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Erfolgsdruck
Erfolgsdruck
Nargol erschrak, als es an seiner Tür hämmerte. Schlaftrunken warf er sich seinen Umhang über die Schulter und spähte aus dem Fenster. Das halbe Dorf hatte sich vor seiner Hütte versammelt. Sie schienen aufgebracht. Es hämmerte wieder: “Nargol, du Scharlatan, komm raus, oder wir brennen deine Hütte nieder!”
Der alte Zauberer öffnete die Tür und sah in das wütende Gesicht des Dorfvorstehers, der ihn sogleich zu beschimpfen begann: “Was ist mit dem Regen? Seit Wochen vertröstest du uns. Unsere Felder vertrocknen, unser Vieh verdurstet, und was haben uns deine Beschwörungen beschert? Die schlimmste Dürre seit 4 Generationen.”
Nargol bemühte sich, würdevoll drein zu schauen: “Ihr müsst Geduld haben. Jeden Morgen beschwöre ich die Sturmgötter. Es ist nur eine Frage der Zeit.”
“Wir haben keine Zeit mehr. Die meisten von uns halten dich für einen Hochstapler. Was ist zum Beispiel mit dem verfluchten Liebestrank, den du für meinen Sohn gebraut hast?”
“Er hat doch funktioniert.”
“Funktioniert? Ha! Baldina hat sich zwar in meinen Sohn verliebt, aber in der Hochzeitsnacht fielen ihr alle Haare aus.”
“Ein geringfügiger Nebeneffekt...”
“Und der Fruchtbarkeitszauber für Karol und Melana?”
“Sie ist doch niedergekommen...”
Ein Knurren war zu hören. Der kleine Wolfsjunge fletschte die Zähne und Melana strich ihrem Sohn beruhigend über das struppige Fell. Karols Blick verhieß nichts Gutes. Nargol lächelte gequält: “Dieses Risiko besteht immer.”
Der Dorfvorsteher stemmte zornig die Hände in die Hüften: “Wenn es bis zum nächsten Vollmond nicht regnet, jagen wir dich aus dem Dorf. Wir können es uns nicht leisten, einen Schwindler durchzufüttern.”
Jetzt war es an Nargol, wütend zu werden: “Ein Schwindler? Ich, ein Schwindler? Ihr wagt es, mich derart zu beleidigen? Was habe ich nicht alles für euer Dorf getan?”
Ratlos sahen die Dorfbewohner einander an und kramten angestrengt in ihrer Erinnerung. Die Stille war noch peinlicher als die infame Unterstellung. Der alte Zauberer wollte das nicht auf sich sitzen lassen, breitete die Arme aus und rief mit erhabener Stimme gen Himmel: “Stratos! Cumulus! Ducit aqua Donnerplus!”
Und tatsächlich bildete sich aus dem Nichts eine große dunkle Wolke über dem Dorf. Erstaunt schauten alle nach oben, nur um zu sehen, wie ein greller Blitz aus der Wolke schoss und das Haus des Dorfvorstehers in Brand setzte. Schnell verflüchtigte sich die Menge, um zu retten, was zu retten war, denn die Wolke verschwand so schnell wie sie gekommen war, ohne einen einzigen Tropfen Regen abgesondert zu haben. Ups! Nargol wusste zwar nicht, was eine Freudsche Fehlleistung war, aber er ahnte es. Mit hängenden Schultern schloss er die Tür und setzte sich resigniert an seinen Labortisch. So durfte es nicht weitergehen. Diese kleine menschliche Schwäche, an der er litt, gefährdete seine berufliche Existenz. Am besten war es, sich erst mal zu entspannen: “Tabaccus impetus Speichelfluss!”
Eine prächtige Zigarre materialisierte sich und schwebte langsam in seinen geöffneten Mund. Der Zauberer schnippte mit den Fingern und zündete sie sich mit seinem brennenden Daumen an.
Nargol zuckte mit den Schultern und nahm einen tiefen Zug. Er konnte sich unter Erfolgsdruck einfach nicht konzentrieren.