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Erinnerungen an Ralf
Vor unserem kleinen Haus, stand ein alter, dicker Baum, dessen Äste überall hoch im Himmel ragten. Was für ein Baum das war, weiß ich bis heute nicht, es hat mich nie interessiert. Wichtig war nur, dass er da stand, wo er war und immer für mich da war. Heute stehen einige Kakteen in meinem Zimmer, auf der Fensterbank. Um Kakteen braucht man sich nicht zu kümmern, sie sind einfach immer da.
Um den Baum war Wiese. Das war gut so, man konnte beim Spielen um den Baum herum laufen. Ich stellte mir es oft schön vor, um den Baum herum Fangen zu spielen, weil ich wohl aus Instinkt wusste, dass glückliche Kinder so etwas taten. Ich wollte immer ein glückliches Kind sein, aber viele solcher ganz alltäglichen und normale Dinge, die großes Glück versprechen, wurden von meinem, von Eigenarten, Zufällen und ganz unnormalen Ereignissen durchzogenen Leben verhindert.
Ich hatte damals nämlich nur Ralf als Freund. Ralf war anders. Ralf musste immer auf Krücken gehen oder im Rollstuhl sitzen, weil ihm eine unbekannte Macht das Knie zertrümmert hatte. Und später, als ich schon andere Freunde gefunden hatte, war ich wohl schon zu alt, den Baum zu umfangen. Ralf konnte ich natürlich nie etwas von diesem Traum erzählen, das hätte ihn sicher beleidigt und obwohl er aus Ehrgeiz wohl seine Krücken genommen hätte, um mich Stunden lang um den Baum zu jagen, wäre das nicht das Selbe und wäre für mich eher lächerlich und beschämend gewesen.
Nein, Ralf war für Diskussionen da. Ralf war das Hirn, das sich durch unser Leben dachte und aus allem in Gedanken ein Spiel machte. Das war aber kein Fußballspiel, wobei wir einige Jungs aus unserem Dorf manchmal beobachteten, oder kein Fangen und auch kein Seilspringen, was die Mädchen so übermenschlich konnten. Ralfs Spiele waren ganz anders als diese Beschäftigungshetze.
Einmal nahmen wir Werkzeug aus dem Schuppen des alten Georg. Der war mit dem alten Wagen in die Stadt gefahren und hatte Gartentor und Geräteschuppen offen stehen gelassen. Als wir unser Revier durchstreiften, bemerkte Ralf den Missstand sofort und ich ging und er krückte vorsichtig in den Garten zum Geräteschuppen. Gespannt sahen wir hinein und es kam uns ein ungewohnter Geruch von altem Holz und rostigem Eisen und staubiger Luft entgegen. Im Schuppen lagen modrige, halb verrostete Schrauben, Gartenhacken und Schraubenschlüssel, eben alles, was der alte Georg für seinen Wagen oder den Garten brauchte, unser Schatz. „Wir machen eine Werkstatt auf!“, rief Ralf entzückt. Ich belud mich mit allem, was Ralf fachmännisch als brauchbar einstufte und wir trugen die Sachen in den Wald.
An einem Platz, wo die Bäume günstig standen, setzte sich Ralf ins Unterholz und wies mich an mit dem Bau zu beginnen. Ich legte die Werkzeuge neben ihm ab und begann sofort den Boden mit Fuß und Hake von der dicken Haut aus Blättern zu befreien. Diese Tätigkeit war aber nur Nebensächlichkeit. In Wahrheit ging es darum sich auszumalen, wie die Werkstatt wohl wachsen würde und wir immer weitere gründeten und eigenes Werkzeug hatten und jeder auf der Welt bei uns sein Auto reparieren wollte und wie wir wachsen würden und immer andere Unternehmen gründen würden und überall vertreten waren und nicht wüssten, was wir mit all dem Geld machen sollten, außer uns alle materiellen Dinge zu kaufen, von denen wir nur irgendwann einmal flüchtig gehört hatten. Die Magie, die hinter solchen Wunschträumen steckte, der Reiz, der darin lag, mit dem Fuß Blätter umher zu schieben und mit dem Kopf in einer Welt zu schweben, die nur durch unser Vorstellungsvermögen und die Phantasie begrenzt war, prägte mich wohl für mein ganzes späteres Leben. Wenn der eine im Erzählen Luft holte, sprang der andere sofort mit seinen Ideen ein und es wurde unterbrochen und wir sprachen immer schneller, um immer mehr zu erzählen, in gegenseitiger Konkurrenz um die schönsten Einfälle, in gegenseitiger Konkurrenz mit der Zeit und dem Leben, das uns wieder einholen würde, wenn wir schwiegen. So saßen wir im Wald und schrieen uns, wenn Unterbrechung auf Unterbrechung folgte fast an und hatten unser Bauprojekt schon ganz vergessen und waren dabei, wie wir die Politiker bestachen, um uns zu dienen, sprachen davon, wie wir alle bestachen, um selbst Politiker zu werden. Es war Ralf, der plötzlich wieder alles, was wir uns bis dahin aufgebaut hatten verwarf und vorschlug „Vielleicht sollten wir auch eine Räuberhütte bauen, hier in den Wald fahren sowieso keine Autos. Du kannst dann am Anfang immer klauen und ich verwalte die Beute, bis wir mehr Räuber anwerben und wir zusammen verwalten und wir ein zweites Räuberlager aufschlagen und nicht nur die Leute in unserem Dorf wie den alten Georg beklauen, sondern auch im Nachbardorf und überall.“ Ich erschrak, als mich Ralf mit einem Dieb gleichsetzte, aber dann schmeichelte es mir auch wieder, denn Diebe sind mutig und ich war noch so aufgewühlt, von der Werkstatt Idee, dass ich sofort auf die Räubergeschichte einging.
Vielleicht ist einzig und allein die nach all den Jahren noch ungebrochene Sehnsucht nach solchen sich in sich verschlingenden Gesprächen und geistiger Erlebnissen, in denen man leicht wie ein Vogel mühelos und größenwahnsinnig über die kleinen Geschöpfe am Boden hinwegschwebt. Heute bin ich genau eines dieser Geschöpfe am Boden, das mit seinem Aktenkoffer durch die Welt bewegt und von seinem Computertisch aus seine Kakteen betrachtet.
Mein Vater hatte einige Beatlesplatten, die ich bald als meine Musik ausmachte. So hockte ich Stunden lang vor dem alten Plattenspieler und lauschte den Tönen, die ich schon auswendig konnte und den Texten, die ich nicht verstand. Das war ein guter Ersatz für Ralf. Der war nämlich wieder einmal krank. Sie hatten ihm sein Knie operiert. Ich besuchte ihn häufig. Ich war nämlich schon damals voller Sehnsucht nach Gedanken umschlingenden Traumgesprächen. Davon war aber nichts zu spüren. Ralf lag in seinem Bett und wir unterhielten uns zimperlich. Es war plötzlich eine Distanz zwischen uns, die ich von jedem kannte, aber nicht von Ralf. An Traumgespräche war nicht zu denken. Ich wollte Ralf wenigstens an der Musik teilhaben lassen, sie war etwas Besonderes und würde ihn bestimmt auch zu einem anderen Menschen machen. Ich legte eine Platte auf, aber es war nicht dasselbe. Die Musik schien mir viel fremder und schlechter als zu Hause. Er sagte, die Musik gefiele ihm. Irgendwie war das aber nicht genug. Ich versuchte mit einem meiner Lieblingslieder nach dem anderen. Aber der Zauber der Musik ließ sich einfach nicht beschwören. Als ich zum Mittagessen ging, bat mich Ralf ihm einige Platten auszuleihen.
Wir hörten jetzt immer Beatles Platten, wenn ich Ralf besuchen kam. Der Zauber der Musik war zwar wieder da, aber ich hatte doch eine viel tiefere Sehnsucht nach umschlingenden Gesprächen. Solche Gespräche waren wie eine warme Decke mit denen man sich zudecken konnte, wenn man vom Leben Abstand suchte und sich in seiner Bequemlichkeit und seinem Glück suhlen wollte.
Ralf wollte nicht gesund werden und wenn er wollte, konnte er nicht. Mir wurde es zu Hause langweilig. Ich freundete mich mit den Fußballspielern unseres Dorfes an und unterschied mich kaum noch von den normalen Dorfjungen, die sich gegenseitig beschimpfen und niedermachen und von denen jeder der größte und stärkste sein will. Ich kam Ralf nicht mehr besuchen. Bald ist er mit seiner Familie weggezogen, weil es im Dorf keine gute medizinische Betreuung für sein Knie gab. Die Erinnerung an ihn beschäftigt mich aber bis heute. Was er wohl jetzt macht?