Erinnerungen der leeren Stadt
Leichter, kühler Regen prasselte auf mein Gesicht nieder, durchnässte meine Kleidung und meine Haare. Mein Körper fing unweigerlich an, langsam zu zittern und kurze Momente der Wachsamkeit unterbrachen meinen tiefen und traumlosen Schlaf. Ich wachte endlich ganz auf und meine Augenlieder fühlten sich verklebt und angeschwollen an, als ich versuchte, in dem immerzu breiter werdenden Lichtstreifen die Details meiner Umgebung zu erhaschen. Meine Kehle war trocken und rau.
Wie nach einem Alptraum, an dessen Inhalt ich mich nicht mehr genau erinnern konnte, war in meinem Inneren nur eine seltsame Unruhe zu spüren - dieses Gefühl war jedoch fast zu real, um nur erträumt worden zu sein. Auch diese Worte, welche, fast gebetartig in meinem Kopf nachhallten…. <<Bitte komm her, komm zurück… Ich bin so einsam…>>
Diese weibliche Stimme hörte sich so vertraut und so verzweifelt an. Doch wessen Stimme war es eigentlich? Nein, ich kam einfach nicht drauf…
Überhaupt: wo war ich hier gelandet? Mein Kopf schmerzte, als ich versuchte, mich aufzusetzen. Die Gliedmaßen waren schwer und kalt – so würde ich mir bestimmte eine Erkältung holen. Was war eigentlich passiert und wie bin ich hergekommen? Ich war ich – doch wer war ich denn nun eigentlich…? Alle meine Erinnerungen schienen von diesem Traum geschluckt worden zu sein. Hastig suchte ich meine Kleidung nach etwas ab, um irgendwelche Anhaltspunkte für meine Identität zu finden und – siehe da – tatsächlich: im meiner Hosentasche war ein Geldbeutel, welcher neben einigen Geldscheinen und Münzen auch einen Führerschein mit den Daten einer mir unbekannten Person enthielt. <<Alexander… Meyer…>> las ich mit gedämpfter Stimme vor – ja, es war definitiv meine Stimme oder zumindest sagte es mir das Gefühl – doch auch diese hörte sich ungewohnt – ja gar etwas fremd an. <<…Geboren am 30.12.1976…>> Was für ein scheußliches Foto, dachte ich – der Typ auf dem Bild sah mit seiner schlecht gebundener Krawatte und den auf die Seite gekämmten Haaren wie ein typischer, braver Büroangestellter aus.
<Wie spät ist es eigentlich?>> dachte ich mir – doch leider hatte ich keine Uhr dran und mein Handy wurde mir, vermutlich als ich hier meinen Mittagschlaf abhielt, auch geklaut… Oder besaß ich vielleicht weder das eine noch das andere?
Als ich mich umsah, musste ich feststellen, dass ich mitten auf dem Hauptplatz einer kleinen Stadt lag. Diese Kulisse wirkte jedoch so bedrückend und fast beängstigend, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief, als ich die Häuserfassaden und die kleinen Gassen um mich herum flüchtig betrachtete. Nun fiel es mir endlich auf: es gab hier keine Menschen. Der Tageszeit nach war es sicher noch nicht spät genug, um davon ausgehen zu können, dass alle Bewohner dieses Ortes schon schliefen oder gemütlich den Abend gemütlich vor dem Fernseher verbrachten. Auch waren keine Autos auf den Straßen unterwegs und, bis auf das Geräusch der auf den Pflastersteinen aufkommenden Regentropfen, fehlten sämtliche Geräusche der Zivilisation vollkommen. Die Fenster der Häuser waren alle dunkel und ich konnte keine Details hinter den Scheiben erkennen, als ich versuchte, in einige von ihnen hineinzusehen – fast so, als wären sie alle verdunkelt gewesen, schien die Finsternis die Räume dahinter vollständig auszufüllen. Und noch ein seltsames Phänomen fiel mir bei genauerer Betrachtung der Häuserfronten auf: es gab keine Türen. Weder Haustüren, noch Garageneinfahrten – so, als ob die Fassaden allesamt gar nicht dafür errichtet worden waren, um von Menschen bewohnt zu werden….
Ein starkes Empfinden von Einsamkeit breitete sich in meinem Inneren aus. Fast erschrak ich, als in einem der Fenster plötzlich ein Gesicht auftauchte, als ich versuchte, hineinzublicken – doch schnell wurde mir klar, dass es sich nur um mein eigenes Spiegelbild handelte. Na ja – wenn ich mich nun so betrachtete, hätte ich mein Aussehen auf dem Führerscheinbild dem aktuellen Zustand gerne vorgezogen…
Wo war ich hier nur gelandet? Was war das für eine Stadt, welche nur ein einziger Fake zu sein schien? Vielleicht träumte ich ja immer noch – doch der klassische Versuch des Sich-Selbst-Zwickens führte nicht zu dem gewünschten Erfolg. Auch fühlte sich alles zu real an, um nur ein Auswuchs meiner Phantasie zu sein. Zudem wirkte diese falsche Kulisse in aller ihrer Primitivität auf mich doch irgendwie vertraut, als ob ich schon viele Male diesen Ort zuvor besucht hatte. Die Gedanken wollten einfach nicht zur Ruhe kommen und diese Erinnerung versteckte sich tief in meinem Kopf und verspottete mich jedes Mal, als ich versuchte, sie wieder einzufangen, indem sie, wie ein Vogel einfach wieder aufflatterte und davonflog.
Jetzt war ich hier – ganz alleine. In dieser verregneten, menschenleeren Stadt, in der es keine Zuflucht für mich gab. Fast musste ich lachen, als ich mich auf den Weg machte, um diese Stadt zu erkunden und – nach einigen Häuserblocks – wieder auf demselben Stadtplatz herauskam. Egal, in welche Richtung ich ging oder welche Straße ich wählte – dieses verfluchte Labyrinth führte mich immer wieder zurück an den Ort meines Erwachens zurück. Sicherlich waren es einige Stunden, die ich damit verbrachte, einen Weg daraus zu finden, doch alles war vergebens – ein Ausweg schien einfach nicht zu existieren. Verzweiflung durchfuhr mich wie ein Blitz, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ich hier jemals rauskommen würde, war unter den aktuellen Umständen, recht niedrig. Also würde ich hier vermutlich verhungern oder verdursten, ohne diese triste und traurige Kulisse jemals hinter mir lassen zu können….
In dieser Verzweiflung schoss mir, wie auch dem Nichts, eine Erinnerung durch den Kopf – sie war zwar verschwommen, doch es war die erste richtige Erinnerung an etwas in dieser seltsamen Welt, was ein Gefühl der Hoffnung verliehen hatte. Es war ein Ort, ein Haus – irgendwo auf einem Hügel, hinter dem sich ein Wald erstreckte und der Geruch von Gras und Sommer kitzelte meine Nase. Der Sonnenuntergang tauchte die Wolken am Himmel über dem Haus in ein rosafarbenes Licht und der warme Sommerwind streifte zärtlich meine Haut. Es alles fühlte sich sehr real an – wie die Sehnsucht nach einem Ort, welcher mein Zuhause zu sein schien. Vielleicht auch nur eine Traumvorstellung, doch ich vermisste diesen Ort tief in meinem Inneren – so sehr, dass es fast wehtat, als ich an diese wunderschöne Szene dachte.
Ein Donnergrollen erschallte in der Ferne, der Himmel über mir nahm noch eine dunklere Farbe an und der Wind blies stetig stärker und peitschte die größer werdenden Regentropfen gegen meine Kleidung - fast so, als wäre diese Welt erbost über meine schöne Erinnerung gewesen und sie mich hätte dafür bestrafen wollen.
Müde und verbittert über meine bedauernswerte Situation gab ich schlussendlich die Versuche auf, vom Stadtplatz wegzukommen. Es machte wenig Sinn, meine Kräfte daran zu verschwenden, sinnlos in der Gegend herumzulaufen. Auch nach einigen erfolglosen Versuchen, manche der dunklen Fensterscheiben einzuschlagen, welche wie aus etwas sehr harten und massiven – jedoch sicherlich keinem Glas - gefertigt zu sein schienen, resignierte ich nun vollkommen. Außerdem wurde ich sehr müde und so suchte ich mir, nachdem ich aus dem Stadtplatzbrunnen etwas Wasser getrunken hatte, ein trockenes Versteck unter einem der wenigen Bäume. Die kühlen Windböen durchdrangen die nasse Kleidung und meine Haut fühlte sich stellenweise eiskalt an. Es wurde immer dunkler, jedoch war ich mir nicht sicher, ob es an der hereinbrechenden Dämmerung oder an der stetig dunkler werdenden Wolkendecke lag. Doch zu meiner Erleichterung gingen nach und nach die Laternen am Stadtplatz an und tauchten die sie umgebenden Gehsteige in ein warmes, gelbliches Licht. Ob diese Laternen jemand eingeschaltet hat? Vielleicht auch nur für mich? Was musste das für eine Person sein, welche sich hinter einer dieser dunklen Fensterscheiben versteckt und sich meines Elends erfreut? Aber auch, wenn es diese Person wirklich geben sollte, war ich ihr in diesem Augenblick doch dankbar, die kommende Nacht nicht in völliger Dunkelheit verbringen zu müssen.
Schlussendlich schlief ich, zusammengekauert unter dem Kastanienbaum, ein. Mein Schlaf war traumlos und unruhig – oft wachte ich plötzlich auf, als mich diese unbekannte Stimme wieder aus dem Traum riss. Auch meinte ich ab und zu, dass irgendwo in diesen dunklen Gassen, hinter den Häusern des Stadtplatzes, jemand herumlaufen würde, doch ich versuchte mir einzureden, dass dies nur die Geräusche des Regens waren. Ja, ich hatte richtig Angst und mein Gehirn interpretierte in dieser, bis auf die Geräusche der vom Wind gepeitschten Regentropfen, sonst völlig stillen Umgebung jede Menge verrückte und beunruhigender Dinge hinein und so reagierte ich fast panisch auf die Bewegungen der Schatten von Bäumen und jedes, mir unbekannt erscheinende Geräusch. Aber was jagte mir mehr Angst ein: der Gedanke, dass jemand oder etwas außer mir noch dort hätte sein können oder dass ich wirklich ganz alleine dort war? Beide Varianten waren gleichermaßen unheimlich.
Und so erstarrte ich vor Angst als ich ein weiteres Mal aufwachte und etwas Ungewöhnliches aus dem Augenwinkel bemerkte. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich einen Schatten - oder besser gesagt eine Figur - unter einer der Laternen. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen, um keine Aufmerksamkeit dieses Wesens auf mich zu lenken, doch trotz aller meiner Anstrengungen, möglichst ruhig zu atmen, pochte mein Herz wie wild und es hätte mich nicht gewundert, wenn die Figur dieses Pochen sogar über die Entfernung hinweg gehört hätte. Doch die Silhouette bewegte sich nicht und auch schien mich das Wesen – was auch immer es war – im Schatten des Kastanienbaumes nicht zu bemerken. Was nun? Ich wusste nicht, wie spät es war und so hätte es ein mühsames Unterfangen werden können, in dieser Position bis zum Morgen auszuharren. Weglaufen war auch keine Option – egal, wo ich auch immer hingelaufen wäre, hätte mich diese verfluchte Stadt wieder hierhergeführt…
<<Reiß dich zusammen!>> dachte ich mir und versuchte, mich möglichst leise aufzurichten, um den Schatten besser sehen zu können. Und tatsächlich half dieser Wechsel der Perspektive, denn nun erkannte ich, dass es sich bei dem Schatten auch um einen Menschen handelte. Ein kleiner und schmächtiger Mensch – es müsste eine Frau, ein Teenager oder gar ein Kind gewesen sein. Behutsam tat ich die ersten Schritte in Richtung der Laterne. Je näher ich herankam, desto deutlicher wurde es: es war jemand mit schulterlangen, dunklen Haaren, dessen Kleidung wie ein helles Kleid wirkte. Die Person saß auf dem Boden, die Knie umarmend und hatte den Kopf gesenkt, fast so, als ob sie auch schlafen würde. So schien sie mich nicht zu bemerken, als ich immer näher langsam an sie herankam. Es waren vermutlich nur noch einige Meter zwischen uns, als mir klar wurde, dass es sich wirklich um ein Mädchen handeln müsste – doch war die ganze Situation immer noch sehr surreal und unheimlich. Unweigerlich stellte ich mir vor, dass das Mädchen den Kopf heben würde und ich etwas Schreckliches erblicken könnte – vielleicht war es ein Geist dieser dämonischen Welt, welcher mit leeren Augenhöhlen und blutverschmiert meinen Blick erwidern würde…
<<Hör auf, dir so etwas einzubilden. Denke rational – Geister existieren nicht!>>
Und doch wäre ich an diesem Ort bereit gewesen, alles zu glauben und machte mich innerlich auf das Schlimmste gefasst.
<<Was machst du hier?>> fragte ich zaghaft mit zitternder Stimme.
Das Mädchen hob den Kopf und sah mich verdutzt an. Für einen kurzen Augenblick sah ich in ihre Augen, welchen vor Tränen glänzten und die feuchten Wangen – sie musste geweint haben! Nach dem Augenblick erstaunter Verwirrung über mein plötzliches Erscheinen schrie sie überrascht und verängstigt auf und fiel rückwärts hin, als sie versuchte, schnell aufzuspringen.
<<Hey, warte mal! Keine Angst – ich tue dir nichts!>>
Ich gab mir größte Mühe, trotz dieser überraschenden Wendung, meine Angst, welche ruckartig einem Gefühl unermesslicher Aufregung und Freude wich, nicht nach außen dringen zu lassen und meine Stimme konstant und ruhig zu halten, um das arme Geschöpf nicht noch mehr zu erschrecken.
Auch das kleine Fräulein machte langsam den Eindruck zu bemerken, dass von mir keine Gefahr ausging und nun saß es, zitternd auf dem kalten Boden und sah mich mit großen Augen an.
Es war verständlich und vermutlich hätte ich an ihrer Stellte genauso reagiert, wenn plötzlich aus der Dunkelheit heraus ein zerzauster, älterer Mann vor mir aufgetaucht wäre… So nahm ich ihr ihre Reaktion keinesfalls übel.
<<Wer bist du und was machst du hier?>> fragte ich erneut und wurde mir, aus meiner eigenen Situation heraus der Komik dieser Frage bewusst – denn ich hätte diese, wie in diesem Augenblick auch, nicht beantworten könnten.
<<Wie ist dein Name? Ich heiße Alex.>>
Ich war mir gar nicht sicher, ob das Mädchen mich verstand, denn es starrte mich nach wie vor mit riesigen Augen an.
<<Ich… Ich weiß es nicht…>> flüsterte sie und brach erneut in heftigem Weinen aus.
<<Hey, hey, nicht weinen… Komm her, lass mir dir erst mal aufhelfen.>>
Um ihr aufzuhelfen ging ich in die Hocke und dann passierte etwas Wundersames: sie schmiss sich mir um den Hals und presste ihr Gesicht gegen meine Brust. Die arme – was sie wohl durchgemacht hat? Unweigerlich musste ich an meine bisherigen Strapazen denken – für mich war es schon schwierig hier, doch sie war fast noch ein Kind…
<<Ich hatte solche Angst…>> flüsterte sie und ich konnte ihre warmen Tränen spüren, als sie durch meine Kleidung hindurch meine Haut berührten.
Langsam schien sie sich zu beruhigen. Diese Umarmung erinnerte mich wieder an das rosarot gefärbte, mollig warme Gefühl des Ortes, an den ich hingehörte, denn es fühlte sich irgendwie wahnsinnig vertraut an….
Der Wind wurde stärker und so versteckten wir uns beide wieder unter dem Kastanienbaum, welcher uns vor dem direkten Regen schützte. Ich versuchte noch eine Zeit lang, Fragen zu stellen aber es schien aussichtslos zu sein. Das Mädchen konnte sich an nichts erinnern. So wie ich, wachte sie in dieser Stadt auf und irrte ziellos und planlos durch die Straßen, ohne aus dem Labyrinth entkommen zu können. Als ich sie bemerkte, suchte sie gerade, verzweifelt und angstvoll Schutz vor der Dunkelheit im Lichtkegel der Straßenlaterne.
<<Als ich hier ankam, hatte ich immerzu das Gefühl, dass mich jemand rufen würde. Warst du es?>>
Denn die weibliche Stimme aus meiner Erinnerung ähnelte durchaus der Stimme des Mädchens. Aber es hätte auch genauso gut jede andere weibliche Stimme sein können – wer kann schon die Stimmen aus dem Traum realen Personen zuordnen?
<<Ja, ich habe gerufen – nach jemandem hier, egal wem… Ich bin so froh, dass du mich gehört hast und gekommen bist…>>
Das erste Mal seit unserer Begegnung sah ich so etwas wie Freude in ihren Augen aufblitzen.
<<Ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, dass ich jemanden verloren habe. Er ist einfach eingeschlafen… Verschwunden… Und ich weiß nicht einmal, wer das sein soll. Aber ich spüre, dass mir dieser jemand sehr wichtig ist und so habe ich nach ihm gesucht… Es klingt total blöd, oder?>>
<<Nein…>> erwiderte ich nachdenklich. <<Wo auch immer wir hier sind – es ist ein sehr seltsamer Ort. Wir beide können uns an nichts erinnern und doch habe ich auch die eigenartige Empfindung – genauso wie du – etwas wichtiges hier zu suchen… Und genauso wie du, weiß ich nicht, was es überhaupt sein soll.>>
Als wir redeten, merkte ich, wie mich die die Müdigkeit überkam. Das Mädchen lehnte sich seitlich an mich an und ich spürte zum ersten Mal in dieser kalten, verregneten Stadt etwas Warmes und sehr zerbrechliches, was ich um jeden Preis beschützen musste. Unsere Unterhaltung endete in einem Monolog meinerseits, als ich merkte, dass sie nun auch, erschöpft von all den Geschehnissen und Anstrengungen des Tages, nun endlich einschlief. Zum Glück hatte ich eine leichte Jacke an, welche ich auszog und ihre Beide damit zudeckte. Es war fast bewundernswert, dass sie in dem leichten Kleidchen dem kühlen Sommerregen und dem Wind trotzte, ohne vor Kälte zu zittern. Kurz bevor ich einschlief, sah ich mir nochmals ihr Gesicht an. Sie schien im Traum zu lächeln und so machte auch ich, glücklich die Augen zu.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schlief sie noch und so lehnte ich sie behutsam gegen den Baumstamm, um meine eingeschlafene Schulter vom Gewicht ihres Kopfes zu befreien. Mir tat alles weh, denn der kalte Boden und die unangenehme Schlafposition ließen meinen Körper in dieser eigenartigen Stellung erstarren und ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, herumzulaufen, um den Bewegungsapparat wieder in Schwung zu bringen.
Mir fiel außerdem auf, dass ich seltsamerweise weder Hunger noch Durst verspürte – was am Vortag auch schon der Fall war. Das Wasser aus dem Brunnen half wunderbar gegen die sich trocken anfühlende Kehle, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass ich es wirklich zum Überleben benötigen würde. Die erdrückende Atmosphäre der leeren Stadt war immer noch allgegenwärtig präsent, doch nun hatte ich aus der nächtlichen Begegnung heraus wieder Zuversicht geschöpft gehabt und so entschloss ich mich, an diesem neuen Tag erneut einen Versuch zu unternehmen, dieser Atmosphäre zu entkommen.
<<Es muss einen Weg heraus geben! Du hast bestimmt nur etwas übersehen!>> versuchte ich mich innerlich zu motivieren.
Der Realist in mir war jedoch einer anderen Meinung – doch dieser hatte nun zu schweigen und die Anstrengungen zu akzeptieren. Denn es gab hier auch nichts, absolut nicht, wofür es sich lohnen würde, an Ort und Stelle zu bleiben. Entweder unter dem Kastanienbaum im Regen und der Kälte verrotten oder wenigstens versuchen, diesen verdammten Ort hinter uns zu lassen. Innerlich musste ich schmunzeln, als ich feststellte, dass ich „uns“ statt „mir“ gedacht habe – aber irgendwie fühlte ich mich nun für das Mädchen mitverantwortlich.
Ja, bei Tageslicht sah ich es nun deutlich – sie war vielleicht so um die zwölf bis dreizehn Jahre alt, von schmaler Statur und mit schulterlangen, kastanienbraunen Haaren. Das knielange, weiße Kleid mit Spaghettiträgern war an einigen Stellen dreckig geworden und an den Füßen trug sie schwarze Stiefeletten. Ein ganz normales Mädchen also. Unweigerlich musste ich an meine Angst bei unserer Begegnung denken und in diesem Augenblick wäre ich innerlich vor Scham am liebsten im Boden versunken…
<<Guten Morgen.>> begrüßte sie mich noch schlaftrunken und gähnte.
<<Guten Morgen auch! Hast du gut geschlafen?>>
<<Nein… Ich bin oft aufgewacht und ich denke, dass ich etwas Seltsames geträumt habe… Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern…>> sagte sie nachdenklich und sah hinunter auf ihre Beine. <<Danke, dass du mich zugedeckt hast – mir war davor wirklich kalt aber so war es viel besser.>>
<<Kein Problem.>> erwiderte ich und dachte zurück an die vergangene restliche Nach, in der ich meine Entscheidung, die Jacke abgegeben zu haben zitternd innerlich bitter bereut hatte. <<Nein, ich habe eigentlich ganz gut geschlafen.... Komm, lass uns heute nochmal nach dem Ausgang suchen – was hältst du davon?>>
Der Blick des kleinen Fräuleins wurde nun ganz unglücklich.
<<Weißt du, ich glaube, es gibt hier keinen Ausgang…>>
<<Lass den Kopf nicht so hängen!>> versuchte ich sie mit einer entschlossenen Stimme zu motivieren <<Wir werden schon etwas finden – wenn wir hier reingekommen sind, müssen wir hier auch wieder rauskommen können!>>
<<Na gut, von mir aus… Ich habe sowieso nichts Besseres zu tun…>>
Und so brachen wir erneut auf, alle Straßen, welche vom leeren Stadtplatz weggingen, zu durchlaufen und bogen auch wieder in deren Seitenstraßen ein – doch das Ergebnis war immer das gleiche: jedes Mal begegneten wir uns wieder – am Stadtplatz. Irgendwie hatte ich an diesem Tag aber das Gefühl, dass sich das begehbare Areal rund um unseren Ausgangspunk erweitert hätte – zumindest konnte ich mich an einige der Straßenzüge nicht erinnern. Um effizienter zu sein, beschlossen wir, uns aufzuteilen, sodass jeder für sich den Ausgang suchen sollte. Fall – weder unserer beider Erwartungen – ihn jemand von uns fände, versprachen wir, uns wieder am Platz zu treffen, um gemeinsam aus der leeren Stadt hinaus zu spazieren.
Es vergingen wahrscheinlich Stunden, an denen ich durch sämtliche Straßenzüge und Gässchen der Stadt wanderte und, wie erwartet, kam ich immer wieder zu dem Hauptplatz zurück. Das Mädchen war nicht zu sehen – wahrscheinlich verpassten wir uns immer wieder und sie bog jedes Mal wieder in das Straßenlabyrinth ein, als ich diesen wieder verließ. Irgendwann beschloss ich, auch mal eine Pause einzulegen und setzte mich auf eine Bank in der Nähe des Brunnens. Seltsamerweise tauchte das Mädchen selbst nach einer längeren Wartezeit nicht auf und ich begann, mir langsam Sorgen zu machen.
<<Es ist unmöglich – sie kann sich nicht verlaufen haben, denn alle Straßen führen unweigerlich früher oder später hierher…>> versuchte ich mich innerlich zu beruhigen.
Doch mich beschlich ein ungutes Gefühl und so entschloss ich mich, wieder aufzubrechen, um sie zu suchen. So lief ich planlos durch die gleich aussehenden Straßen und überquerte gefühlte tausend Mal den Platz, nur um im nächsten Augenblick erneut in das Labyrinth aufzubrechen… Langsam wurde es immer dunkler und aus dem anfänglichen Gefühl der Sorge wuchs in mir die Panik, dass dem Mädchen etwas zugestoßen hätte sein können.
<<Mädchen! Mädchen, wo bist du!? Kannst du mich hören?>> schrie ich, als ich durch die Gassen lief. Seltsamerweise bildete ich mir ein, jedes Mal ein Pochen oder gar ein leichtes Beben der Erde unter mir zu spüren, wenn ich nach ihr rief.
Plötzlich hörte ich etwas, neben dem Geräusch des Regens und dem Wind, welcher gegen die Häuserfronten peitschte – es war eine menschliche Stimme!
<<Hilfe! Ich bin hier! Hört mich jemand!? Hilfe!>>
Die Quelle der Stimme schien hinter einer der Häuserfassaden zu befinden.
<<Mädchen! Bist du das!? Hörst du mich!?>> schrie ich und klopfte gegen die Mauer, hinter der ich die Stimme vermutete.
<<Ja, ich bin hier!>> erklang es gedämpft, so als ob die Mauer mindestens einen bis zwei Meter dick wäre.
<<Wie bist du da rein gekommen!?>>
<<Nein, nicht rein – ich habe mich nur an eine Wand angelehnt und plötzlich war ich hier draußen!>>
<<Wo draußen!?>> fragte ich verwundert. <<Im Haus?>>
<<Nein, hier draußen, auf der Wiese! Es ist wirklich schön hier und ich wollte wieder zurück, um dich zu holen aber ich finde den Weg nicht mehr – es ist wie eine unsichtbare Wand…>>
Ich konnte es anfangs nicht glauben aber es konnte ja durchaus gut sein, dass sich hinter der Wand etwas anderes als das Innere eines Hauses befand. Diese Realität war eine andere und das, was wir von unserer Welt erwarteten, schien hier nicht zwingend auf die uns umgebenden Dinge zutreffen zu müssen.
<<Wo genau hast du dich dagegen angelehnt?>>
Vielleicht gab es ja einen geheimen Mechanismus – eine Falltür oder ähnliches…. Doch selbst nach dem Abtasten der Wand konnte ich nichts dergleichen finden.
<<Ich weiß es nicht – ich habe mich eben einfach nur angelehnt…>> erwiderte das Mädchen verzweifelt.
<<Hast du sonst noch etwas gemacht? Erinnere dich bitte!>>
<<Nein… Nichts mehr… Ich war müde und dann musste ich an dieses Haus auf dem Berg denken und als ich anfing, mich an Details zu erinnern, fiel ich plötzlich hierher auf die Wiese…>>
Überrascht hielt ich inne. Von welchem Haus sprach sie? Gestern noch konnte sie sich an nichts erinnern, doch diese Erinnerung schien in dieser Welt etwas ausgelöst zu haben.
<<Was war es für ein Haus? Denke bitte nochmal daran und lehne dich gegen diese unsichtbare Barriere!>> vielleicht hätte diese Erinnerung wieder den Weg zurück hierher ebnen können?
<<Es passiert nichts…>> schrie sie enttäuscht. <<Bitte hol mich hier raus! Es wird hier sehr schnell dunkel und ich habe Angst.>>
Sie schien so nah und doch so fern zu sein – und ich fühlte mich völlig hilflos in dieser Situation und auch irgendwie schuldig, sie alleine auf die Suche geschickt zu haben.
<<Ganz toll hast du dich um sie gekümmert…>> machte ich mir selbst Vorwürfe.
Ich verzagte ja selbst langsam – an der Fassade gab es nichts, aber wirklich nichts Ungewöhnliches: weder geheime Knöpfe, noch Hebel oder sonstiges, was einen Durchgang hätte öffnen können.
<<Bist du noch da!?>> fragte die Stimme hinter der Wand verzweifelt. <<Bitte gehe nicht weg… Bitte lass mich hier nicht alleine…>>
<<Keine Angst – ich bin und bleibe hier, bis ich dich wieder hierher zurückgeholt habe!>> versuchte ich das Mädchen auf der anderen Seite zu beruhigen. Ich musste mit ihr weiterreden, damit sie wenigstens keine Angst hat, dachte ich mir. Alleine auf einer Wiese in der Nacht zu sein – umgeben von unbekannten Geräuschen und der Dunkelheit war für sie sicherlich nicht einfach zu ertragen und meine Stimme schien das einzige zu sein, was ihr noch Kraft verlieh, um durchzuhalten.
Auch auf meiner Seite der unsichtbaren Mauer wurde es dunkel und es machte keinen Sinn mehr, nach dem Ausgang zu suchen. Ich setzte mich hin und lehnte mich an die Mauer – ich fing an, mich mit der Tatsache, hier übernachten zu müssen, langsam anzufreunden.
<<Erzähle mir bitte von diesem Haus… An das du dich erinnert hast.>>
<<Ich weiß nicht… Es kam einfach so, wie aus dem nichts – plötzlich sah ich es vor mir. Klar und deutlich.>>
<<War es dein Zuhause?>>
<<Weiß nicht… Aber es war noch jemand da bei dem Haus. Ich glaube, es war er, den ich hier anfangs gesucht habe… Ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern. Er hat mir zugewunken und ich wollte in meinen Gedanken hinlaufen und dann fiel ich in die Wand hinein…>>
<<Willst du zu diesem Haus hin? Ich verspreche dir, dass ich dir helfen werde, dahin zu kommen, OK?>> ich log sie an, denn dafür mussten wir erst mal wieder zusammenkommen und dann wäre da noch das klitzekleine Problem gewesen, dass dieses Haus nur in ihrer Fantasie zu existieren schien und auch wenn es real gewesen wäre, hätte ich keine Ahnung, wie man hätte dorthin gelangen sollen…. Aber ich wollte ihr in diesem Augenblick nur etwas Hoffnung geben.
<<Danke…>> erwiderte sie leise, so als ob sie meine kleine Notlüge herausgehört, sich jedoch auf sie eingelassen hätte. <<Weißt du – der Mann, der gewunken hatte, sah fast wie du aus. Aber wegen der untergehenden Sonne konnte ich sein Gesicht nicht sehen… Der Himmel war dort so schön rosafarben und der Sommerwind so angenehm… Ich wäre gerne dorthin gegangen….>>
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und etwas durchfuhr meinen Kopf wie ein Blitz. Ich sah das Haus im Sonnenuntergang – ich stand da, nun vor dem Haus und meine Hand bewegte sich, jemandem zuwinkend… Es war ein in Mädchen in einem weißen Kleid.
Etwas zerbrach in mir in diesem Moment und ein heftiger Stoß erschütterte die Erde unter meinen Füßen.
<<Mädchen! Mädchen!>> schrie ich verzweifelt. Eine unerklärliche Sehnsucht packte mich und ich verspürte in diesem Augenblick eine unglaubliche Kraft in mir. Ich schlug mit der Faust gegen die Wand und rief verzweifelt nach ihr.
<<Mädchen!>> und dann brach es plötzlich aus mir heraus: <<Lisa! Lisa, halte durch!>>
Ein Blitz leuchtete auf und wie ein Erdbeben ließ eine unsichtbare Energie riesige Risse in der Fassade des Hauses. Wie Glas zerbarst die meterdicke Mauer und dahinter zeichnete sich ein klarer, wolkenloser Sternenhimmel ab – unter dem, im Schein des Mondes das Mädchen saß und auf mich wartete. Ihr weißes Kleid leuchtete magisch.
<<Endlich bist du gekommen.>> lächelte sie und umarmte mich erneut. <<Danke.>>
Ich presste sie fest an mich und musste vor Freude fast weinen.
<<Lisa… Du heißt Lisa. Ich weiß nicht, warum ich deinen Namen kenne aber auch ich kenne das Haus und ich glaube, dass ich der Mann vor dem Haus war, der dir zugewunken hat… Bitte frage mich nicht, woher ich das habe – ich weiß es einfach. Ich spüre es irgendwo ganz tief in mir…>>
Sie lächelte wieder.
<<OK, ist ja gut… Ich glaube es dir. Irgendwie. Und Lisa ist auch OK – irgendetwas sagt mir dieser Name auch. Und ich habe ja keinen… Also ist Lisa OK… Es ist schön, dass du da bist. Danke, dass du mich hier nicht alleine gelassen hast. Ich wusste, dass du einen Weg findest…>>
Ein neuer Tag brach an und unsere Umgebung wurde in die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne getaucht. Wir saßen auf einer, von Morgentau bedeckten Wiese, umgeben von mit Wald bewachsenen Hügeln. Der Himmel war klar und fast wolkenlos und von der leeren, verregneten Stadt war weit und breit nichts zu sehen. Auch kam mir diese Umgebung irgendwie bekannt – ja fast vertraut vor.
<<Hey, ich habe das Gefühlt, dass wir hier richtig sind, wenn wir unser Haus suchen…>>
Und so brachen wir auf, über die weite Wiesenfläche in Richtung der Hügel, denn irgendwie spürte ich es, dass sich das Ziel unserer Reise dort hätte sein müssen.
Im Wald war es kühler, doch immer noch angenehm warm und über unseren Köpfen und den Baumkronen erstreckte sich ein grenzenloser blauer Himmel. Wir folgten einem kleinen, von Wurzelwerk überzogenen Wanderpfad und der Wald fing nach einigen Stunden der Wanderung an, sich langsam zu lichten. Es ging leicht bergauf, sodass wir unser Tempo unfreiwillig drosseln mussten.
<<Glaubst du, dass wir bald aus dem Wald rauskommen?>> fragte Lisa mit einer erschöpften Stimme.
<<Ja, von der Wiese aus hat es so ausgesehen, als ob auf der Hügelspitze keine Bäume gewesen wären. Aber sicher bin ich mir nicht. Zur Not müssen wir irgendwo auf einer Lichtung übernachten. Aber wir sind ja zu zweit…>> und wieder versuchte ich meine Feigheit und meine Sorgen hinter einer falschen Fassade der Zuversicht zu verstecken – denn ich wusste nicht einmal, wo wir hinliefen, ganz geschweige davon, ob sich auf unserem Weg irgendwo eine Lichtung befinden könnte. Vielleicht war es auch so wie in der Stadt und der Wald gar kein Ende hatte? Schnell versuchte ich diesen Gedanken abzuschütteln. Aber besonders scharf auf eine Übernachtung im dunklen Wald war ich wirklich nicht gewesen….
<<Halte noch ein wenig durch – ich denke, dass wir bald da sind…>>
Während wir gingen, dachte ich immer wieder über diese seltsame Welt nach: was war eigentlich das Ziel unserer Wanderung – oder gar unserer Existenz hier? Die menschenleere, verregnete und kalte Stadt, die nur aus sinnlosen Fassaden und Straßenzügen bestand, die unsichtbare Barriere, die sie von der Wiese und dem Wald trennte, dieses unerklärliche Gefühl der Sehnsucht in uns beiden nach dem Haus im Sonnenuntergang und auch wir beide – Lisa und ich – welche ihr blind zu folgen schienen, als wäre es unsere einzige Bestimmung gewesen… Außer uns gab es hier keinen – auch keine Insekten oder Tiere. Nur die Erde, das Gras, die Bäume und der unendliche Himmel umgaben uns – die beiden Wanderer auf ihrem Weg in das Ungewisse. Manchmal glaubte ich jedoch etwas zu spüren – wieder diese Impulse, wie auch in der Stadt, die - fast wie ein Beben, welches jedoch nicht nur die Erde unter uns, sondern diese ganze Welt um uns herum - zu erschüttern schienen.
<<Der Herzschlag dieser Welt..>> kam mir spontan in den Sinn.
Wir gingen weiter und endlich schien der kleine Weg uns auf eine Wiese aus dem Wald herauszuführen. Dort angekommen machte mein Herz einen Freudensprung: dort, am andere Ende war es wirklich da: das Haus aus unseren Träumen! Lachend vor Freude liefen wir los – über die feuchte Wiese auf das Haus zu. Die Sonne ging langsam unter und tauchte die kleinen Wolken am Horizont in ein rosa Licht. Eine leichte, warme Brise ging über das Gras und verbreitete den unverkennbaren Geruch des Sommers. Endlich waren wir am Ziel angekommen…
Im Gegensatz zu den Häusern der Stadt war dieses hier echt – es hatte Fenster und Türen, die sich öffnen ließen und sonst war es komplett – und wie ich fand - nach meinem Geschmack eingerichtet. Lisa lachte und quiekte vor Freude, als sie durch das Haus lief und alle Zimmer begutachtete.
<<Guck mal, Alex: das ist jetzt mein Zimmer!>> schrie sie aufgeregt und zeigte stolz auf einen gemütlich – aber meines Erachtens etwas zu mädchenhaft eingerichteten Raum, in dem ein bezogenes Bett stand.
Natürlich war ich auch über diese Umstände verwundert und der Situation gegenüber auch etwas misstrauisch eingestellt, nachdem ich jedoch aufgehört hatte daran zu glauben, dass in dieser Welt andere Menschen außer uns existierten, konnte ich keine Argumente gegen einen Verbleib in diesem Haus finden. Zudem waren wir beide erschöpft von den Strapazen der letzten Tage und so freute ich mich vor allem auf ein warmes, gemütliches Bett.
Um nachts den die Eingangstür im Auge zu behalten, beschloss ich, auf der Wohnzimmercouch zu übernachten. Lisa hätte in dem Mädchenzimmer auch nichts zustoßen sollen – denn es war im ersten Stock gelegen und das Haus war – wie alles um uns herum – menschenleer.
<<Gute Nacht!>> verabschiedete ich mich und schlief sofort ein.
Trotz aller meiner Sorgen passierte in der Nacht nichts Ungewöhnliches – die absolute Stille der Nacht wurde nur von dem seltsamen Pochen gestört. So schlief ich wieder sehr unruhig und wachte immer wieder auf – doch im Großen und Ganzen bei weitem besser als auf dem feuchten Boden unter dem Kastanienbaum am Stadtplatz. Dieses unerklärliche Gefühl der inneren Unruhe und der Angst wollte aber einfach nicht verschwinden…
Und so fiel ich vor Schreck fast von der Couch, als ich wieder aufwachte und im Licht des Vollmondes, welches durch das Fenster hineinfiel und den ganzen Raum in einem bläulichen Schimmer leuchten ließ, die Lisa vor mir stehen sah. Etwas stimmte nicht, denn sie weinte. Ihre Augen glänzten und Tränen kullerten über die Wangen und hinterließen dunkle Flecken auf dem weißen Kleid.
<<Hey, was ist denn los? Kannst du nicht schlafen?>> frage ich, noch schlaftrunken.
<<Bitte nimm mich in den Arm…>> flüsterte sie durch die Tränen. <<Ich weiß nun alles… Ich kann mich an alles erinnern…>>
Behutsam umarmte ich sie und so saßen wir einige Minuten lang auf der Couch und sagten nichts. Denn ich hatte plötzlich – wie Lisa vermutlich auch – ein seltsames Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren könnte, wenn wir etwas aussprechen würden. Doch dann brach Lisa unser Schweigen…
<<Weißt du…>> flüsterte sie und presste sich noch fester an mich heran. <<Ich wünsche mir so sehr, dass wir für immer hierbleiben können… Aber das geht nicht… Das darf nicht sein.>>
<<Warum nicht?>> fragte ich verwundert. Gut, ich hatte mir bisher keine Gedanken über die Zukunft gemacht, doch hier angekommen schien es mir auf einmal irgendwie selbstverständlich zu sein, dass wir – Lisa und ich – hier bleiben würden. Ich würde sie beschützen und für sie sorgen, denn das musste ich – etwas in mir verlangte es fast.
<<Diese Welt hier ist nicht real und wir sind auch nicht real…>> ihre Stimme klang plötzlich sehr ernst und besorgt. <<Du kannst es doch auch hören, oder? Den Herzschlag…>>
<<Ja – ich dachte aber, dass es nur eine Einbildung ist! Kannst du dieses Pochen auch etwas hören?>>
<<Das bist du… Das ist dein Herz. Das Pochen ist dein Herzschlag…>> erwiderte sie traurig. <<Wir beide – du und ich – sind nur Erinnerungen in dieser Welt. Deshalb haben wir selbst keine Erinnerung, an das was zuvor geschah… Aber nun müssen wir zurückkehren und dir diese Erinnerungen wieder schenken. Sonst bleibst du für immer in diesem Traum gefangen… Ich hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als für immer hier mit dir zusammen zu leben… Auch in dieser Welt. Doch auch das – dieses Haus und alles andere um uns herum haben wir bereits erlebt und nun ist es an der Zeit aufzubrechen. Sonst bleibst du für immer hier gefangen.>>
Erneut kullerten einige Tränen ihre Wangen hinunter. Lisa umarmte mich noch fester.
<<Bitte wach auf, Papa…>>
Ein stechender Schmerz brachte meinen Kopf fast zum Zerplatzen. Denn nun konnte ich mich auch an alles erinnern - und diese Erinnerung brach mir damit das Herz….
Ein Ruck ging durch die ganze Welt und zerriss alles um das Haus herum in Stücke. Wie die Mauern der leeren Stadt, sah ich durch das Fenster, wie alles um uns herum – die Wiese vor dem Haus, der Wald, die Hügel und selbst der Himmel – Risse bildete und wie Glasfragmente zerbarst, um ein dunkles, leeres Nichts zu hinterlassen. Ich schloss die Augen und als ich sie erneut öffnete, waren wir von lodernden Flammen des brennenden Hauses umgeben.
Es war wie damals… Ich hielt Lisa, meine Tochter, in den Armen und alles um uns herum brannte lichterloh.
<<Es ist schön, dass du dich wieder erinnerst…>> sagte Lisa leise und liebevoll. <<Bitte verspricht mir etwas…>>
<<Nein, es darf nicht wieder passieren!>> schrie ich verzweifelt. <<Ich lasse es nicht zu…! Ich lasse dich nicht los!>>
<<Bitte versprich es mir…>>
Ich kämpfte gegen die Tränen und die Ohnmacht – denn ich wusste nun alles – alles was bisher geschehen ist und das, was passieren wird…
<<Ich verspreche dir alles, Liebling… Bitte bleibe nur bei mir… Bitte gehe nicht…>>
<<Das ist schön…>> auf ihrem Gesicht war ein Lächeln zu sehen. <<Bitte versprich mir, weiterzuleben. Bitte wache auf und lebe weiter – für alles von uns…>>
Die Hitze der Flammen und der Rauch wurden langsam unerträglich.
<<Ich verspreche es dir! Bei allem, was mir heilig ist, verspreche ich es dir…>>
Ich presste meine Tochter noch stärker an mich heran.
<<Ich liebe dich, mein Schatz…>>
Die Flammen verschlangen das Haus und dessen einstürzendes Dach begrub nun auch die letzten jämmerlichen Reste dieser falschen Welt unter sich…
…
Als ich aus dem Koma erwachte, teilte man mir mit, dass bei einem Hausbrand meine Tochter ums Leben gekommen sei und ich verletzt worden bin, als ich versuchte, sie aus dem brennenden Haus zu retten….
Nein, ich hätte es nicht wissen können, dass sie tot war. Aber ich spürte es tief in mir, dass etwas fehlte – Lisa, meine Tochter fehlte auf dieser realen und unbarmherzigen Welt.
…
Meine Verbrennungen verheilten nur langsam und hinterließen hässliche Narben auf meinem Körper. Doch all diese Schmerzen und die Narben waren nichts im Vergleich zu den Narben in meinem Herzen. Doch stets dachte ich an das Versprechen, welches ich in den letzten Minuten dieser wundersamen Welt der leeren Stadt meiner Tochter gegeben hatte. Ich musste leben – auch für sie und auch für meine Frau, welche vor einigen Jahre inmitten dieser leeren Häuserfassaden, welche mich über die Jahre wie in einem Labyrinth gefangen hielten, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war… Als wir aus dieser verdammten Stadt aufs Land, in dieses Haus unserer Sehnsucht und unseres Glückes gezogen waren, half es uns beiden – Lisa und mir – mit dem Verlust der Mutter und Ehefrau – besser zurechtzukommen. Wir hatten uns und mehr brauchten wir nicht auf dieser Welt.
Und nun war es wie ein Fluch – sie waren weg – einfach für immer weg und nicht mehr da… Es fühlte sich so unfair an – ich musste ohne sie, die Menschen, die ich über alles geliebt habe, mein Leben weiterleben. Doch ich musste es machen - denn es war Lisas letzter und innigster Wunsch an mich.
…
Nachdem ich wieder laufen konnte, ging ich zuallererst zum Friedhof. Die Sonne schien und die Vögel zwitscherten über den Grabsteinen…
<<Hey, Kleines… Danke, dass du mich in meinem Traum gefunden und mich aus ihm geweckt hast… Aber weißt du, diese Tage mit dir in unserer kleinen Welt habe ich richtig genossen. Bitte habt noch etwas Geduld – denn ich bin mir sicher, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden. Bitte wartet auf mich dort – bei unserem Haus auf dem Hügel…>>
Es roch nach Sommer und eine warme Brise streifte sanft über meine Wange.