Erinnerungen
"Müller" steht da nun an der Klingel. "Müller" steht da nun auch am Briefkasten. An einer Klingel, an der jahrelang unser Name stand. An einem Briefkasten, in den jahrelang Post mit unserem Namen darauf geworfen wurde. Die Klingel, die jahrelang unseren Namen schrie, wenn sie gedrückt wurde, diese Klingel schreit nun "Müller".
Öffnete ich jetzt die Haustür, ginge ich nicht in unser Haus, sondern in das Haus der Müllers.
Hinter jedem Fenster hängen jetzt neue, rote Vorhänge. Hinter einigen Fenstern sieht man Blumen. Das Haus sieht von außen eigentlich noch genauso aus, wie vorher. Trotzdem kommt es mir ganz anders vor.
Die Einfahrt vor dem Haus ist noch die selbe, wie die, auf der wir immer unsere Autos geparkt haben. Jetzt stehen da andere Autos. Fremde Autos. Müllers Autos. Auch der Garten sieht anders aus. Wir mochten den Rasen.
Wir können nun nicht mehr in das Haus hinein. Aber unsere Erinnerungen werden noch eine lange Zeit hier wohnen. Erinnerungen kann man nämlich nicht einfach nach draußen kehren oder durch neue, rote ersetzen. Genauso wie unser Lachen, unser Weinen, unsere Träume und Wünsche. Denn die bleiben in den Mauern und Balken, solange das Haus steht. Immerhin war es einmal ein Teil davon. Ein Teil eines Traumes und ein Schritt zur Erfüllung eines Wunsches. Nun ist es ebenso ein Schritt für die Müllers. Und auch ihre Träume, Wünsche, ihre Tränen und ihr Lachen werden sich in den Mauern und Balken neben unseren einnisten. Und irgendwann wird das ganze Haus aus ihnen bestehen.
Tausend verschiedene Träume.
Tausend Wünsche.
Abertausende Tränen.
Endloses Gelächter.
Von Männern, Frauen, Kindern, Alt und Jung.
Und genau das ist der Grund, weshalb die Balken in alten Häusern manchmal knarren.
Sie sind vollgestopft mit Erinnerungen, Erfahrungen, Träumen, Wünschen - bis zum Rand.