Erinnerungen an meine Kindheit
Damals vor 43 Jahren wäre Hermann 14 Jahre alt geworden, er war mein bester Freund.
Vergangenen Sommer, im Kinderfreibad, am Fußballplatz, auf der Pfarrwiese, am Flußufer, wo wir mit der Hand noch die Fische ..............!
Hermann, der furchtbar Lustige und zugleich furchtbar Traurige, der wie so oft wegen jeder Kleinigkeit mit mir zu raufen begann, seine Schultasche nach mir warf, aber mich stets anderen gegenüber uneigennützig verteidigte, auf ihn konnte ich mich verlassen.
Und wenn wir uns am Schulweg nicht gleich trafen, mußten ja täglich 20 Kilometer hin, und wieder 20 Kilometer mit dem Zug zurück fahren, so wartete immer einer auf dem anderen.
Und wenn er mich sah, riß er immer die Hand in die Höhe, schwenkte sie grüßend und stieß einen hellen Begrüßungsjuchzer aus.
Unsere gemeinsame Schulzeit war von einer unbekümmerten Lebensfreude geprägt.
Damals war vieles ja nur Spaß gewesen, jetzt war es schon eine ganz andere, ernsthafte Geschichte. Erstmal lernte ich, daß es auch Schattenseiten des Leben gab.
Hermann wurde ins Krankenhaus gebracht, seine Eltern erklärten mir, man hätte bei einer Untersuchung einen Tumor in seinem Kopf festgestellt.
Ratlosigkeit stellte sich bei mir ein, konnte nicht begreifen, welche Konsequenz und Gefahren es für Hermann bedeuten konnte, so direkt wurde ich noch nie in meinem kurzen Leben mit der brutalen Wirklichkeit konfrontiert.
Die Frage um die Zukunft von Hermann beunruhigte mich ganz außerordentlich, ich tat mir schwer bei dem Gedanken, diesen Sommer keine Raufereien, keine Indianerspiele, kein Fußballspielen mit zerschossenen Fensterscheiben, kein Fischen an unseren geliebten Bach mit Hermann erleben zu können.
Für ein paar Tage kam Hermann nach Hause, seine Eltern waren zu traurig und wollten niemand an ihm heran lassen, aber ich durfte Hermann kurz besuchen, bevor er seine Reise nach Wien in eine Spezialklinik zur notwendig gewordenen Operation antrat.
Hermann lag ruhig in seinem Bett, den Mund ein wenig offen, den Blick der hellen Augen ins Leere gerichtet, wie geistesabwesend saß ich bei ihm und grübelte und sann über das Schicksal, welches doch so geheimnisvoll war.
Einmal blickte mir Hermann ins Gesicht und ein Lächeln huschte über sein blasses, bereits mit altklugen Zug versehenem Knabengesicht.
Eine Sehnsucht nach etwas unaussprechlich Schönem schien sein Blick zu sagen.
Kein Ton kam uns von unseren Lippen, beide schauten wir uns nur an, genauso, als bräuchten wir gar nichts sagen, wir verstanden uns auch so.
Hermann war schon ein wunderbarer Junge, in manchen Dingen konnte ich mich nicht im entferntesten mit ihm messen. Obwohl wir beide gleich alt waren, hatte ich das Gefühl, er wäre schon uralt, seine Kindheit längst abgelegt, schon eine Vorahnung?
Seine Eltern baten mich nach einer doch längeren Zeitspanne zu gehen, ich wußte, Hermann würde es weh tun, er fürchtete genauso den Abschied, Verzweiflung stand jeden ins Gesicht geschrieben.
Die Eltern selbst verzweifelten, oft beteten sie zum lieben Gott um Hilfe, und dabei mußte ich denken: Wenn Gott doch nur den Hermann wieder gesund werden ließe, es war doch so unbegreiflich, daß der Allmächtige da nicht helfen wolle.
War es das letzte geschenkte Lächeln von Hermann – ich wagte es kaum zu denken – war es bereits ein Abschied für immer?
So ging ich, wanderte stundenlang träumend auf Wald- und Wiesenwegen dahin, heimgehen wollte ich nicht, zu viele Rätsel plagten mich, die ich nicht lösen konnte, die Frage nach dem WARUM stand wie eine hohe Mauer vor mir, die ich nicht zu erklimmen vermochte, erhoben vor meinem Geist und verschossen vor der Welt.
Tränen tropften auf meine Wange, ich wischte sie eilig fort, so ein großer Junge und noch weinen – aber dann ließ ich doch den Tränen ihren freien Lauf.
Heute nach 43 Jahren machte ich wieder einen Spaziergang durch unser Dorf, diesmal aber nicht alleine, ich hatte meine zwei Enkelkinder, Zwillingsschwestern Anna und Kathi an meiner Seite.
Es schneite zum erstenmal in diesem Jahr, große, weiche Flocken sanken ganz ruhig in gleichförmigem Fluge auf die Erde nieder, hingen als weiße Federblüten in den hohen, dürren Herbstgräsern und hefteten sich an die Baumstämme, wo man die seinen Formen ihrer Krystallsterne auf dem grünen Rindenmoos flimmern sah.
Dann kam eine Hast in das Schweben, eine Unruhe, als würden die Flocken heftig aus dem grauen Wolkenbett verjagt; immer eiliger flatterten und taumelten sie durcheinander, bis sie in tollem Wirbel alle Gegenstände einhüllten.
Entzückt blickte ich meine Enkelkinder an. Wie ihre Augen und ihre kleinen, runden Bäckchen
leuchteten unter dem weißen Flaum, der ihre Samtkäppchen, ihre Schultern und ihren Muff bedeckte! Welch’ ein reizender Schmuck das war!
Sie standen wie kleine Winterköniginen unter den beschneiten Tannen. Konnte man sich etwas Hübscheres vorstellen? Und der Wald, der kahl, grau und langweilig öde dalag, hatte binnen einer Stunde ein völlig anderes, geheimnisvoll prächtiges und doch trauliches Ansehen bekommen durch das schimmernde Weiß, das einen so kräftigen Gegensatz zu dem Grün der Fichten und dem dunklen Baumgeäst bildete. Ich schwelgte in dem Vergnügen an dieser jähen Verwandlung der Dinge ringsumher, welche Schönheit es doch in unserem Leben gibt.
Ohne mir darüber klar zu sein, wußte ich plötzlich – es war einmal alles anders gewesen.
Ich empfand wieder den Schmerz und litt wieder unter den Gefühlen, damals als wir schieden und Hermann sich nicht mehr mitteilen konnte. Albern und verrückt nach so vielen Jahren, fand ich, aber dann war ich doch heimlich stolz auf mich und meine wunderlichen Träume.
Ich träumte, daß Hermann in den grauen Wolken lag und mit seinen Händen die Schneeflocken herabwarf – immer mehr – immer mehr, um ihm die häßliche Erde zu verhüllen. Und endlich löste sie sich in seinen Empfindungen ganz zu Schneeflocken auf und schwebte lustig und feierlich im Reigentanz durch die Luft zu ihm nieder.
,,Opa, starre nicht so in die Gegend,” hörte ich Anna und Kathi sagen, „uns wird schon ganz fad, wenn wir nur so herum stehen!“
Meine Stimmung schlug dann doch plötzlich um, ich griff eine Hand nach der anderen voll Schnee, ballte sie und warf sie meinen Enkelkindern in den Nacken. Dann balgten wir uns gehörig, lachten und kreischten.
Und doch kam die Traurigkeit wieder zurück, ich blickte meine Enkelkinder schweigend an und mein Blick kehrte zurück, sah wieder Hermann, in seinem noch so kindlichen Gesicht lagen Furcht und Erstaunen vor dem großen Geheimnis, das langsam und leise durch das Haus schlich – leise und langsam einen aus unserer Mitte hinweg nahm.
WOHIN?
Und so auf und nieder mit meinem Schmerzenston, auf und nieder mit einer Eintönigkeit, die ermüdete und aufregte, die fast zur Verzweiflung führte, daß man hätte fliehen mögen bis ans Ende der Welt – nur um nichts mehr zu hören.
Irgendwie bekamen meine Enkelkinder die Stimmung mit und wir rückten nun eng aneinander, und endlich kam ein Augenblick, in dem der Schmerzenston verstummte und alles plötzlich in eine große, feierliche Stille versank.
Die Kinder klammerten sich atemlos aneinander und ich lauschte weiter . . . Die Stille war nicht erlösend – sie war fürchterlicher und schreckenerregender als alles Frühere.
,,Er ist wohl friedlich eingeschlafen,” dachte ich, aber niemand konnte mir antworten.
Ich werde niemals in meinem Leben vergessen, was Todesstille bedeutet, die Bilder der Beerdigung von Hermann kamen wieder in den Sinn, Hermanns Vater, er war still und ernst, etwas steif und förmlich, wie Männer werden, wenn sie einen großen Schmerz beherrschen wollen.
Ich stand irgendwo zerstreut und meine Augen blickten geistesabwesend ins Leere, viele aus dem Freundeskreis von Hermann äußerten sich mit Tränen. Gedanken und Gefühle, die uns quälten, rangen nach Form und Ausdruck.
Auf dem Kirchhof, an Hermanns offenem Grabe, während der langen Rede des Predigers, die in einförmigem Tonfall ungehört an mein Ohr schlug – da kam es plötzlich – da wurde es mit einemmal lebendig in meinem Kopf: Worte, Gedanken, Bilder, Reimklänge tauchten in mir auf und fügten sich leicht und harmonisch ineinander, daß ich selber fast davor erschrak – vor dieser neuen Fähigkeit, die ich noch nicht in mir kannte.
Ich stahl mich davon, als die Leidtragenden auseinandergingen, und kritzelte in meinen Schülernotizblock nieder, was in meinem Kopfe entstand.
Ich wußte, daß ich Hermann niemals vergessen konnte.
Aus dem Tode des armen Jungen war in mir die lebendige Kraft entsprungen, die ich sorgsam und heimlich hütete als eine schicksalsmächtige Gabe, welche mir den Weg in die Zukunft wies.