- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Erinnerungen an sie
Erinnerungen an sie
Kristallklares Wasser sprudelte über die Steine hinweg. Zwischen winzigen Kieselsteinen suchte es sich seinen Weg. Die Sonne malte helle Reflexe auf die wirbelnde Wasseroberfläche. Glucksend umsprangen kleine Wellen eine Biegung des Wassers. Noch war das Wasser nichts weiter als ein Rinnsal, das sich schlängelnd seinen Weg durch einen lichten Wald suchte. Farne hingen vom Wind gebeugt am Ufer. Manch eines hatte eine leicht gelbe Färbung, die das Ende des Pflänzchens ankündete. Der schmale Streifen zwischen den Bäumen und dem Wasser war feucht und glitschig. Spuren längst gegangener Lebewesen waren zu sehen. Hie und da ein tieferer Abdruck eines schweren Tieres, das gemächlich vorübergelaufen war. Daneben die schmalen, weissen Stämme von zierlichen Birken, deren Blätter sich langsam lösten und goldgelb zu Boden fielen. Die Luft war erfüllt vom geschäftigen Treiben der Vögel, die sich nach Süden aufmachten und von den knabbernden Geräuschen flinker Eichhörnchen, die ihren Vorrat an Nüssen für den Winter anlegten.
Mitten in dieser Idylle der Natur sass still ein Mann. Er mochte kaum älter als dreissig Jahre sein. Ein vorüberhuschendes Eichhörnchen hätte ihn nicht bemerkt. Er sass da, die Augen ins Leere gerichtet, die Beine lose angewinkelt. Sein Gesicht war müde, seine Glieder schmerzten. Der Mann schien schon seit Ewigkeiten dazusitzen und nachzudenken. Ein gelbrotes Blatt löste sich und schwebte sanft zu Boden. Als es durch einen leichten Aufwind das Gesicht des Mannes streifte, vermeinte er die zärtliche Geste einer anderen zu verspüren. Durch einen Schleier sah er sie. Ihr Gesicht war weiss, rein. Sie lächelte. Es war das scheue Lächeln von jemandem, der nicht wusste, was er tun sollte. Doch sie streckte die Hand nach ihm aus – eine liebevolle Geste. So als wolle sie sagen: „Komm zu mir, ich vermisse dich schrecklich.“ Ihr Lächeln verschwand und machte einem traurigen Ausdruck Platz. Sie wich zurück. Die Erinnerung verblasste.
Er fand sich im Wald wieder. Noch immer hing der bittere Nachgeschmack dieser Erscheinung auf seinen Lippen. Er befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Sie fühlten sich trocken an. Seit wann hatte er nichts mehr getrunken? Doch er wagte es nicht, aufzustehen. Sie würde ihn verhöhnen. Eine einsame Träne rann ihm die Wange hinab. Sie suchte sich ihren Weg ebenso wie das Wasser. Einzelne Tropfen, die einen Strom ausmachten. Die Träne der tiefen Trauer. Der Wald war so friedlich – alles lief seinen gewohnten Gang. Doch sein Leben war für immer aus diesem Alltagstrott geworfen. Niemals wieder würde es so sein, wie es früher einmal gewesen war. Früher – in einem anderen Leben. Der Mann schloss die Augen. Ja, vorher war es wunderschön gewesen, einem Traum gleich. Gemeinsam mit ihr. Die Tage waren verronnen, mit ihr an der Seite durch einen blühenden und wundervoll duftenden Rosengarten.
Das Gesicht erstrahlte von neuem. Hell und leuchtend wie zuvor. Doch diesmal war es still. Keine Regung zeigte sich. Sie stand nur still da und beobachtete. Worte, längst gesprochen, ertönten erneut. „Du weisst, ich liebe dich. Vergiss das nie. Eines Tages wird einer von uns gehen und nie wieder zurückkehren. Doch die Erinnerung lebt weiter.“ Hell und zauberhaft erklangen diese Worte. Sie trösteten ihn. Seine Erinnerung an sie würde niemals verblassen. Niemals.