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Erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche
Erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche
Die Kirchturmuhr schlug zehn, als Karin vor der Alterssiedlung zum Rosengarten ankam. Jakob Christen erwartete sie bereits.
„Ich freue mich, dass Sie mich besuchen. Ich darf doch Karin sagen?“ „Aber natürlich“, sagte die junge Journalistin, die nicht erwartet hatte, dass der alte Mann so leutselig und offen auf sie zukam. Von der Tageszeitung hatte sie den Auftrag, besondere Menschen zu interviewen und ein Portrait über sie zu schreiben. Sie hatte recherchiert und von dem Schuhmacher gehört, der gerne Lehrer geworden wäre, jedoch notgedrungen auf dem Schuhmacherstuhl landete. Ein Kollege in der Redaktion meinte:
„Da hast Du keine gute Wahl getroffen. Sein Leben ist nichts Besonderes.“
Diese Bemerkung hatte Karin nur noch mehr gereizt, dem auf den Grund zu gehen. Nun stand sie einem gut achtzigjährigen Mann gegenüber, der sie unter dem immer noch vollen Haarschopf mit erstaunlich jungen Augen ansah.
„Kommen Sie!“, sagte er und führte sie in sein Wohnzimmer, wo sich an den Wänden Regale bis zur Decke reckten, voll gestopft mit Büchern und doch wohlgeordnet. In Reih und Glied standen da Reiseberichte, Biographien, Bücher über Kunst und Musik und Romane in grosser Anzahl, von denen sie einige kannte. Jakob Christen sah ihren erstaunten Blick und meinte: „Es ist alles eine Frage der Zweckmässigkeit. Bücher sind wie gute Freunde und so habe ich hier alle um mich.“
Als sie bei einer Tasse Tee einander gegenübersassen, begann er aus seinem Leben zu erzählen.
„Ich bin in einer Familie mit vier jüngeren Geschwistern aufgewachsen. Mein Vater hatte eine Schuhmacher-Werkstatt und hoffte, dass ich sie einmal übernehmen würde. Mein Traum war es jedoch, nach der Schule das Lehrerseminar zu besuchen. Der Lehrer meinte, dass ich das Zeug dazu hätte.
Kurz vor meinem Schulaustritt erkrankte Vater an Krebs. Er war gerade noch dazu in der Lage, mich in seiner Werkstatt anzulernen. Dann starb er einfach so weg. Statt im Seminar, landete ich der Not gehorchend auf dem Schuhmacherstuhl.“
„Ich kann mir vorstellen, dass das nicht einfach war“, sagte Karin.
„Nein, die Enttäuschung war gross. Ich hatte mich so auf die Ausbildung und den Beruf des Lehrers gefreut. Das Leben schien mir grau und leer. Während Monaten wurde ich hin-...und hergerissen zwischen dem Wunsch, Lehrer zu werden, und der Notwendigkeit, als Schuhmacher für die Familie zu sorgen.
Von einer mir unbekannten Person bekam ich eines Tages eine Karte zugeschickt mit dem Text:
"Alles in Gottes Hand legen, alles in Gottes Hand lassen, alles aus Gottes Hand nehmen."
Dieser Spruch ärgerte mich dermassen, dass ich ihn zerknüllte und wegwarf. Wie konnte ich mein Leben dem in die Hand legen, der meinen Vater sterben liess!
Dann, eines Nachts, als ich wieder nicht schlafen konnte, stand ich auf und ging zum offenen Fenster. Der Garten vor dem Haus und die Weide draussen waren vom Mondlicht überflutet.
Eine tiefe Stille lag über allem.
Mein Rebellieren kam mir plötzlich so absurd vor. Und dann tat ich genau das, was auf der Karte gestanden hatte. Ich legte alles, mein Leben, meine Wünsche, meine Zukunft in Gottes Hand.
Hilda, Sie können es glauben oder nicht, in meinem Inneren bereitete sich ein Friede aus, wie ich ihn vorher noch nie erlebt hatte.
Ich will damit nicht sagen, dass ich von dem Moment an nie mehr den Wunsch verspürte Lehrer zu werden; aber das Aufbegehren, Schuhmacher sein zu müssen, war verschwunden.
Und wenn ich jetzt zurückblicke, denke ich, dass dieser Weg für mich der Richtige war.
Wie mancher brachte mir im Laufe der Jahre nicht nur die Schuhe zum Sohlen, sondern war froh, einem Menschen sagen zu dürfen, wo ihn sonst der Schuh drückte."
Jakob Christen schaute versonnen vor sich hin.
„Darf ich fragen, woran Sie gerade denken?“, fragte Karin nach einer Weile.
„An Heini, einen Buben, der von der Behörde fremd platziert wurde, da seine Eltern nicht für ihn sorgen konnten. Die Verpflanzung in eine ihm völlig fremde Pflegefamilie fiel dem sensiblen Knaben schwer. Er hatte es dort nicht leicht. Wenn er Schuhe zum Sohlen brachte, blieb er meistens noch eine Weile in meiner Werkstatt. Am Anfang sagte er kaum ein Wort. Er sass einfach da und schaute mir zu. Mit der Zeit kamen wir ins Gespräch und er schüttete mir sein Herz aus. Wir wurden gute Freunde. Als er erwachsen war, sagte er einmal, dass die Momente in meiner Werkstatt für ihn Höhepunkte waren und ihm über manches hinweggeholfen hätten.“
„Jeder hätte einen solchen Freund nötig“, sagte Karin darauf, „ aber solche Freunde sind heute selten geworden.“
Eine Weile schwiegen beide, bis Karin das Gespräch wieder aufnahm.
„Ich habe gehört, dass Sie einige Jahre als Entwicklungshelfer in Afrika gearbeitet haben, als die Familie nicht mehr auf Ihre Unterstützung angewiesen war.“
„Ja“, sagte er. „Ich konnte dort eine Schuhmacherwerkstatt aufbauen. Diese Jahre haben mich für manches entschädigt. Eine andere Kultur kennen zu lernen, hat mein Leben unendlich bereichert. Mitzuhelfen, dass junge Menschen, die sonst keine Perspektive gehabt hätten, einen handwerklichen Beruf erlernen konnten, war für mich eine grosse Freude.
Die Vase dort auf dem Fenstersims, haben mir die jungen Leute zum Abschied geschenkt. Leider ist sie auf der Heimreise zu Bruch gegangen. Aber ich konnte die Scherben einfach nicht wegwerfen und habe versucht, sie zusammenzukleben. Diese Vase erinnert mich an eine sehr glückliche Zeit meines Lebens.
In Afrika habe ich auch gelernt, etwas gelassener zu leben. Vor allem ein Erlebnis hat mir dabei geholfen. Einmal ritt ich spät abends mit meinem Pferd nach Hause. Ich wohnte ungefähr zehn Kilometer von der Werkstatt entfernt. Ich hatte keine Ahnung, dass einige junge Männer, für die ich in der Werkstatt keinen freien Ausbildungsplatz hatte, sich dafür rächen wollten.
Der Ort des Überfalls war strategisch gut gewählt. Ich musste dort jeweils einen Bach durchqueren. An dieser Stelle sollten drei der Mutigsten plötzlich mit Strohfackeln aus dem Dunkel auftauchen. Vor Schreck würde sich mein Pferd aufbäumen und mich abwerfen. Zwei weitere der Verschwörer sollten dann zur Stelle sein und mich krankenhausreif schlagen.
Später erzählte mir einer der Männer, den das schlechte Gewissen plagte, dass sie in meiner Begleitung mehrere uniformierte Reiter auf weissen Pferden gesehen hätten. Er und seine Kumpanen seien wie gelähmt gewesen. Keiner hätte sich von der Stelle bewegen können.
Ob das Engel waren, die mich beschützt haben? Ich vermute es. Jedenfalls hat mich dieses Erlebnis ungemein ermutigt und mir gezeigt, dass wir nicht einfach einem blinden Schicksal ausgeliefert sind, sondern dass unser Leben geführt und beschützt ist.“
Auf dem Weg zurück in die Redaktion musste Karin an die Bemerkung ihres Kollegen denken:
„Nichts Besonderes.“
Sie war da ganz anderer Meinung.