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Eric
17
"Acht mal sieben?"
"56. Weiß ich doch."
"Konzentrier‘ dich einfach! 11 mal 12?"
"132."
"Gute Connection, sehr gut."
Der Vater war starr über den Monitor gebeugt und drehte sachte an einer Stellschraube.
"Und jetzt paß auf: 86 mal 94?"
Eric blickte erschrocken auf. Er wollte etwas sagen, doch das Gesicht seines Vaters erschien ihm so abweisend und verschlossen, daß er stumm blieb.
"86 mal 94?" Die Aufgabe, erneut ausgesprochen hing jetzt wie eine Drohung im Raum.
Eric dachte.
Dann, aus einem Nebel heraus, kam eine Antwort. Er wußte nicht einmal, ob er sie sah oder hörte, doch formten sich Ziffern im trüben Bewusstseinsbrei. Eine Acht. Eine Null. Eine Drei - oder noch einmal eine Acht. Noch eine Ziffer, nur welche?
"Denke die Aufgabe noch einmal! Mit Nachdruck!"
86 mal 94! Eric schrie die Zahlen in Gedanken, als würden sie etwas bedeuten. Und dann, nur einen Augenblick später, kam ein klares Echo.
Acht- zack - Null - zack - Acht - zack - vier.
Er murmelte: "Acht - null - Acht - vier"
"Sprich sie richtig aus - und deutlich!"
"Achttausendvierundachtzig."
Die Zahl stand in seinem Hirn, in ihrer schlichten Vierstelligkeit, als wollte sie sich bewundern lassen.
"Bravo."
Der Vater schaute zu seinem Sohn herüber, lächelte für eine Sekunde.
"Gute Parameter. Nicht schlecht fürs erste Mal. Jetzt wird's leichter, bleib aber konzentriert."
Er starrte wieder auf den Monitor.
"96 mal 78?"
?
"Verkrampfe nicht. Denke die Aufgabe und entspanne Dich!"
Entspannen.
Dann sah Eric die Zahlen. Kaum verborgen, schienen sie auf den leisen Ruf zu warten um hervorzutreten. Sie waren leicht, quecksilbrig. Er hatte einen bisher unbekannten Bereich seines Gehirns betreten (in dem die Zahlen herrschten).
Kommt herbei, ihr kleinen perlenden Wesen! Schiebt euch übereinander, verarbeitet Euch!
96 mal 78 war 7488.
"Siebentausendvierhundertachtundachtzig." sagte er.
Andere Zahlen. 112 mal 322. 36064. Die Zahl prangte fett vor seinem geistigen Auge, wurde verdrängt von 877 mal 555.
Wumm, kam das Echo, 486735. Hatte er überhaupt gerufen?
Dann kamen die X-se. Erst verschämt und zögernd, doch bald traten sie überall hervor.
"Siehst Du ein X?" fragte der Vater.
"Ich sehe tausende X-se!" schrie Eric, ausser sich. Sie marschierten in Reihen entlang, begannen miteinander zu tanzen. Verketteten sich zu Termen.
Differenzier mich! riefen sie.
Differenziere! dröhnte es in ihm, hallte leiser und leiser nach.
Das Licht ging aus.
Ein klebriger Stumpfsinn blieb zurück. Keine Zahlen mehr. Das Hirn, ein erschöpftes Gelände. Es war ohne Fähigkeiten.
"Gut." Die Stimme seines Vaters, vertraut und beruhigend.
"Das ist für heute genug."
Er schaltete das Gerät ab.
Eric fasste sich auf den Kopf, seine Glatze war feucht. Er betastete zart die silbrige Metallkuppe, die über der Stirn seine Schädeldecke durchstieß.
Der Wurzelknoten des Neuronenbaumes, verquickt mit ein paar Schaltkreisen.
Und Sendern, Antennen - das Vorhirn.
Bei seinem Vater wirkte die Kuppe der Transpersonalen edel. Sie vergeistigte ihn. Er dagegen fühlte sich wie ein Einhorn. Zur endgültigen Lächerlichkeit verurteilt.
Eric ging zu seinem Vater hin.
„Du hast jetzt eine ganze Menge Möglichkeiten.“ dozierte dieser. „Ich an Deiner Stelle würde sie jetzt eruieren. Die Mathe-BEM ist für den Anfang nicht schlecht.“
„Wie geht sie weiter?“
„Fürs Erste bist Du nicht mehr als ein besserer Taschenrechner. Du hattest kurz Chapter 2 gestreift, aber Du konntest nicht damit umgehen. Ohne Anstrengung wird da gar nichts. Du musst üben und üben.“
Eric schluckte. Er hatte diese Rede schon zu oft gehört.
„Komm!“ sagte der Vater. „Machen wir Abendbrot. Ich haue uns ein paar Eier in die Pfanne. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten.“
18
Das Ding ähnelte einem komischen Pinsel. Der massige Kopf verjüngte sich rasch und ging in ein filziges Geflecht über, das sich immer mehr zerfaserte. Die Härchen waren um die zwanzig Zentimeter lang und sie waren unzählig. Kaum sichtbar, flimmerten sie unablässig, vor allem wenn man sie ins Licht hielt. Sie blieben nie still. Ließ man sie nach unten hängen, dann synchronisierten sich die zitternden Bewegungen und das Büschel begann zu pulsieren. Drehte man die Transe dagegen nach oben, begannen die Fasern zu tanzen. Sie schienen sich aneinander festhalten zu wollen und sie blieben für etliche Sekunden himmelwärts gerichtet, bis sie schliesslich an allen Seiten des Stieles herunterfielen, dann aber heftig ausschlugen und sich manchmal bis zur Filzmatte hochkringelten.
Jetzt krochen diese Fasern durch sein Gehirn. Ein Baum aus Millionen von Neuronen auf der Suche nach Symbiose. Zuckende Würmer mit kleinen Saugnäpfen, Synapsen der anderen Art.
Eric zog sich die Kapuze über seinen Kopf, denn es war kalt.
Die Gedanken jagten sich in einem Kopf und kein angenehmer war dabei.
Gute Connection.
“Ich bin ein Interface“, murmelte er.
Nach kurzem Zögern betrat er den Club.
Die meisten hier waren Jungs in seinem Alter. Sie lungerten herum – auf Sesseln, dem Fußboden, an der Bar. Sie wirkten nicht lässig und sprachen nicht viel.
Ein Junge kam aus dem Klo, sah Eric und ging direkt auf ihn zu.
Er hatte ein dreckiges und löchriges T-Shirt an, das wahrscheinlich roch.
Retro-Sahel Style.
Das Einzige, was Eric an dem Anderen vertraut erschien: dass der genauso ein gehörnter Glatzkopf war wie er selbst.
„Du bist neu hier?“ sagte der Andere.
„Ja. Sieht man das?“
„Ich merk‘ so was gleich. Hi, ich bin Igor.“
„Eric.“
„Warte, ich hol mein Trinken.“ Igor huschte zur Bar und kam mit einer Flasche zurück.
„Kannst‘ trinken.“ sagte er und reichte Eric das grüne Gesöff.
„Wozu ist das gut?“
„Für manches. Es öffnet. Die Verbindung wird besser, die Synapsen tanzen. Schmiere für das Vorhirn.“
„Nein.“ Eric sprach tonlos. Er fühlte sich steif wie ein unglücklicher Idiot.
„Dann nicht.“ Igor nahm einen kräftigen Schluck und rülpste.
„Setzen wir uns.“ bestimmte er und Eric trottete seinem neuen Bekannten hinterher. Sie liessen sich auf einem molligen Sofa nieder, Igor nuckelte an seiner Flasche.
„Machen wir eine Transe?“ fragte er
„Ich weiss nicht.“ murmelte Eric. Er schaute sich um.
„Was ist in dem Raum da hinten?“ fragte er.
„Da läuft eine Session. Seit gestern Morgen. Kommst‘ du nicht rein. Fünfundzwanzig Löhrlis hängen dran.“
„‘Ne ganze Menge.“
„Ach was! Guru-Scheiss.“
„Wieso?“
„Der Weg zu einem höheren Bewusstsein und solcher Dreck. Und einer macht den Obermacker. Eh‘ komm.“ Er trank die Flasche leer. „Ich hab‘ keinen Bock mehr zu reden. Machen wir ‘ne Transe!“
„Na gut.“
Igor warf ihm eine Haube zu.
„Setz sie auf! Du wirst mit meinen Augen sehen.“
Eric gehorchte, er sah nichts mehr.
„OK.“ Igor sprach jetzt gedämpft. „Die Basisconnection steht. Ich hab‘ deinen Sender. Response OK, phantastisch.“
Er schien zufrieden.
„Ich fick‘ Dich.“ murmelte er.
Etwas später bemerkte Eric, daß jemand da war. Ein dumpfes, nicht sehr freundliches Bewusstsein wanderte umher.
21
„Hm.“
Die Frau hinter dem Schreibtisch kniff die Lippen zusammen. Sie war nicht viel älter als Eric, keine dreissig. Elegant gekleidet, hübsches Gesicht. Sie strahlte Zufriedenheit aus und fühlte sich offensichtlich wohl in ihrem Leben.
In ihrem Beruf, ihrem Körper, mit ihrem Freund….
Ein Wesen aus einer anderen Welt.
„Das wird leider nichts.“
Trotz seiner einundzwanzig Jahre war Eric noch Jungfrau. Er litt unter dieser sexuellen Misere wie auch unter seiner Unfähigkeit, sich zu verlieben.
Er fühlte sich angeschaut. Der Blick, der auf ihm lag, erschien ihm so mitleidig, daß er sich elend fühlte wie lange nicht.
„Wieso?“ fragte er kehlig.
Die Frau blickte auf die Testunterlagen.
„Du hast einen IQ von 115. Das reicht leider nicht.“
Sie duzte ihn.
„Wieviel muss man denn haben?“
„125.“ sagte sie weich. „Manchmal akzeptieren wir auch schon jemanden mit 120, wenn der Bewerber geeignet scheint.“
„Da fehlen ja nur fünf Punkte.“ rief Eric aus. „Wenn ich den Test wiederhole, schaffe ich es vielleicht!“
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Leider sind die anderen Parameter auch nicht so gut. Vor allem bei der Konzentrationsfähigkeit gibt es ein Manko.“
Er starrte auf ihre Brüste.
„Sieh mal Eric.“ fuhr sie fort. „Eine transpersonale Union ist ein Netz, das von den seinen Knoten gespeist wird. Und wenn mit denen nicht viel los ist …“
Die Frau sah, wie Eric errötete.
„Oh, entschuldige.“ sagte sie leise
„Schon gut.“
Eric verabschiedete sich. Durch das Fenster sah er, daß unten ein Verband vorbeiging. Der Anführer mit stierem Blick; eine Mutterglucke, die darauf bedacht war, dass die Meute zusammenblieb. Der Rest des Schwarmes, blind und abwesend, folgte taumelnd.
Zwischen den Teilnehmern, das hatte Eric gelernt, bildeten sich neuronale Bahnen aus, die sich immer mehr festigten. Je länger eine Union bestand und je mehr ihre Bestandteile miteinander harmonierten, desto mehr bekam sie ihre eigene Persönlichkeit. Sie wurde zu einem Bewusstseinspool, in der jedes Hirn seine eigenen Beiträge einspeiste und irgendwann war die mentale Verschmelzung so weit fortgeschritten, dass keiner mehr unabhängig von den anderen denken konnte.
Löste sich die Union, fühlten sich die Betroffenen ausgesetzt und auf eine für andere Menschen nur schwer vorstellbare Weise verlassen.
Eric stand auf der Strasse.
Er fühlte sich nicht nur einsam, sondern unvollständig.
Man endete als ein Knoten im Netz oder man trieb umher.
Brain Extension Modules, Unions, unnötige Menschen.
Er kratzte sich sein Vorhirn. Die Beule war glatt und warm.
Die Sonne schien, weit und breit keine Wolken.
Wenn wenigstens ein Gewitter aufziehen würde. Ein Blitz müsste in ihn einschlagen!
Totale Connection.
Ein Junge stand an einer Hauswand und spielte Fussball mit sich selbst. Eric beobachtete das lustlose Spiel.
„Wo sind deine Kollegen?“ fragte er.
„Wollten woanders hin.“
„Und du?“
„Keinen Bock.“
Der Junge schaute zu Eric, der zu ihm kam.
„Spielst du mit?“
„Ja.“