- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Erinnerungsbilder
Unsere Wege kreuzten sich entlang des Main, dort wo der Fluss eine seiner wahrscheinlich größten Städte durchquert; eine von vielen in denen ich eine zeitlang verbrachte. Wir trafen uns an einen südlich der Stadtgrenze anliegenden Waldteil, meistens spät Nachmittags, um gemeinsam spazieren zu gehen. Gesprochen wurde währenddessen niemals besonders viel und wenn doch, dann nur in kurzgefasster Sprache. Die wenigen Sätze, die wir untereinander austauschten, waren knapp und bündig, so als ob wir beide entschlossen auf ein Ziel hinzusteuerten und nur wenig Zeit für Ausschweifungen zur Verfügung hätten. Aber wir hatten kein bestimmtes Ziel, es bestünde auch sonst kein Ziel, das ist mir heute klar, und schwiegen dennoch. Ich erinnere mich an dieses Schweigen. Es war geradezu erlösend, weil es keine unangenehme, geschweige denn peinliche, sondern vielmehr eine behagliche, auf gegenseitigem Einvernehmen beruhende Stille verursachte. Der eine war die stille, unverzichtbare Begleitung des anderen. Ohne sie wäre ich vermutlich nicht spazieren gegangen; sie wahrscheinlich nicht ohne mich. Mit Gewissheit kann ich das aber nicht behaupten, denn wir redeten nicht viel.
Auch keine Gewissheit in mir herrscht mittlerweile über die Eigenartigkeit unseres Spazierengehens, dessen immanentes Schweigen unserer Beziehung nicht insgesamt innewohnte. Nur an manchen Tagen, wenn wir uns ausnahmsweise bereits in der Innenstadt trafen, um mit der Straßenbahn zum südlichen Stadtrand zu gelangen, wurde während der Fahrt, vermutlich in Vorbereitung auf unsere sonderbaren Gewohnheit, ebenfalls nicht gesprochen. Wir starrten, meistens stehend und uns gegenseitig an die Brust stützend, über die Schulter des jeweils anderen auf die vorbeiziehenden Gebäude, deren Inneres die nachmoderne Ordnung eines hochfluktuierenden, erbarmungslosen und anonymen Erwerbslebens beherbergte und welche durch das dicke Glas des Wagongabteils unsere eigene unsichere Lage wiederspiegelten. Aber eine Mischung aus vornehmer Hoffnung und Distinguiertheit im Sinne von “Mit uns wird alles anders!” trug uns weiter; immer weiter in das tiefe Nest der Naivität. Βlind und lauter Ehrgeiz kannten wir keine persönlichen Grenzen.
Wir waren relativ jung, arbeiteten geradezu pausenlos und hatten bereits einige Berufserfahrung errungen können. Sie, eine Betriebswirtschaftlerin aus dem mittleren Osten, schlank, klein, dunkelfarbig, mit langen dunklen Haar, welches seine Länge nie in der Öffentlichkeit verriet, da stets zu einem praktischen Zopf zusammengebunden und in Kombination mit ihren einfarbigen Anzügen zu einer gepflegten Gesamterscheinung beitrug, schleppte sich von Büro zu Büro und von der einen Befristung zur nächsten. Ich, hauptsächlich Informatiker der in Eigenhand agierte, ein Nordeuropäer, war bemüht laufend Aufträge zu bekommen, um nicht in den Leerlauf wechseln zu müssen. Da dies aber nicht immer funktionierte, arbeitete ich nebenbei als Leihkraft in verschiedenen Installationstechnik-Projekten. Überfordert und ständig auf der Hut nach neuen Arbeitschancen, war unsere Freizeit sehr knapp und beschränkte sich größtenteils darin, des öfteren gemeinsam Spazieren zu gehen. Viel mehr ließen Überstunden und überlaufene Wochenende nicht zu.
An manchen Wochenenden, jedoch, falls es die laufenden Arbeitsprojekte zuließen, welche strikt nach Terminvereinbarung liefen und bei entstehenden Zeitdruck mit nach Hause genommen werden mussten, verabredeten wir uns, um schnell eine Kleinigkeit essen zu gehen oder in meiner kleinen aber immerhin etwas komfortableren Wohnung als ihre einen Film abspielen zu lassen. Der Film lief und wir glichen gegenseitig in einem rasenden, hin und wieder frenetisch ausartenden Gespräch, unser Wissen über die Neuigkeiten des Arbeitsmarktes ab, oder erzählten uns die alltäglich stattfindeden Geschichten des Auf- und Abstiegs unserer Kollegen und natürlich unsere eigenen. Gelegentlich erkundigte man sich auch über die Gesundheit oder das allgemeine Wohlergehen der weitentfernt lebenden Eltern und Geschwister.
Eine Karriere erwünscht, wurde vieles für den Aufstieg geopfert. Nun ja, oft war in erster Linie von Karriere gar nicht die Rede, sondern vielmehr vom Überleben, davon über die Runden zu kommen und genügend zu verdienen, um diesen Alptraum von Rattenrennen verschwitzt weiter träumen zu können. Nicht nur in dieser einen Stadt, sondern in vielen weiteren verheißungsvollen Zentren des Erfolgs, die wegen mehrmaligen Jobwechsel folgten, passte man sich den Erfordernissen der Flexibilität - so wurde die damals neujustierte Ausbeutung gepriesen - an. Verschiedene Aufträge, von verschiedenen Arbeitgeber, oft parallel angenommen, folgten hintereinander. Aber für welchen Preis? Was gewannen wir und was ging verloren?
Vielleicht war unsere Freundschaft, unsere zuträgliche Kameradschaft, die von gegenseitigem Nutzen geprägt, das einzige was wir wirklich hatten; das einzige was wir in einer sonst so fremden, so lauten und kurzgetakteten Stadt nicht verlieren wollten. Vielleicht ergab sich unser gegenseitiges Einvernehmen aus genau diesen stillen Kompromiss; aus der Angst vor Einsamkeit. Aber es war eine trivial gewordene, gewöhnliche, mittelmäßige, alltägliche Jedermansangst, welche nur allzu spät, nur allzu schwach in Furcht flüchtig überging, um uns von unseren anhaltenden Arbeitsdelirium rauszureißen. Dieselbe Angst hielt uns von einem erfüllten Leben fern und dörrte unser Innerstes langsam aus, gerade noch genügend Lebenssäfte übrig lassend, um uns wie bisher, stumpf und für jeden Auftraggeber zu haben, fortfahren und auf den lauernden Erfolg weiterhin hoffen zu lassen. Denn unsere Leben waren, von meinem heutigen Standpunkt aus betrachtet, alles andere als erfüllt. Sie waren zwar voll, voll von kurzfristigen Aufträgen, Schulungen und Arbeitgebern in fast ganz Europa, aber nicht erfüllt. Ziellos und ohne weiterführenden Zweck zirkulierten wir um immer denselben Punkt. Frei waren wir und unsere Taten ohne Nachhalt und ohne echte Bindung.
Jedenfalls erinnere ich mich hin und wieder auch an unseren, während des Spazierengehens, mageren, unvermittelt stattfindenden, ohne auf einen scheinbar konkreten Reiz der mittelbaren Umwelt beziehenden Gespräche. Es schien vielmehr so, als ob diese ein aus dem tiefsten Wald getragenes, abgeschwächtes, dem baldigen Auslöschen verurteiltes Echo wären, welches unter der hohen und dichten Bäumedecke im Geheimen Gelegenheit sich kurz auszubreiten fand; insgeheim Raum erhaschte, um der Angst, dieser konservierenden Angst, die im Dämmerlicht des Waldes und des späten Nachmittags zur scheuen Furcht wurde, kleinmutig entgegenzuprellen. Vermutlich von dieser heimlich drohenden, matten Angst des Alleinseins, der psychischen Isolation, aber auch der sozialen Verlassenheit heraus, fragte sie einmal: - «Gibst du mir ein Foto von dir?» - «Wieso?», erwiderte ich. - «Kommt ins Fotoheft der besonderen Menschen in meinem Leben!» - «Deine Freunde?» - «Möchte mich später einmal an sie erinnern können.» - «An sie erinnern?» - «Ja!» - «Aber ein Bild würde doch deine Erinnerung nur einengen.» - «Im Volksmund wird behauptet, dass ein Bild tausend Wörter ist.» - «Eine einzige Erinnerung aber tausend Bilder.» - «Tja, das mag wohl so sein...»
Das war eines der letzten Gespräche, die wir während unseren routinierten Spaziergängen geführt haben. Kurz daraufhin wechselte sie den Job und mit ihm die Stadt, vielleicht sogar das Land. Etwas später passierte Ähnliches mit mir. Unsere Spaziergänge hörten auf; unsere Freundschaft erlosch. Nicht das wir uns ihr Ende gewünscht hätten, zumindest kann ich das für mein Teil behaupten, aber dies war die Kehrseite unseres Kompromisses. Seine gute Seite, die, die voll stummen Verständnisses und Bekömmlichkeit gewesen ist, galt nur für die dortigen Gegebenheiten.
Seitdem vergingen viele Jahre. Viele stille Jahre, in denen wir uns weder gesehen noch telefoniert oder geschrieben haben. Stiller, als uns damals unser gesättigter nonverbaler Austausch ab und zu auseinandertrieb. Man traf sich einige Tage später an üblicher Stelle wieder. Und trotzdem, die Häufigkeit, ja, die Vertrautheit unseres Tuns verlangte nicht mal eine herzliche Begrüßung. Wir trafen uns und gingen los, indem viele aufeinanderfolgende Schweigeminuten einen langsamen Gangrhythmus diktierten. Es war ein Ritual. Ein Ritual des hauptsächlichen Schweigens und des Gehens. Ein Spaziergang-Ritus eben mit mehr oder minder festen Abläufen.
Festigkeit, Zusammenhang, ein gewisses Maß an Sicherheit und Stabilität fehlten in unseren schnellen Leben, welche, wenn auch nur bedingt und ohne Nachhalt, während unseren Spaziergängen damit konfrontiert wurden. Ja, in dieser geschlossenen und nur für uns beide zugänglichen Parallelwelt dürften wir uns fürchten, konnten die Entgleisung erahnen, fanden aber auch Zuflucht und fühlten uns in kindlicher Zuneigung zurück hineinversetzt, indem wir uns insgeheim an die prägenden Jahre der Erziehung erinnerten, deren Qualitäten und Auswirkungen auf unseren Charakter uns in diesem einsamen und von zu Hause weitentfernten Ort wirklich bewusst und deren Prinzipien in einer vieles und doch nichts versprechende Welt auf die Probe gestellt wurden.
Wussten wir es damals? War uns eigentlich klar was mit uns passierte; was in uns wirklich vorging? Nein, nicht die gewöhnliche, tagtägliche Auseinandersetzung mit unserem hermetisch abgekapselten Arbeitsuniversum, sondern deren Auswirkung auf unser Innerstes und Äußerstes, die innere Leere, das Luftvakuum unserer Kapseln, die in Dunkelheit dahinschwebten, war uns das bewusst? An schlechten, appetitslosen Tagen stellten wir manchmal, über die von uns weggeschobenen, noch vollen Teller der Schnellrestauraunts, in welchen wir uns gelegentlich trafen, schon fast mechanisch und ungewollt Vermutungen darüber, wie unsere Leben mal später aussehen werden. Sarkastisch wurden sie dann, wenn wir uns wieder einfingen, mal überoptimistisch, mal überpessimistisch und mit einem ausweichenden Grinsen, überspielt.
* * *
Die damalige Zeit kommt mir teils weit zurückliegend, teils wie vor kurzem erlebt vor. Wenn sich das Wesen dieser jungen Frau und unser gemeinsames Gehen hochauflösend vor meinen Augen abzeichnen, erscheinen mir die seitdem vergangenen Jahre als wenige Tage. Denn je stärker meine Vorstellungskraft ist, desto bewusster, klarer und somit näher ist mir meine Vergangenheit. Ich kann sie mir als Einheit denken. Als eine Einheit, die mit dem Alter immer mehr in ursprüngliche Einzelteile zerlegt und zu einem blassen Schimmer wird. Zu etwas, das eines Gehstocks bedarf, um auf die Sprünge zu kommen. Eines alten Bildes vielleicht gut bewahrt in einem Fotoheft. Ein Bild von mir habe ich ihr jedenfalls nicht gegeben; und ich besitze keins von ihr.
Wie sehr ich mir heute ein Bild von ihr wünsche. Wie erfreut ich bei dessen Anblick mir sagen würde: «In meinem Leben gab es eine Zeit, wenn auch nur eine kurze, in der ich dem Ideal meiner Kindheit und meiner Erziehung ein kleines Stück näher kam; ein winziges Stück Bindung für mich erlangen konnte.» Doch ohne einen handfesten Beweis ist dieser Gedanke, so wie jeder andere, ein Gespenst, das in meinem Kopf herumfliegt und nicht einzufangen ist. So wie ein Teil des Selbst nicht mehr einzufangen ist, ohne an die Orte zurückzukehren an denen man es hinterlassen hat. Eine Entdeckungsreise, deren Zug längst abgefahren ist und ein “Fotoheft”, dessen Umschlagblätter es nicht mehr gibt.
Den größten Teil des Selbst, allerdings, schleppt man mit sich mit, egal wohin man geht. Egal wie gesichtslos, wie verschwommen und unklar ein Lebenslauf auch sein kann, stets schleppt man es mit sich mit und versucht seine Einzelaspekte zu vereinen, sie halbwegs logisch zusammenzuführen, sie in einen historischen Rahmen zu integrieren und für die eigene Person plausibel zu erklären. Das macht die Angst schließlich mit einem. Die ewige Angst; wuchert in mir bis heute. Obwohl mein gesamtes Leben, mein letztendlich einsames Leben, denn eine eigene Familie habe ich nie gründen können, einen ständigen auf und ab, einen unzusammenhängenden und schließlich unergiebigen hin und her freigesetzt war, hänge ich dran. Trotz aller vereitelten Versuche irgendwie Erfolg, Glück, ja, Sinn für es zu erlangen, schaudert es in mir auch nur in der entferntesten Vorstellung, noch vor meinem Tod die Fähigkeit, meine Kraft es zu denken, zu verlieren.