Mitglied
- Beitritt
- 01.09.2003
- Beiträge
- 23
Erinnerungen
Nachdenklich betrachtete er das Bild. Er schritt einen Meter rückwärts und blieb stehen. In seiner linken Hand die Farbpalette, in der rechten einen Pinsel mit Pferdehaaren, die im Moment gerade grün gefärbt waren. Der alte Mann bemerkte nicht, dass ihm das Grün auf seinen Arbeitskittel zu tropfen drohte. Er betrachtete das Bild. Das hügelige Gelände, im Vordergrund ein Bauernhaus mit Geranien vor den Fenstern und einem kleinen Gärtchen mit Gemüse und Sonnenblumen. Ja, eine ganze Reihe Sonnenblumen waren zu sehen. Leuchtend hoben sie sich vom gesamten Bild ab. Der alte Mann kratzte sich mit dem Pinselstiel am Kopf, runzelte die Stirn. Grüne Farbe tropfte auf seine weissen Haare. Die Sonne schien schräg in das kleine Atelier hinein. So konnte man wunderbar die schmutzigen Fensterscheiben sehen. Aber das war dem Maler im Moment egal. Es fehlte irgendetwas an seinem Bild. Nur was? Vielleicht war es der Kontrast zu den Sonnenblumen, der ihn störte. Er ging zum Spülbecken um seinen Pinsel auszuwaschen. Was fehlte seinem Bild bloss? Er betrachtete es von neuem. Die verschiedenen Farbtöne des saftigen Grases waren ihm jedenfalls gelungen. Auch an den Sonnenblumen hatte er nichts auszusetzen. Das Bauernhaus sah ebenfalls realistisch aus. Es musste der Himmel sein, der ihn störte. Ja klar, der Himmel! Der wolkenlose Himmel wirkte ziemlich fad. Er setzte sich die kleine Brille auf der Nase zurecht und tunkte den Pinsel in ein weiss-grau. Er malte Wölkchen in das fade blau. Als er fertig damit war, betrachtete er sein Gemälde, wie er es bereits vorher getan hatte. Zufrieden war er aber immer noch nicht. Er wusch seinen Pinsel nochmals aus und mischte ein neues blau. Die Pferdehaare verteilten den neuen Blauton gleichmässig auf den Himmel. Sieht aus wie das Meer, dachte er. Ja, wie das Meer. Nein, nicht ganz! Die Weite des Meeres war noch ein wenig mehr im Türkiston versunken, so wie er es in Erinnerung hatte. Wie lange mochte das her sein, seit er das letzte Mal das Meer gesehen hatte, das Salz geschmeckt und den Wind in seinen Haaren hatte? Er überlegte. Mindestens vierzig Jahre. Damals war er mit Cédric unterwegs gewesen. Cédric... Wie es dir wohl jetzt geht?
„Hi!“
„Hallo.“
Wir grinsten uns verlegen an. Beide kamen aus ihren Schlafzimmern, nur mit Shorts bekleidet.
„Wie geht’s dir?“, fragte ich und musste ein Gähnen unterdrücken. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Wir hatten gestern beide ziemlich viel getrunken und bis jetzt geschlafen.
„Gut, besser könnte es mir gar nicht gehen.“
„Was meinst du damit?“
„Tja..ehem.“
Er hüstelte verlegen. Das war das erste Mal, dass ich ihn verlegen gesehen hatte. Nein, das zweite Mal. Als er mich gefragt hatte, ob ich mit ihm in den Urlaub fahren würde, da war Cédric auch ein wenig verlegen gewesen. Er hatte in einem Preisausschreiben eine Reise für zwei Personen gewonnen und mich gefragt, ob ich mitkommen möchte. Und ob ich das wollte!
Mit seinem Stoppelbart und den zersausten Haaren stand er nun vor mir. Er machte noch einen Schritt auf mich zu. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut.
„Ich... ich habe mich in dich verliebt, Klaus.“
Ich nahm seine Hände in die meinen.
„Mir geht es genauso, Cédric.“, flüsterte ich.
Mein Blick versank fast im tiefen Blau seiner Augen.
Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss. Wie ungewohnt sich das anfühlte! Jetzt wusste ich, weshalb Frauen keinen Stoppelbart mochten...
Cédric zog mich an sich heran, ich spürte seine nackte Haut. Seine Lippen berührten meine. Ganz sanft. Ich strich durch seine blonden Haare. Er streichelte meinen Nacken. Was mach ich da bloss?, fragte ich mich im Stillen. Ich hatte überhaupt nichts bei Cédric zu suchen! Schliesslich war ich ja verheiratet und hatte eine Frau zu Hause...
Cédric küsste mich immer leidenschaftlicher. Plötzlich riss ich mich aus seiner Umarmung los.
„Was hast du denn?“
„Ich…wir dürfen das nicht tun!“
„Aber...“
„Cédric! Ich habe eine Frau, die auf mich wartet!“
„Liebst du sie denn?“
„Ja.“
„Wirklich?“
Schweigen.
„Ach, ich weiss doch nicht.“
„Also nein.“
„Nein, das heisst doch… ach, du hast mich vollkommen durcheinander gebracht!“
Seine königsblauen Augen setzten sich von seiner braungebrannten Haut herrlich ab und gaben ihm irgendwie einen mystischen Touch.
„Du hast mich doch auch vollkommen durcheinander gebracht, Klaus. Hast du das nicht gemerkt?“
Er senkte seinen Blick.
„Aber du allein musst entscheiden, was das Richtige für dich ist.“
„Verdammt, wenn ich das doch nur wüsste! Bis ich dich getroffen habe, da dachte ich, ich liebe meine Frau! Aber jetzt?“
Ich wandte mich von Cédric ab und schaute aus dem Fenster. Cédric folgte mir nach einigem Zögern. Plötzlich klopfte es.
„Ja?!“
Nichts rührte sich.
„Herein!“
Langsam wurde die Hoteltüre geöffnet. Eine kleingewachsene Frau mit schwarzen Haaren und dunklen Augen streckte den Kopf zur Tür herein.
„Entschuldigen sie die Störung!“
„Kein Problem“, sagten wir beide wie aus einem Munde.
„Wer von euch ist der Cédric?“
Sie liess den Blick zwischen uns beiden hin und her schweifen.
„Ich.“, sagte Cédric.
„Sie haben sich doch für den Tauchlehrgang angemeldet, nicht?“
„Yep!“
„Was hast du?“, fragte ich.
„Ja, ich will Tauchen lernen.“, antwortete er so selbstverständlich, als wäre es das alltäglichste überhaupt.
„Und weshalb hast du mir nie davon erzählt?“
„Wieso sollte ich?“
Ich schwieg.
„Du hättest mich doch nur davon abbringen wollen, stimmts?“
Ich nickte. Die Frau lächelte.
„In einer halben Stunde könnten Sie dann nach unten an die Rezeption kommen, in Ordnung?“
„Abgemacht.“
Sie trat einen Schritt zurück und schloss gerade die Tür als Cédric ihr noch ein „Danke!“ zurief.
Einen Augenblick schwiegen wir beide.
„Hey, ich hätte es dir schon noch er...“
„Wann denn? Wenn du schon Mitten im Tauchkurs gewesen wärst und ich gedacht hätte, du seist beim Squash? Dann hättest du es mir irgendwann erzählt?“
Ich schrie beinahe. Sonst hatten wir uns doch immer alles erzählt. Auch während den Arbeitszeiten im Geschäft (was uns manchmal echten Ärger vom Chef gebracht hatte- wir würden nicht für Kaffeekränzchen bezahlt werden und so). Und jetzt?
„Es tut mir leid.“, sagte Cédric leise und fing meinen Blick auf.
So konnte ich ihm nicht mehr länger böse sein.
„Aber ich halte es trotzd...“
Sachte legte er seinen Finger auf meinen Mund. Wir sahen uns minutenlang nur an. Ach Cédric...
Stundenlang drehte ich Runden und wurde immer nervöser. Dann öffnete sich endlich die Schwingtüre und zwei Typen mit weissen Kitteln traten zu mir.
„Was ist nun...“
Beide Ärzte sahen mich schweigend an.
„Es tut uns leid.“ Der ältere der beiden berührte sanft meinen Oberarm.
„Wir haben alles getan was wir konnten.“
Ich war wie gelähmt.
„Aber... aber.. nein! Cédric... Cédric? Cédric!“
Das durfte einfach nicht wahr sein! Gestern waren wir uns endlich näher gekommen und Cédric war so begeistert von seinem ersten Tauchgang mit der schwarzhaarigen Frau, dass er von nichts anderem mehr erzählt hatte als von den vielen bunten Fischen, den blauen und roten, gestreiften und getupften. Und jetzt...
Eine Schwester führte mich in ein leeres Zimmer, ich liess mich auf den Stuhl fallen. Tränen rollten mir nur so über die Wangen und tropften auf den hölzernen Tisch. Die Schwester brachte mir einen Tee. Ich nippte an der Tasse. Aber eigentlich hatte ich weder Hunger noch Durst, obwohl ich seit mehreren Stunden nichts mehr zu mir genommen hatte.
Bilder wirbelten durch meinen Kopf. Ich sah mich und Cédric im Hotelzimmer, wir küssten uns. Dann tauchte sein Kopf plötzlich ins Meer und im nächsten Augenblick war sein leichenblasses Gesicht an der Oberfläche zu sehen. Ich schluchzte. Die Schwester legte tröstend einen Arm um meine Schultern.
Was da unter Wasser genau passiert war, das konnte oder wollte mir keiner sagen... Warum habe ich ihn bloss nicht zurückgehalten? Ich wusste doch, dass Tauchen nicht ungefährlich sein konnte. Ja, da las man doch immer wieder in der Tageszeitung...
Er hatte den Pinsel immer noch in der Hand, malte aber nicht mehr. Blaue Farbtropfen zeichneten sich auf dem Parkettboden ab und bildeten eine kleine Lache. Er betrachtete das Bild zum letzten Mal. Die grell leuchtenden Sonnenblumen, das Bauernhaus mit den Geranien auf den Fensterbrettern, das Gärtchen und das hügelige Gelände mit den verschiedenen Grüntönen. Sein Blick blieb lange am Himmel hängen. Seine Augen glitzerten. Langsam bahnten sich Tränen einen Weg durch sein zerfurchtes Gesicht und mischten sich mit der blauen Farblache am Boden. Die Sonne stand mittlerweile tief über dem Horizont und verfärbte sich nach und nach in einen rotgelben Ball.
Leise öffnete sich die Tür zum Atelier. Eine zierliche Frau mit einer Kochschürze um die Hüften kam herein.
„Schatz, das Abendessen ist fertig. Kommst du?“
Hastig wischte er sich mit dem Ärmel über sein feuchtes Gesicht, drehte sich zu seiner Frau um und nickte mit einem gequälten Lächeln. Für einen kurzen Moment blickte sie ihren Mann sorgenvoll an.
„Was ist denn los, mein Schatz?“
„Nichts, nichts.“
Schnell hantierte er mit einigen Pinseln herum, um seiner Frau nicht weiter in die Augen blicken zu müssen.
„Seit du wieder mit malen begonnen hast, bist du irgendwie so verändert.“, stellte sie mit sachlichem Ton fest.
„So?“
„Ja.“
Inzwischen hatte er seine Pinsel sorgfältig geordnet und ging zum Lavabo um sich die Hände erneut zu waschen.
„Mach dir mal keine Gedanken um mich. Ich komme gleich runter.“
Sie nickte. Dann wandte sie sich von ihm ab und schlurfte in die Küche zurück.
Schnellen Schrittes folgte er dem Geruch von frisch gebackenem Apfelkuchen und liess seine Erinnerungen im Atelier zurück.