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Erinnerungen
Thomas wacht in seinem Bett auf. Er vergräbt sein Gesicht im Kissen, schließt seine Augen und bemüht sich darum, wieder einzuschlafen, schafft das aber nicht. Es ist so, als hätte er vor dem Schlafen starken Kaffee getrunken. Schlussendlich gibt er auf, geht in die Küche und trinkt ein Glas kalter Milch. Schon seit Tagen hat er Probleme mit dem Einschlafen. Immer wieder nämlich kehren diese Erinnerungen zurück. Er kann sich ihnen nicht entziehen. Ständig wiederholen sich diese Gedanken.
Er holte einmal Sophie von der Arbeit ab.
„Willst du mich heiraten?“, fragte Sophie, als Thomas sie zu ihrem Studentenwohnheim fuhr.
Beide waren allein im Auto.
„Hm“, entgegnete Thomas, während er auf die Straße guckte. Dieses Viertel der Stadt war sehr schön mit seinen großen Gebäuden aus Stein an den beiden Straßenseiten. Es wirkte ziemlich mittelalterlich hier.
„Was soll das jetzt bedeuten?“, fragte Sophie.
„Wir kennen uns doch erst seit sechs Monaten. Findest du es nicht komisch, jetzt schon zu heiraten?“
Sie hielten vor einer roten Ampel an.
„Ich weiß nicht“, antwortete Sophie. Dann war sie still.
Draußen war es schon dunkel. Es war einer dieser Tage am Anfang vom Frühling, wo es früh am Morgen und nachts eiskalt war, mittags aber brütend heiß.
Sophie hatte eine hellrosa Jacke und einen Schal mit Wellenmuster an. Außerdem hielt sie mit beiden Händen eine blaue Handtasche fest. Sie hatte hübsche, buschige Augenbrauen, die ihr intelligente Züge gaben. Betont wurde dies durch ihre schwarzen Haare, die ihrem hellen Gesicht eine Art Rahmen verliehen. Mit zweiundzwanzig war sie noch relativ jung. Vielleicht doch eher zu jung, um zu heiraten. Thomas war ungefähr in ihrem Alter. Er trug eine schwarze Jacke und dicke, schwarze Stiefel.
Die Ampel schaltete auf gelb um und dann auf grün.
Später war er mit Sophie in ihrem kleinen Zimmer einer Studenten-WG. Hier gab es kein Sofa, weswegen Thomas im Bett lag, während auf Sophies Laptop ein Film lief. Sophie schaltete den Wasserkocher in einer Ecke des Zimmers an. Dann kramte sie in ihrer Handtasche. Anfangs noch relativ ruhig, suchte sie immer schneller ihre Tasche mit den Händen ab. Gelegentlich stoppte sie, presste ihre Augenlider zusammen und atmete lautstark durch die Nase aus, so wie ein Stier, vor dem man ein rotes Tuch wedelt.
Sophies Verhalten bannte die Aufmerksamkeit von Thomas stärker als der Film, weswegen er den Laptop vergaß und Sophie bei ihrem Treiben beobachtete.
Schlussendlich lächelte Sophie, als sie eine kleine, steril weiße Schachtel voller Tabletten in der rechten Hand hielt.
Dar Wasserkocher machte ein Klickgeräusch. Sophie nahm das heiße Wasser und schüttete es in einen Becher, in den sie dann einen Teebeutel tat. Zu dem warmen Getränk nahm sie eine Pille ein.
„Sophie, was ist das?“, fragte Thomas.
„Früchtetee.“
„Nein, die Pillen.“
„Migränetabletten“, antwortete sie. „Hast du noch nie gesehen, wie ich die nehme?“
„Nein, noch nie. Du hast jetzt Migräne?“
„Ich habe gerade das Gefühl, dass ich sie bald kriege, wenn ich die Tabletten nicht jetzt nehme.“
„Ach so.“
„Willst du auch Tee? Ich habe noch heißes Wasser.“
„Nein danke.“
„Gefällt dir der Film?“
„Naja, er ist langweilig“, antwortete Thomas. Um ehrlich zu sein, hatte er nicht einmal darauf geachtet, worum es in dem Film ging. Das sagte er ihr aber nicht. Er wollte nämlich nicht, dass sich Sophie zusammenreimte, dass er sie die ganze Zeit beobachtet hatte.
Sie antwortete nicht, sondern ging zum Laptop und stoppte den Film. Dann ging sie aufs Klo.
Ein paar Wochen später war Thomas in einem japanischen Restaurant. Er aß Ramen und trank dazu Bubble Tea. Sonnenlicht hüllte die Stadt an dem Tag in einen warmen Schein ein, der den Ort besonders romantisch wirken ließ. Thomas dachte unweigerlich an Paris, auch wenn er noch nie in Paris war.
Etwa drei Tische entfernt von ihm saß eine Kundin in blauer Bluse mit Blumenmuster. Die Frau fiel im zwar nicht besonders ins Auge, beim Essen starrte er aber vertieft das Blumenmuster an. Nachdem die Besitzerin der Bluse fertiggegessen hatte, stand sie auf und ging auf Thomas zu.
Sie grüßte ihn: „Hallo, ich bin Magdalena.“ Ihre Stimme war ziemlich hoch, aber auch leise.
„Hallo“, sagte Thomas. Mit schief stehendem Kopf guckte er sie an.
Magdalena lachte auf. Sie gehörte zu den Leuten, die beim Lachen mit eigenartigem Kehlkopfton einatmeten. Sie setzte sich dann zu ihm. Ihre Unterlippe zitterte dabei und ihre Augen waren geweitet.
Sie erklärte: „Hör zu, ich habe keine Lust auf so ein Herumgerede. Wenn du dich mal mit mir treffen willst, hast du hier meine Nummer.“
Dann überreichte sie ihm einen Zettel und ging. Thomas steckte ihn sich achtlos in die Hosentasche. Magdalena schien zwar nett, war aber keine schöne Frau. Ihre Haut war ungesund gelblich und ihr eigenartiges Lachen machte auch noch ihr letztes bisschen Attraktivität unbrauchbar.
Als Sophie für längere Zeit ins Krankenhaus eingewiesen wurde, besuchte Thomas sie anfangs noch gerne, auch wenn der Ort voller alter Leute war und nach Desinfektionsmittel stank.
„Hallo Sophie, wie geht es dir heute?“, fragte er sie einmal und winkte ihr zu.
Sophie saß aufrecht im Krankenbett. Sie teilte sich ein Zimmer mit zwei alten Damen.
„Eh!“, sagte Sophie hoffnungsvoll lächelnd und winkend.
Thomas musste sie ständig besuchen und sich immer mit ihr unterhalten, damit sie möglichst schnell das Sprechen wiedererlernen konnte.
Häufig verstand sie nicht, was Thomas ihr mitteilen wollte. Dann schloss sie ihre Augen und atmete ruhig. Anfangs hatte sie dann noch geweint.
Als das erste Mal Tränen Sophies Augen verließen, fragte eine der älteren Damen, was mit dem Mädchen denn passiert sei.
„Sie hatte einen Schlaganfall“, antwortete Thomas.
Die alte Dame versuchte dann, Sophie aufzuheitern: „Ach, sein sie doch nicht traurig wegen so etwas! Ich hatte schon drei Schlaganfälle und mir geht es prächtig.“
Sophie verstand nicht, was die alte Frau sagte. Sie erkannte aber die Absicht der alten Dame und nickte ihrer neuen Freundin deswegen zu, nachdem sie sich beruhigt hatte.
Thomas traf Magdalena in einem Park. Der Ort war lichtdurchflutet und gepickt mit bunten Blumen. Es roch schön nach Grass und Frühling. Er wartete unter einem blühenden Apfelbaum, als sie eintraf.
Sie bemühte sich darum, Thomas tough anzugucken.
Magdalena begann das Gespräch: „Hallo. Ähm, wie heißt du denn nochmal?“
„Thomas. Wie heißt du nochmal?“
„Magdalena. Warum hast du erst so spät angerufen.“
„Ich hatte in letzter Zeit viel Stress.“
„Stress? Wieso?“
Bei dieser Frage brach alles aus ihm raus: "Meine Freundin kann nach einem Schlaganfall gar nicht mehr reden. Niemand besucht sie. Niemand. Sie ist total abhängig von mir und ich hasse das. Ich verabscheue es. Im Krankenhaus stinkt es überall nach Medizin." Dann begann er zu weinen. "Und all die Leute fragen mich, was sie essen will. Ich bin doch nicht sie. Sie ist sie."
Sie riet ihm, nicht den Mut zu verlieren, und schrieb ihm dann nie wieder.
Thomas blickt aus dem Fenster. Es herrscht endlose Stille und niemand ist draußen. Nur ein Hund streunt herum. Er darf Sophie nicht mehr ignorieren. Es ist schon die zweite Woche vergangen, seitdem er sie das letzte Mal besuchte. Als er sich das vergegenwärtigt, fühlt es sich so an, als würden Gewichte seine Brust drücken. Bei dem Gedanken, sie im Bett liegen sehen zu müssen, zittert er. Aber er darf nicht ihr Herz brechen. Sie ist die erste Frau in seinem Leben, die ihn jemals heiraten wollte.