähere Beschreibung dieses Gartens und des Hauses gewesen. Die Geschichte bietet zwar schon ein paar wenige beschreibende Merkmale, die jene Zerrissenheit der Welt zwischen KZ und dem (vermeintlich) heilen Wohnhaus und Garten des Lagerkommandanten und seiner Familie / Verwandschaft andeuten; etwa die Apfelbäume, die Blumen und die hin und wieder fröhlich spielenden Kinder. All das deutet der Text jeweils aber immer nur ganz kurz und für mein Empfinden nur so "im Vorübergehen" an. Irgendwie ein wenig zu hastig das ganze. Ich finde, eine höhere Erzähldichte wäre sicher eine Bereicherung für diese Geschichte. Gerade, weil das Ganze so unbegreiflich erscheint.


lieben gruß
philo

 

Hi Philo.
Danke für die Anregung.Ich denke darüber nach, habe übrigens heute die Illustration zu der Geschichte gemacht(zu 89%fertig)
Es ist für mich eine meiner wichtigsten, da ich das Foto, die Tochter von R. Höß und die Enkelin kenne.
Es lässt mich nicht mehr los, seit damals... als ich es per Zufall entdeckte....danke.
Lord

 

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