Was ist neu

Erde zu Erde

Mitglied
Beitritt
03.08.2003
Beiträge
473
Zuletzt bearbeitet:

Erde zu Erde

Nieselregen. Grauer Himmel. Kahle Bäume recken ihre dürren Arme klagend nach oben. Der Sarg steht am Rand der Grube. Um ihn herum die Trauergemeinde wie eine Schar Krähen. Nur hier und da dezentes Grau zwischen dem vorherrschenden Schwarz der Kleidung. Die trüben Gedanken der Anwesenden kondensieren zu winzigen Tränen, die überall in der Luft sind.
Gedämpftes Stimmengemurmel. Beileidsbekundungen. Hände werden geschüttelt. Ja, der Tote war ein guter Mensch. Was für ein schrecklicher Verlust. Einfach unfassbar. Viel zu früh. Die trauernde Witwe steht etwas abseits. Nur ihre beiden erwachsenen Söhne sind bei ihr, geben ihr ein wenig Halt und Trost. Ein krampfhaftes Schluchzen schüttelt sie.
Der Grabredner nickt zu den Totengräbern hinüber. Es ist Zeit. Sie legen ihre Spaten beiseite und helfen der Witwe in die Grube. Ihr gebührt es, die Erste zu sein. Es folgen ihre beiden Söhne und nach ihnen gemessenen Schrittes die anderen Trauernden. Einer nach dem anderen steigen sie hinab.
Der Sargdeckel hebt sich etwas und wird beiseite geschoben. Der Tote steigt heraus, ein kleiner magerer Mann mit käsigem Gesicht, in schwarzes Tuch gehüllt wie die anderen. Es ist keine Verletzung zu sehen. Der Bestatter hat ganze Arbeit geleistet. Der Tote geht hinüber zu dem Grabredner und dankt ihm mit vor Rührung bebender Stimme für seine bewegenden Worte. Dann tritt er an den Rand des Grabes. Seine Gäste, eng aneinander und übereinander auf dem Boden liegend, regen sich nicht. Das gebietet die Pietät. Nur seine Witwe winkt ihm verstohlen zu. Der Tote ergreift eine bereitliegende Rose und etwas Erde und wirft beides hinab. Erde zu Erde. In würdevollem Schweigen verharrt er am Rand des Grabes, eine kleine gramgebeugte Gestalt, während die Totengräber anfangen zu schaufeln...

Ich blinzele. Meine Hand zittert, als sie den Hörer langsam auflegt und ich spüre kalten Schweiß auf der Stirn. Mein Schwager ist tot. Ein Verkehrsunfall. Die Beerdigung ist Freitag. Ich geh da nicht hin. Ich werde da nicht hingehen. Nein. Auf gar keinen Fall. Ich geh zu keiner Beerdigung. Die Vorstellung ist mir ein Greuel. Ich ertrage das einfach nicht. Meine Schwester wird das verstehen. Sie muss! Und wenn meine Frau zehnmal sagt, es gehört sich einfach. Niemals. „Neeeiiiin“, schreie ich in den leeren Raum.
Ich habe Angst. Das Denken erschafft die Welt, meinen Philosophen. Könnten meine bizarren Vorstellungen dann nicht eines Tages wahr werden?

 

Sie können nicht wahr werden, weil sie irreal sind.

Deine Geschichte krankt meiner Meinung nach daran, dass sie inkonsequent vorgeht. Der erste Abschnitt beginnt ganz normal und driftet dann plötzlich aber unscheinbar in ein fast surreales Geschehen ab - das finde ich gelungen, wenngleich ich keinen tieferen Sinn darin sehe. Dann folgt eine Art Erklärungsversuch und noch ein philosophisches Schlusswort - es passt irgendwie ein bisschen zusammen, aber eigentlich überhaupt nicht.

Sprachlich habe ich nichts einzuwenden, Du bringst die Trauerstimmung gut rüber.

Fazit: sprachlich okay, inhaltlich interessanter Ansatz, aber nicht konsequent umgesetzt.

Uwe
:cool:

 

Hallo Sturek

Jawoll, knackig, kurz.
Das nenn ich eine Netstory. Gerade das Verdrehte im Text, wo der Tote am Ende wieder aufersteht, gehört unbedingt in das Forum Seltsames, wie ich meine.
Am Anfang ein bisschen Einführung in die Scene, und dann gleich zur Sache kommen. Satz für Satz auf den Schluss zusteuern.
Ist ja auch mal ne' Idee, von der ich noch nichts gelesen habe.
Am Schluss der Satz: Das Denken erschafft die Welt, meinen Philosophen, müsste vieleicht besser heissen - meinen die Philosophen oder meinen sämtliche Philosophen. Ist aber nicht so wichtig.
Gute Idee, die mich neidisch macht, Sturek.

Viele Grüsse

Udo

 

Hallo Uwe, hallo bluesnote!

Danke euch beiden für eure interessanten Kritiken.

@Uwe Post:

Sie können nicht wahr werden, weil sie irreal sind.
Wichtig ist nur, dass der Ich-Erzähler glaubt, sie könnten wahr werden. Aber ich glaube, über dieses Thema ließe sich trefflich streiten.
Bin mir nicht sicher, was du mit "inkonsequent" meinst.
Dann folgt eine Art Erklärungsversuch und noch ein philosophisches Schlusswort - es passt irgendwie ein bisschen zusammen, aber eigentlich überhaupt nicht.
Vielleicht interpretierst du die Story anders als ich. Warum nicht. Mit deiner Einschätzung kann ich gut leben. Ist bei dieser Art Stories doch ganz angemessen wenn alles irgendwie und dann doch wieder nicht..., oder?
Nach meiner Lesart der Story passt aber alles ganz logisch zusammen.

@bluesnote:
Zu der Begräbnisszene ließ ich mich durch eine Tagebuchnotiz von Elias Canetti inspirieren. Hinzu kam, dass meine Schwägerin niemals zu Begräbnissen geht.

Am Schluss der Satz: Das Denken erschafft die Welt, meinen Philosophen, müsste vieleicht besser heissen - meinen die Philosophen oder meinen sämtliche Philosophen.
Es sind ja nicht alle Philosophen, die das behaupten. Wenn ich mich richtig erinnere, nur die der sogenannten subjektiv idealistischen Richtung.

 

Also ich muss sagen, dass mir die Geschichte bis auf den letzten Teil sowohl vom Ansatz als auch von der Verwirklichung sehr gefällt. Allerdings muss ich Uwe schon zustimmen. Der letzte Teil zerreißt das Bild irgendwie unverhältnismäßig brutal vor meinen Augen.

Meiner Meinung nach, wäre es besser gewesen, an Erklärungen zu sparen und den Leser mit einem zweifelhaft befriedigten Lächeln im Raum stehen zu lassen. (So war es zumindest bei mir nach dem ersten Teil :) )
Den philosophischen Ansatz hättest du sicher, wenn überhaupt nötig, "aus dem Grab heraus" in die Geschichte einbringen könne.

Idee und Machart sind Klasse, der "Anhang" stört ein wenig.

 
Zuletzt bearbeitet:

Nabend Gelfling!

Danke auch für deine Kritik.
Nun seid ihr schon zwei, Uwe und du, denen es besser gefallen hätte, wenn ich mit der Story in der surrealen Welt des ersten Teils geblieben wäre. Das macht mich nachdenklich. Aber wie Uwe schon richtig sagte, dann wäre das Ganze etwas sinnlos dahergekommen.
Natürlich bedeutet der 2. Teil einen Bruch. Er ist jedoch kein Erklärungsversuch sondern eigentlich nur die Fortsetzung der Handlung des 1. Teiles.
Die Idee des Philosophierens aus dem Grab heraus hat auf jeden Fall ihren Reiz. Das würde den 2. Teil evtl. überflüssig machen. Vielleicht schreibe ich noch eine alternative Version.

Viele Grüße von Sturek

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom