- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Erinnerungen der Alten Königin (1122-1204)
Die Alte Königin
Schwester Madelón tritt aus dem dunklen Gebäude der Kirche des Klosters Fontevrault. Vor ihr liegt der Kreuzgang, der einen sonnigen Garten umschließt. Einen Moment lang ist sie geblendet und muss sich an einer Säule festhalten, weil der plötzliche Übergang von der Kühle der Kirche in die heiße Mittagssonne sie schwindeln lässt.
Auch die Wut hat ihren Anteil an ihrem Schwindelgefühl: Soeben hat die Äbtissin sie gerügt. Es schicke sich nicht für eine Angehörige des Ordens, und sei sie noch so jung, dem Tratsch der Küchenmädchen zu lauschen, der von Märkten und Festen und -Gott bewahre!- Männern handelt.
Verzweifelt presst Schwester Madelón ihre heisse Stirn gegen eine schattige Säule. Alle weltlichen Dinge, alle Freuden im Leben sind ihr für immer versagt. Das Tanzen, das Trinken, und sogar die Liebe. Vor Allem die Liebe.
"Entsinne dich deines Gelübdes, Tochter! Dein Vater wollte den Schleier für dich, und wer bist du, dich seinem Willen zu widersetzen!" Die Worte der Äbtissin klingen kalt und grausam nach in Madelóns Ohren.
Sie ballt die Hände zu Fäusten und zwingt die Tränen zurück, die hinter ihren Lidern brennen. Die Äbtissin hatte einen Befehl für sie, bevor sie Madelón entlassen hat.
Als sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt haben, sieht sie die alte Dame auf einer behauenen Steinbank gegenüber der Kirche sitzen. Sie ist gut gekleidet, elegant. Nicht prunkvoll, das wäre auch unpassend für eine Bewohnerin des Klosters. Helles Leinen und weiße Spitze schmiegt sich weich um die hochgewachsene Gestalt.
Der Schnitt natürlich ist gewagt, denkt Madelón, für eine Frau ihren Alters sogar unerhört. Doch diese Dame hat sich noch nie um die Meinung anderer Leute geschert.
Schwester Madelón kennt natürlich die Geschichte dieser Frau. Jeder kennt sie. Und Schwester Madelón ist beeindruckt. Ehrfürchtig nähert sie sich der gebeugten Dame, die gedankenverloren welke Blumen in den Händen zerrupft. „Majestät. Die Äbtissin bittet Euch zu Tisch.“ Schwester Madelón spricht mit scheu niedergeschlagenen Augen und fragt sich, woher die Mutter Äbtissin den Mut nimmt, dieser Frau eine Aufforderung zukommen zu lassen. Denn diese Frau ist die „doppelte Königin“, wie Schwester Madelón sie insgeheim nennt.
***
Die alte Königin schaut überrascht auf. So spät schon? Wohin fließt nur die Zeit, fragt sie sich. Sie war in Gedanken versunken gewesen, hatte die Sonne auf ihrem faltigen Gesicht genossen und sich gefragt, wie es kommt, dass sie sich so wohl fühlt hier in diesem Kloster, das sie nicht mehr verlassen wird. Sie ist doch immer ein Zugvogel gewesen ... Von Poitiers nach Toulouse nach Bordeaux ... schon als Kind hat sie an der Seite ihres Vaters all ihre Burgen und Schlösser kennen gelernt, und jedes Jahr ist sie mit ihm von Burg zu Schloss zu Stadt gezogen.
Das war natürlich vor ihrer Hochzeit mit Louis, dem späteren König Louis VII von Frankreich.
Vor meiner ersten Hochzeit... Ich war so jung, so naiv. Erst fünfzehn. Oh, ich bin schnell erwachsen geworden am intriganten französischen Hof! Im Gegensatz zu Louis, dem armen, lieben, frommen Louis. Immer in der KIrche, immer betend und Gottes Gnade erflehend. Ich habe ihn schrecklich an der Nase herumgeführt. Die alte Königin lächelt verschmitzt.
***
„Mein Kind, lasst Euch noch einen Augenblick neben mir nieder, bevor Ihr mich zur Äbtissin bringt. Die Sonne tut mir gut.“ antwortet die „doppelte Königin“ der Nonne. Sie lächelt verträumt, stellt Schwester Madelón fest, wie ein junges Mädchen, dass beim turteln erwischt worden ist. Die junge Frau fühlt sich geehrt. Schweigend nimmt sie neben der alten Dame Platz. Sie muss daran denken, dass diese Frau nicht nur eine „doppelte Königin“ ist, sondern auch schon neben einem Kaiser gesessen hat. Kaiser Manuel von Byzanz. Gesessen und was nicht sonst noch alles, Schwester Madelón kennt auch diese Geschichten, die hier im Kloster natürlich flüsternd und hinter vorgehaltener Hand erzählt werden. Und nicht nur von den Küchenmägden!denkt sie trotzig.
Aber wie es dazu gekommen ist, dass sie neben dem Kaiser saß, das wird oft und laut erzählt. Dann starrt man sie an wie ein Wesen aus einer anderen Welt: Die Königin von Frankreich, die an der Seite ihres Gatten am Kreuzzug 1146 teilgenommen hat, reitend und kämpfend wie ein Mann. Und dann in Antiochia fast mit ihrem Halbonkel Raymond durchgebrannt wäre ... Schwester Madelón schüttelt dann immer pflichtbewußt den Kopf, wie es sich gehört, aber des Nachts denkt sie sich atemlos aus, wie es gewesen sein muss, fremde Länder zu sehen und Abenteuer zu bestehen.
Wie er wohl aussah, dieser Raymond ... Oh, wenn sie diese Geschichten hören könnte, sie könnte sich jede Nacht davonträumen, weg von diesem Käfig, der das Kloster für sie bedeutet.
Endlich wagt sie es, die alte Königin anzusprechen: „Majestät, ihr müsst die Ruhe hier sehr genießen, nach allem, was Ihr erlebt habt.“ Sie glaubt das nicht wirklich, aber vielleicht entlockt sie der alten Königin damit ein paar Geschichten...
***
Die Dame runzelt die Stirn. Ja, das tut sie, wunderlicher Weise. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass sie eines Tages ein geschlossenes Kloster als angenehm empfinden könnte. Wie entsetzlich war ihr das Klosterleben vorgekommen, ein Gefängnis.
Ja, ein neues Gefängnis nach dem, das Henry mir bereitet hat. Nach all den Ehejahren und all den gemeinsamen Kindern, der gemeinsamen Thronbesteigung in England - König Henry I von England und Königin Eleanor, wie man mich dort genannt hat – nach alldem hat er mich betrogen und belogen und weggesperrt. Er hat mich meiner Privilegien beraubt, hat andere Frauen als Königin von England behandelt. Andere als mich! Ich wurde gesalbt, zweimal, ich habe ihm zu seinem Ruhm verholfen: Was wäre er denn gewesen ohne mich? Ein kleiner Graf von Anjou mit zweifelhaftem Thronanspruch. Ein Nichts.
Wut steigt in ihr auf. Doch dann glättet sich die Stirn, wieder erscheint ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Es ist ein Lächeln wie man es lächelt, wenn man an alten Schabernack denkt. Sie hat nämlich versucht, ihrem Mann Aquitanien in einem Aufstand zu entreißen, als er sie immer häufiger und schamloser betrogen hat. Mit Hilfe seiner eigenen Söhne, und beinahe hätten sie es geschafft. Das führte auch zu ihrer Inhaftierung als Verräterin, die anhielt bis zu Henry’s Tod. Zug um Zug, Rache um Rache, das war das Ende ihrer großen Liebe gewesen.
Das ist Jahrzehnte her... Wozu noch wütend sein. Er ist ja tot. Und ich habe meinen Söhnen auf den Thron geholfen, erst Richard, mit seinem „Löwenherz“, dann nach seinem Tod dem jungen John, denkt sie stolz.
Unsere Söhne.
Nachdenklich betrachtet sie die blasse junge Frau auf der Bank, deren Augen rot sind vom Weinen und die den Zugvögeln am Horizont mit solcher Sehnsucht nachsieht. Sie denkt an ihre eigene Zeit in Gefangenschaft und die unerträgliche Sehnsucht nach Leben, nach Märchen und Abenteuern.
Schließlich antwortet sie der jungen Nonne. „Ich hatte ein bewegtes Leben, Kind, ich habe immer getan, was ich wollte und dann die Konsequenzen getragen. Ich war für die Menschen Heilige, Hure, Muse und gewiefte Intrigantin. Ich habe mich nie darum geschert. Jetzt bin ich alt, uralt, Mädchen, und habe zwei Ehemänner und sieben meiner neun Kinder überlebt. Ich habe die Liebe in allen Facetten erlebt, den edlen, tapferen Raymond, den armen, scheuen Louis, den ich verlassen habe für meinen geliebten, gehassten Henry.
Jetzt genieße ich den Frieden, denn der ist das Einzige, was ich noch nicht erlebt habe. Du siehst, ich vergeude keine Minute,“ jetzt blitzt es verschwörerisch auf in ihren alten Augen, „ und ich habe eine lange Geschichte zu erzählen. Sie sollte aufgeschrieben werden. Wenn du ab und zu ein wenig Zeit für eine alte Frau findest, versteht sich.“
Schwester Madelón nickt überrascht. Sie ist schockiert und geehrt von der offenen Rede der alten Königin. Aber mehr noch ist sie aufgeregt und dankbar: Eine Aufgabe erwartet sie, endlich einmal eine Aufgabe, die ihr Freude bereiten wird. Königliche Chronistin! Vergessen sind Wut und Verzweiflung.
Die junge Nonne weiß, dass das Leben für sie selbst nicht viel Bereit hält. Vor ihr liegt das entsetzlich langweilige Leben in einem Kloster. Aber jetzt wird sie von den Abenteuern der Königin zehren. Sie braucht das Leben der Königin, um das ihrige besser ertragen zu können. Madelón beschließt, heute Abend ein besonderes Gebet für sie zu sprechen.
Jetzt hilft sie der alten Dame auf und führt sie zur Äbtissin. Außerdem möchte sie versuchen, ihr schon an diesem Abend mehr von ihrer Vergangenheit zu entlocken.
Zur Laudes beginnt sie ihr Gebet kniend vor dem Altar der Kirche: „Herr, ich erbitte Deine Gnade für die unsterbliche Seele der Alienor von Aquitanien, Königin von Frankreich, England, Aquitanien, Anjou, Toulouse......“