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Erinnerungen ans Meer
So fest ich konnte, presste ich mein Ohr gegen die Tür und horchte. So sehr ich mich auch konzentrierte, da war nichts; nichts, was darauf schließen ließ, dass meine Eltern schon wach waren. Im Gegenteil... Ganz leise, aber durch seine Gleichmäßigkeit auffallend, hörte ich das Schnarchen meines Vaters und musste mir beide Hände vor den Mund drücken, um nicht laut loszulachen. Meine Mutter sagte immer, dass mein Vater nachts mehr Holz sägen würde, als der Mann vom Sägewerk, der während der kalten Jahreszeiten immer kam, und Holz für unseren Kamin brachte.
Ich rannte zurück in mein Zimmer und sprang wieder in mein noch warmes Bett. Ich schloss die Augen und versuchte, sie geschlossen zu halten. Vergeblich. Die rot leuchtenden Zahlen meines Weckers sagten mir, dass es 05:57 Uhr war. Zu früh für meine Eltern, um aufzustehen, und auch für mich, aber heute war es anders. Heute war mein Tag.
Ich starrte an die Decke. Schon seit Stunden. Ein schwacher Luftzug drängelte sich durch das halboffene Fenster und ließ den dort oben hängenden, kalten Rauch entspannt von einer Zimmerwand zur anderen schwappen. Es erinnerte mich ans Meer; an die Endlosschleife, in der das Wasser in einer Bucht auf einen Felsen trifft, sich zurückzieht, erneut Fahrt aufnimmt und wieder dagegen prallt.
Meine Augen brannten wie Feuer. Der Gedanke daran, sie zu schließen, wirkte jedoch absurd.
Draußen war es hell. Schon seit einer ganzen Weile. Um einzuschlafen, versuchte ich mich immer wieder auf die Geräusche der Straße zu konzentrieren; auf die Autos, auf die Stimmen der Fußgänger und auf das Klappern von Fahrrädern, die über das unebene Kopfsteinpflaster fuhren. Nach kurzer Zeit schon verschwammen die Geräusche jedoch; wurden zu akustischem Brei und heraus kamen immer neue Aneinanderreihungen von Tönen, die mich an elektronische Tanzmusik erinnerten und mir keine Ruhe gönnten.
„Oh Gott, wo sind wir?“ Mit geschlossenen Augen war Bella aufgeschreckt und packte meine Hand. Sie zitterte und ihre Finger waren schweißnass.
„Bei mir. Schon okay.“
„Ah. Gut.“ Sie seufzte, drehte sich um und schlief weiter.
Ich setzte mich auf die Bettkante und rieb mir die Augen. Auf dem Boden fand ich eine halbe Zigarette, unter ihr ein kleines Brandloch. Ich zündete sie an, stand auf und verließ den Raum; hinter mir murmelte Bella irgendwelche unverständlichen Worte.
Einige Minuten wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Nichts geschah. Ich konnte nicht mehr schlafen, fand keine Ruhe mehr. Ich stand auf, lief zum Fenster und kletterte aufs Fensterbrett. Durch die kleinen Schlitze im Rollladen sah ich die Sonne aufgehen. In gelb und orange schlängelten sich ihre ersten Strahlen durch den dichtbewachsenen Garten vor unserem Haus.
Ich streckte die Finger durch den Spalt des gekippten Fensters und spürte die Wärme einer der ersten Frühlingstage.
Mein großer Bruder, mit dem ich mir ein Zimmer teilte, verbrachte die Nacht bei den Nachbarn, weswegen ich der alleinige Herrscher über unseren kleinen Röhrenfernseher war. Ich drehte ihn so, dass ich den Bildschirm von meinem Bett aus sehen konnte, schaltete ihn ein und kroch zurück unter die Decke.
Mit dem einen Ohr hörte ich Gagamel und Azrael dabei zu, wie sie neue Schandtaten planten, mit dem anderen lauschte ich auf den Flur hinaus, um nicht zu verpassen, wenn meine Eltern aufstehen würden.
Bella betrat das Zimmer, während ich dabei war, jede einzelne Bierflasche gegen das Licht zu halten, um zu sehen, ob sich nicht in irgendeiner noch ein letzter Rest befand. Ich hatte Bella nicht bemerkt. Sie räusperte sich, ich erschrak.
Vollkommen nackt stand sie da. Ihre natürlich blasse Haut war noch blasser als sonst. Sie hob sich kaum von dem weißen Türrahmen ab, gegen den sie lehnte, und die Ringe unter ihren Augen wirkten noch tiefer als sonst und noch dunkler.
Sie versuchte sexy zu sein: Einen Arm hielt sie auf Kopfhöhe und lehnte sich mit dem Ellenbogen an; den anderen stemmte sie in die Hüfte und mit leicht zur Seite gesenktem Kopf zwinkerte sie mir zu.
Ihr Versuch scheiterte kläglich. Sie war kaum dazu in der Lage, gerade zu stehen, und ihre sonst so üppigen Brüste hingen schlaff vor ihrem gekrümmten Oberkörper. Ihr Teint ließ die zarten, orangenen Sommersprossen wie eine Hautkrankheit aussehen und ihre Beine waren mit blauen Flecken übersät. Ich hätte ihr gerne gesagt, wie hässlich sie war.
„Gut geschlafen?“, fragte ich und zündete mir eine Zigarette an.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Ist noch was da?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Und davon?“ Sie starrte auf den kleinen Spiegel, der auf dem Tisch lag.
„Auch nicht.“ Ich legte den Kopf in den Nacken, zog an der Zigarette, den Rauch bis in die tiefsten Tiefen meiner Lunge und atmete aus.
„Wir brauchen wieder was“, sagte sie und nahm den Spiegel.
„Mhm. Daraus wird aber wohl nichts.“ Ich zeigte auf meinen Geldbeutel. Sein Inhalt war auf dem Boden verteilt.
Bella hielt den Spiegel mit beiden Händen fest und starrte ihn an; vielleicht starrte sie auch ihr Spiegelbild an. Nach einigen Sekunden legte sie ihren Zeigefinger auf den Spiegel und fuhr die gesamte Oberfläche mit ihm ab, bis in die letzten Ecken, dann rieb sie sich die Fingerspitze an ihr Zahnfleisch.
„Hast du Geld bekommen?“, fragte sie schmatzend.
„Gute Frage.“ Ich zuckte mit den Schultern und ging zur Wohnungstür. Dort fand ich tatsächlich einen einzelnen Brief, der den Weg durch den Türschlitz gefunden hatte. Er war von meiner Mutter. Ich öffnete ihn und klappte die Karte auf.
„Nichts“, sagte ich und warf den Umschlag samt Inhalt auf den Tisch.
„Von deiner Mam?“, fragte sie und sah auf den unbeschrifteten Umschlag.
„Ja.“
„Was schreibt sie?“
„Keine Ahnung.“
„Willst du’s nicht wissen?“
„Nein.“
Bella nahm die Karte. Mit ihrem Blick tastete sie sie ab und bewegte dabei den Mund, ohne ein Geräusch von sich zu geben.
„Sie wünscht dir alles Liebe und viel Glück für die nächsten 365 Tage und eine gute Gesundheit.“ Während sie den letzten Teil vorlas, lachte sie leise. Ich riss ihr die Karte aus der Hand. Es handelte sich um einen Vordruck; das einzig Handgeschriebene darauf waren die letzten Worte:
Liebe Grüße, Christiane.
Das Fernsehen langweilte mich. Ich wollte ja zuhören und mich darauf konzentrieren, aber die kleinen, blauen Gestalten schafften es nicht, meine Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Ich drehte den Fernseher leiser und verließ das Zimmer. Auf Zehenspitzen schlich ich den Gang entlang, ganz leise, um Beethoven nicht zu wecken, der sonst nur gefüttert werden wollte.
Ich stand vor der Wohnzimmertüre und mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich, etwas durch das Milchglas zu erkennen. Vergebens. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Geburtstagstisch aussah, was für einen Kuchen meine Mutter gebacken hatte und welche Geschenke ich bekam. Von meinen Eltern wusste ich es bereits. Es war die Raumstation, die dort drin darauf wartete, ausgepackt zu werden. So lange ich mich erinnern konnte, hatten alle meine Geschenke etwas mit dem Weltraum oder Astronauten zu tun, denn genau das wollte ich immer werden. „Ich werde Astronaut, so wie Luke Skywalker!“ Davon war ich überzeugt.
Ich bat den lieben Gott darum, dass meine Eltern auch ein Geschenk für meinen Bruder hatten. Ich mochte es nicht, wenn er einfach nur daneben saß und mir dabei zuschaute, wie ich mich über meine Geschenke freute. Er musste auch etwas bekommen. Als Ausgleich. Etwas Schönes.
Mit einer Flasche Whisky und einer Schachtel Zigaretten kehrte ich zurück in die Wohnung. Bella und ich hatten unser letztes Geld zusammengekratzt, um wenigstens noch ein bisschen Feierlaune abzustauben, bevor sich dieser Tag der Freude seinem Ende zuneigen würde. Ich zog mir die Kapuze vom Kopf; mein Pullover war vom Regen völlig durchnässt.
Als ich das Wohnzimmer betrat, saß Bella auf dem Sofa. Sie hatte sich mittlerweile angezogen und versuchte aus dem Resttabak einiger Kippenstummel eine Zigarette zu drehen. Ihre Hände zitterten und sie zerriss ein Blättchen nach dem anderen. Auf dem kleinen Spiegel lag ein zusammengerollter Fetzen der Karte, die ich von meiner Mutter bekommen hatte.
„Alles klar?“, fragte ich sie.
„Mhm“, antwortete sie und sah zu mir auf. Ihr Unterkiefer zitterte, ihre Zähne klapperten und ihre Pupillen waren tellergroß.
„Woher hast du… ?“
„Gefunden!“, rief sie und riss jubelnd beide Arme in die Luft. Der Tabak ihrer nicht fertigen Zigarette verteilte sich dabei auf und neben ihr, doch es schien sie nicht zu stören.
„Wo?“, fragte ich.
„Wer is Anne?“ Sie griff nach den Zigaretten, die ich auf den Tisch geworfen hatte.
„Wie, wer ist Anne?“
Sie zeigte auf ein Stück Papier, das auf dem Tisch lag. Darauf standen ein Name und eine Telefonnummer. Ich erkannte den Zettel. Gestern Nacht, in dem Club, in dem die Lichter wie Sterne gefunkelt hatten, wo kein Auge trocken blieb und das Chaos seiner Wege ging, hatte ihn mir eine nicht unangenehm anzuschauende, junge Frau zugesteckt. Sie musste höchstens achtzehn gewesen sein und tanzte die ganze Nacht, bis zum Morgenrauen. Von ihrer zierlichen Nasenspitze tropfte der Schweiß, die Haare klebten an ihrer Stirn und sie lächelte, als sie mich durch die Menge sah. Sie tanzte und tanzte, ohne den Blick von mir abzuwenden und kam dann irgendwann auf mich zu. Mit dem Mund ganz nah an meinem Ohr, flüsterte sie durch den Lärm:
„Ich kann gerade nicht viel reden, ich muss tanzen, aber hier…“ Sie hielt mir einen Zettel unter die Nase. Darauf standen ihr Name und ihre Telefonnummer. Sie faltete ihn zusammen, ich nahm ihn und steckte ihn in ein kleines Tütchen, wo ich ihn sicher nicht verlieren würde. In diesem kleinen Tütchen, das ich vollkommen vergessen hatte, waren außerdem noch…
„Woher hast du das?“, keifte ich Bella an.
„Hosentasche“, sagte sie und zeigte auf die zusammengeknüllten Jeans, die ich letzte Nacht getragen hatte.
Ich suchte den Tisch ab und fand das Tütchen. Es war leer.
„Was hast du in meinen Hosentaschen verloren?!“
Bella sagte nichts. Sie zuckte nur mit den Schultern und grinste mich an und ich tat nicht einmal so, als wollte ich ihr Grinsen erwidern.
„Was soll der Scheiß?!“
Sie sagte immer noch nichts und grinste weiter. Ihre dümmlichen, sonst so schönen, tief grünen Augen, waren leer. Die Lichter waren an, aber niemand zuhause; die Discokugeln drehten sich, doch es lief keine Musik.
Ich sprang auf, packte sie an der Kehle und drückte sie gegen die Sofalehne. Sie riss die Augen auf, starrte mich an und gab gurgelnde Laute von sich.
„Wieso fasst du meine Sachen an?!“
Sie gurgelte weiter und ruderte mit den Armen in der Luft.
„Das sind meine Sachen! Da hast du nichts zu suchen!“
Ich drückte fester zu. Ich drückte sie fester gegen die Sofalehne und meine Finger fester zusammen. Sie riss die Augen immer weiter auf; ihr Blick wurde flehender, je länger sie keine Luft bekam. Mit aller Kraft drückte ich ein letztes Mal zu und nahm die Hand von ihrer Kehle. Ich ließ mich zurück in den Sessel fallen und rieb mir mit beiden Handflächen die Augen.
Bella hustete und keuchte und fasste sich an den Hals. Sie riss den Deckel von der Flasche, nahm einen großen Schluck und starrte mich an. Sie ließ mich nicht aus den Augen und nahm noch einen Schluck, doch diesmal schluckte sie ihn nicht, sondern spuckte ihn mir ins Gesicht. Sie sprang auf, riss ihren Mantel vom Kleiderhaken und ich hörte, wie die Wohnungstür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.
Ich war erstaunt, wie voll sie ihren Mund kriegte – bei dem Gedanken musste ich lächeln – denn ich war komplett durchnässt, ob vom Regen, oder vom Whisky, wusste ich nicht. Die Zigarette, die ich im Mund hatte, war dahin und ich zündete mir eine neue an und mein ganzer Körper brannte innerlich, als ich mit einem Zug die halbe Flasche leerte. Happy Birthday!
Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, die Türklinke nach unten zu drücken, um einen kurzen Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Meine Hand hatte schon auf ihr gelegen und ich hätte lediglich meinen Arm bewegen müssen, aber ich traute mich nicht, und ich wollte es auch nicht. Es wäre nicht dasselbe gewesen, weder für mich, noch für meine Eltern, wenn sie in meinen Augen nicht die Freude und die Überraschung über den ersten Anblick meines Geburtstagstischs gesehen hätten. Also rannte ich zurück in mein Zimmer, legte mich wieder ins Bett und drehte den Fernseher lauter.
Nach ein paar Minuten dachte ich, meine Mutter laut gähnen gehört zu haben. Hastig griff ich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ab. Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand und schloss die Augen. Vor Aufregung konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen und ich hoffte, dass meine Mutter nicht merken würde, dass ich bereits wach war. Dann öffnete sich die Zimmertür.
Ich lief im Kreis und mir war, als würden die Wände näher kommen und wenn ich es gekonnt hätte, wäre ich auch sie hochgegangen. Bella ging mir nicht aus dem Kopf. Sie und ihr lächerliches Gewinsel, bevor sie aus meiner Wohnung stürmte. Ich wollte, dass sie zurückkommt.
Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen, die Flasche stets in der Hand oder in greifbarer Nähe. Ich starrte immer wieder auf mein Handy, doch das Display schwieg mich an; dann ließ ich mich aufs Bett fallen und schloss die Augen.
In meinem Kopf lief ich nach wie vor im Kreis durch die Wohnung. Immer wieder. Wie ein Clown, den ich vor über zehn Jahren im Zirkus gesehen hatte. Palacio war sein Name. Glaubte ich jedenfalls. So oder so ähnlich. Ich wusste es nicht mehr genau. Egal. Palacio spielte Ukulele und seine Lieder waren schlecht, doch was mich damals fasziniert hatte war, dass er gleichzeitig auf dem kleinsten Fahrrad, das ich jemals gesehen hatte, fuhr und ihm seine Clownskollegen immer wieder brennende Fackeln in den Weg warfen, oder den einen oder anderen Salto, oder sonst einen Kunstsprung über ihn machten, um ihn abzulenken. Einmal ist sogar ein ganzer verdammter Tiger vor ihm rumgelaufen, aber Palacio ließ sich nicht ablenken, stürzte nicht und taumelte nicht einmal, sondern fuhr weiter im Kreis, bis ihm die Lieder ausgegangen waren und dann stieg er von seinem lächerlichen Fahrrad, verbeugte sich und die Show ging weiter mit irgendwelchen Hochseilakrobaten.
Mir waren für heute die Lieder ausgegangen. Ich raffte mich wieder auf und obwohl ich vollkommen übermüdet war, beschloss ich nach draußen zu gehen, um mich vom hereinbrechenden Abend durch die Stadt treiben zu lassen.
Ich hatte mir bereits meine Schuhe und meinen Jacke angezogen, als mein Handy klingelte. Auf dem Display erschien der Name meines Bruders, doch ich war mir sicher, dass er es nicht war, der mich anrief.
„Hey, na Große.“
„Hallo Onkel. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“
„Danke. Wie geht’s dir?“
„Gut. Mir geht es gut. Aber wie geht es dir? Feierst du schön?“
„Klar.“
"Mit wem?"
"Mit ein paar Freunden. Alles ganz gemütlich."
„Gut. Hast du schöne Geschenke bekommen?“
„Natürlich habe ich schöne Geschenke bekommen.“
„Was alles?“
„Ach dies und das, von allem ein bisschen.“
„Hast du dich gefreut?“
„Ja, hab‘ ich. Jeder freut sich doch über Geschenke, oder?“
„Ja. Stimmt. Aber an meinem letzten Geburtstag hat mir Tante Elli ein Puzzle geschenkt und das war für Babys. Das mochte ich nicht.“
„Naja, Tante Elli ist auch ein bisschen, du weißt schon…“
Sie kicherte, dann sagte kurze Zeit niemand etwas.
„Wie geht’s deinen Eltern?“, fragte ich.
„Gut. Ihnen geht es gut. Sie sind nicht da.“
„Wo sind sie denn?“
„Sie sind in … ich weiß es nicht.“
„Haben sie dich wohl ganz alleine gelassen?“
„Nein. Mozart ist doch da!“
Wir lachten.
„Natürlich. Mozart ist ein guter Aufpasser.“
„Ja.“
Wieder eine Pause.
„Onkel, weißt du was?“
„Was denn, Große?“
„Wir mussten am Montag mit Mozart zum Arzt, weil er in einen Dorn getreten ist und der war dann in seiner Pfote gesteckt.“
„Oh. Geht’s ihm wieder gut?“
„Ja. Er hat jetzt einen Verband… “, im Hintergrund meiner Nicht hörte ich ein leises Räuspern, „…und, aber jetzt geht es ihm wieder gut. Onkel, ich muss jetzt auflegen.“
„Okay. Mach’s gut Große und sag deinen Eltern, dass ich…“, doch die Leitung war bereits unterbrochen.
Ich starrte noch kurz auf mein Handy und wählte die Nummer meiner Mutter. Es klingelte einige Male. Sie hob nicht ab. Nur der Anrufbeantworter.
„Hallo Mama“, erzählte ich dem Tonband, „ich wollte nur eben sagen, dass ich deine Karte bekommen habe und mich dafür bedanken. Und, äh, ich hab jemanden kennengelernt. Sie heißt Bella und du wirst sie sicher mögen. Meld dich doch mal.“
Es hatte aufgehört zu regnen, aber es war kalt und ein unbarmherziger Wind wehte durch die Straßen. Um etwas Schutz zu finden, zog ich mir die Kapuze meiner Jacke bis weit ins Gesicht, doch dies erwies sich eher als Kampf gegen Windmühlen und eine Böe nach der anderen peitschte mir gegen die Wangen. Ich vergrub die Hände in den Hosentaschen und machte mich auf den Weg in die hereinbrechende Dunkelheit.
‚Diese Stadt ist ein verdammtes Kaff!‘, dachte ich, als ich Maya sah. Sie saß in der Ecke und ihr einziger Begleiter war ein halbleeres Glas. Sie grinste mich an, ich grinste zurück. Ich winkte Tom zu, der hinter der Bar die Schnaps- und Whiskyflaschen entstaubte, die so teuer waren, dass nie jemand davon bestellte.
„Wie immer?“, fragte er mich mit starkem britischen Akzent.
Ich nickte.
„Kann ich das morgen zahlen? Hab gerade keine Kohle dabei.“
„Du wolltest die letzten paar Male schon morgen zahlen.“
„Komm schon.“
Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, sagte:
„A’rite. Aber beim nächsten Mal gibt’s das nicht mehr." Dann stellte er ein Bier und einen Whisky vor mich auf die Bar.
Es war nicht viel los. Die meisten Gäste würden erst noch kommen, es roch nach Reinigungsmittel, und außer den Bediensteten, die Gläser polierten, Tische wischten und sämtliche Leuchtreklamen anschalteten, konnte man die restlichen Leute an einer Hand abzählen.
„Na du Stoffel.“
Ich drehte mich um und sah Maya neben mir stehen. Sie trug ein Lächeln auf dem Gesicht und ein Funkeln in ihren dunklen Augen.
„Hey. Alles klar?“, fragte ich und wir umarmten uns.
„Muss ja. Muss ja. Bei dir? Ganz alleine hier?“
„Läuft alles und nein; ich meine ja. Bin zu früh dran. Die anderen kommen noch.“
„Ah. Wie gut, dass ich jetzt hier bin und du Gesellschaft hast.“
Ich nahm den Whisky und hob ihn ihr entgegen, als würde ich mit ihr anstoßen.
„Warte noch!“
Ich setzte mein Glas wieder ab.
„Was er hat“, rief sie Tom zu. Er nickte.
„Und du?“, wir stießen an und tranken, „Wo ist der Rest der Gang?“
„Welche Gang?!“ Sie sah mich verwirrt an, ohne, dass ihr eingemeißeltes Grinsen verging.
„Naja, die Gang halt. Die coolen Kids von der Bushalte. Die Schulkloraucher. Die Cheerleader und Quarterbacks. Die…“
„Ist gut. Schon verstanden“, unterbrach sie mich, „Die arbeiten. Oder lernen. Oder irgendwas.“
„Wer hätte gedacht, dass einer von denen jemals arbeiten würde.“
„Ich gewiss nicht.“
Maya nippte an ihrem Bier und kurze Zeit sagte niemand etwas, doch ich bemerkte, wie sie mich von der Seite mit ihren großen Hundeaugen anstarrte. Sie wirkte nach wie vor wie das kleine, naive und viel zu lebhafte Mädchen, das nach Regentagen immer euphorisch von einer Pfütze in die nächste sprang und dann Hausarrest dafür kassierte, dass sie ständig mit nassen und schmutzigen Klamotten nachhause kam. Im Gegensatz zu meinen Eltern waren ihre unsagbar streng gewesen und obwohl sie gewusst hatte, was ihr blühen würde, wenn sie wieder pitschnass nachhause kam, ließ sie sich ihren Spaß nicht nehmen.
„Und du so?“, fragte sie mich. „Was treibt unser Überlebenskünstler, um sich sein Bier, das er morgen zahlt, leisten zu können.“
„Ach, mal dies mal das. Von allem etwas.“
„Hast dich immer noch nicht dem System gebeugt?“
„Niemals!“
Wir lachten und nach einer kurzen Pause sagte sie:
„Weißt du, ich fand das damals durchaus sexy an dir.“
„Was? Dass ich Batik-Shirts getragen und das schlechteste Abi aller Zeiten geschrieben habe?“
„Nein, du Idiot“, sie boxte mir gegen die Schulter, „Dass du dein gesellschaftsfeindliches Verhalten mit Leidenschaft an den Tag gelegt hast. Nicht wie die Assi-Punks, die so waren, weil’s cool war. Du hast es ernst gemeint und ich wusste, dass du niemals ein Leben wie ich und die Anderen führen wirst und ich wusste auch, dass du’s irgendwie schaffen wirst und voilà, jetzt stehst du hier und dir scheint’s gut zu gehen, obwohl du in der Zwischenzeit nie zum Anzug gegriffen hast.“
Stumm nickte ich, lächelte sie an und hob mein Glas.
„Darauf.“
„Darauf!“
Nachdem ich den letzten Schluck genommen hatte, nahm ich mein Handy aus der Tasche und sagte:
„Sorry, aber die Pflicht ruft.“
„Alles klar. Meine wohl auch bald. War schön, dich mal wieder gesehen zu haben.“
Ich stand auf und zog meine Jacke an und umarmte sie. Als ich schon beinahe draußen war hörte ich Maya hinter mir rufen:
„Hey. Sag mal, hast du nicht die Tage Geburtstag, oder so?“
„Die Tage. Ja.“
„Meld dich dann mal. Auf die alte Zeit.“ Sie hob ihr Glas.
„Auf die alte Zeit.“ Ich nickte ihr zu und stemmte mich gegen die Eingangstür, die der Wind von außen zudrückte.
Noch bevor ich den Schlüssel ins Schloss geschoben hatte, hörte ich laute Musik aus meiner Wohnung kommen.
„Hallo?“, rief ich und warf die Schlüssel in die Ecke. Keine Antwort. „Jemand hier?“
Ich konnte niemanden finden, doch das Chaos von letzter Nacht war gänzlich verschwunden. Keine leeren Flaschen, keine vollen Aschenbecher, kein dreckiger Boden und keine stickige, zum Schneiden dicke Luft mehr. Ich schloss die weit offenstehenden Fenster und als ich mich umdrehte, sah ich Bella auf mich zuspringen.
„Buh!“, schrie sie und ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, nachdem sie mich schwungvoll angesprungen hatte.
„Meine Güte! Willst du mich umbringen?!“
„Natürlich nicht, Baby.“
„Wobei die Daten dem Grabstein sicher gut stehen würden.“
„Stimmt. Das wäre eine VIP-Karte für die Insel, auf der Amy Winehouse und Kurt Cobain gerade in der Sonne liegen.“
„Recht hast du“, sagte ich und ließ sie wieder runter.
„Warst du das hier?“
„Ja!“ Stolz sah sie sich im Raum um.
„Wieso?“
„Als Entschuldigung. Für vorhin. Ich war ein ganz ungezogenes Mädchen, das ihr nimmersattes Näschen nicht unter Kontrolle hatte.“
Sie sah mich mit großen Augen an. Ich lächelte und küsste sie auf die Stirn.
„Ach ja“, sie drehte sich um und lief zum Wohnzimmertisch, „Vorhin war irgend ein Typ mit zottligen, grauen Haaren und einer albernen Brille hier und hat nach dir gefragt. Ich hab ihm gesagt, dass du nicht da bist, da hat er seine neue Adresse und seine neue Telefonnummer hier gelassen und ist wieder gegangen.“
„Schon wieder eine neue Adresse…“, murmelte ich.
„Wieso schon wieder? Wer war das?“
„Mein Dad… Egal… Danke.“
Bella setzte sich neben mich, als ich mir eine Zigarette anzündete, und drückte mir einen Aschenbecher in die Hand.
„Nicht wieder den Boden benutzen!“, sagte sie in gespielt ernstem Tonfall. „Das nächste Mal, wenn es hier so aussieht, als wäre ne Bombe eingeschlagen, habe ich vielleicht nichts gemacht, wofür ich mich entschuldigen muss.“
„Wie Sie wünschen, Mylady“, sagte ich in einem ebenso gespielten, unterwürfigen Ton.
Sie legte den Kopf auf meine Schulter und klammerte sich an meinen Arm und es fühlte sich gut an; es fühlte sich gut an, wie sich ihr Brustkorb langsam hob und wieder senkte, wie sie mit ihren Finger über meine strich und wie ihr Atem sanft meinen Hals streichelte. Ich wollte so sitzen bleiben, für immer und immer, und als ich beinahe eingeschlafen wäre, flüsterte sie:
„Ich hab übrigens noch was für dich." Ich hob den Kopf und sah sie an. Sie grinste. „Mit völlig leeren Händen hätte ich mich doch niemals hierher zurück getraut.“
Erwartungsvoll richtete ich mich auf. Sie nickte, griff unter den Tisch und zauberte den kleinen Spiegel hervor, den sie dort unten auf der Zeitungsablage verstaut hatte. Darauf erstreckten sich zwei feinsäuberliche Lines, die im gedimmten Licht der Stehlampe funkelten, als bestünden sie aus puren Diamanten.
„Woher hast du das?“
„Ein Gentleman fragt nicht, eine Lady verrät nicht.“
Ihre Augen glänzten, sie zog ihre Mundwinkel so hoch, dass sie beinahe einrissen, und drückte mir einen zusammengerollten Fünfziger in die Hand.
„Möchtest du mir dann wenigstens sagen, was das ist?“
„Baby, muss ich es denn noch mal sagen?! Ein Gentleman fragt nicht, eine Lady verrät nicht.“
Ich zuckte mit den Schultern, ‚nun gut‘, dachte ich, beugte mich nach vorne und zog.
Der Schmerz kam sofort; noch bevor ich wieder aufrecht gesessen war. Es fühlte sich an, als würden sich Abermillionen winzige Glasscherben durch meine Schleimhäute kratzen. Ich presste die Augen zusammen und hielt mir die Nase, um mich davon zu vergewissern, dass man sie mir nicht abgeschnitten hatte, denn genau so fühlte es sich an. Durch tränende Augen sah ich Bella an.
„Mein Gott, was ist das?!“
Sie lachte und sagte:
„Ist gleich vorbei.“ Und es war auch gleich vorbei und gerade als der Schmerz nachließ, wurde mir schwarz vor Augen. Ich merkte, wie ich meinen Kopf nicht mehr halten konnte, weil er eine Tonne zu wiegen schien, und ich merkte, wie ich das Gefühl in meinen Fingern verlor; ich konnte keine ihrer Bewegungen mehr kontrollieren und wie Würmer, die sich an meiner restlichen Hand festgesaugt hatten, wanden sie sich und ich erschrak, als ich feststellte, dass mir mein Körper nicht mehr gehorchte und ich in einer herrenlosen Hülle gefangen war. Ich versuchte etwas zu sagen, doch biss mir auf die Zunge. Eiserner Geschmack machte sich in meinem Mund breit und bevor ich das Bewusstsein verlor, hörte ich Bella etwas sagen; ihre Stimme klang schrill und als säßen wir in einem riesigen, leeren Raum:
„Ach Baby! War’s das schon?! Na gut, bleibt mehr für mich.“
‚Ja, Baby, das war’s schon‘, dachte ich, ‚Ich bin raus. Rien ne va plus.‘
Ich spürte die warme Hand meiner Mutter, wie sie sanft meine Wange streichelte.
„Wach auf, Großer“, sagte sie ruhig, „Heute ist dein Tag!“