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Erde zu Erde
Nieselregen. Grauer Himmel. Kahle Bäume recken ihre dürren Arme klagend nach oben. Der Sarg steht am Rand der Grube. Um ihn herum die Trauergemeinde wie eine Schar Krähen. Nur hier und da dezentes Grau zwischen dem vorherrschenden Schwarz der Kleidung. Die trüben Gedanken der Anwesenden kondensieren zu winzigen Tränen, die überall in der Luft sind.
Gedämpftes Stimmengemurmel. Beileidsbekundungen. Hände werden geschüttelt. Ja, der Tote war ein guter Mensch. Was für ein schrecklicher Verlust. Einfach unfassbar. Viel zu früh. Die trauernde Witwe steht etwas abseits. Nur ihre beiden erwachsenen Söhne sind bei ihr, geben ihr ein wenig Halt und Trost. Ein krampfhaftes Schluchzen schüttelt sie.
Der Grabredner nickt zu den Totengräbern hinüber. Es ist Zeit. Sie legen ihre Spaten beiseite und helfen der Witwe in die Grube. Ihr gebührt es, die Erste zu sein. Es folgen ihre beiden Söhne und nach ihnen gemessenen Schrittes die anderen Trauernden. Einer nach dem anderen steigen sie hinab.
Der Sargdeckel hebt sich etwas und wird beiseite geschoben. Der Tote steigt heraus, ein kleiner magerer Mann mit käsigem Gesicht, in schwarzes Tuch gehüllt wie die anderen. Es ist keine Verletzung zu sehen. Der Bestatter hat ganze Arbeit geleistet. Der Tote geht hinüber zu dem Grabredner und dankt ihm mit vor Rührung bebender Stimme für seine bewegenden Worte. Dann tritt er an den Rand des Grabes. Seine Gäste, eng aneinander und übereinander auf dem Boden liegend, regen sich nicht. Das gebietet die Pietät. Nur seine Witwe winkt ihm verstohlen zu. Der Tote ergreift eine bereitliegende Rose und etwas Erde und wirft beides hinab. Erde zu Erde. In würdevollem Schweigen verharrt er am Rand des Grabes, eine kleine gramgebeugte Gestalt, während die Totengräber anfangen zu schaufeln...
Ich blinzele. Meine Hand zittert, als sie den Hörer langsam auflegt und ich spüre kalten Schweiß auf der Stirn. Mein Schwager ist tot. Ein Verkehrsunfall. Die Beerdigung ist Freitag. Ich geh da nicht hin. Ich werde da nicht hingehen. Nein. Auf gar keinen Fall. Ich geh zu keiner Beerdigung. Die Vorstellung ist mir ein Greuel. Ich ertrage das einfach nicht. Meine Schwester wird das verstehen. Sie muss! Und wenn meine Frau zehnmal sagt, es gehört sich einfach. Niemals. „Neeeiiiin“, schreie ich in den leeren Raum.
Ich habe Angst. Das Denken erschafft die Welt, meinen Philosophen. Könnten meine bizarren Vorstellungen dann nicht eines Tages wahr werden?