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Erdbeersaft
Sie schob den Einkaufswagen von der Kasse zum nahegelegenen Fenster und starrte auf den Kassenzettel. „80 Euro für die paar Teile“, dachte sie. Die Schale Erdbeeren für fünf Euro hätte sie wohl doch lieber zurücklegen sollen.
„Ach was soll’s!“, murmelte sie vor sich hin und schob den Wagen hinaus auf den Parkplatz zu ihrem Auto. Ein alter türkiser Golf stand da, über 15 Jahre alt, aber etwas anderes kann sich eine alleinerziehende Mutter ohne Job halt nicht leisten. Sie lud die Lebensmittel vom Einkaufswagen direkt in die im Kofferraum wartenden Kunststoffkörbe um.
Auch diese Körbe waren einmal ein Fehlkauf gewesen. In knalligem gelb und orange schienen sie damals für nur zwei Euro pro Stück ein richtiges Schnäppchen gewesen zu sein. Aber bei dem einem fehlte schon der Henkel und der andere hatte einen großen Riss im Boden. Jedes Mal, wenn sie das sah, ärgerte sie sich.
Im Gedanken schon bei der Zubereitung des Mittagessens für die Kinder brachte sie den Einkaufswagen weg. Beim Anschließen an die anderen Wagen schnappte ihre Glücksmark aus der Halterung und fiel auf den Boden. Natürlich rollte die Mark so unter den Wagen, dass sie sich auf den Boden legen musste, um sie sich wiederzuholen. Es musste für die umstehenden Leute sehr seltsam ausgesehen haben, aber das war ihr egal. Sie brauchte ihre Glücksmark, irgendwann würde sie ihr das ersehnte Glück bringen.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie nur noch eine Stunde hatte bis sie ihren Sohn Leon vom Kindergarten abholen musste und auch Dana kam heute früher von der Schule. Sie eilte zum Auto, trat die Kupplung durch, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn.
Ein Stottern. Verzweifelt versuchte sie es noch mal. Das Auto durfte jetzt nicht schlapp machen, ohne Auto würde sie nie einen Job finden. Noch ein Stottern. Und noch ein Versuch. Nichts. Sie ließ ihren Kopf auf’s Lenkrad sinken und schluchzte.
Plötzlich hämmerte jemand an die Scheibe. Sie erschrak. Ein junger Mann stand dort, höchstens 20, dem ganz offensichtlich der aufgemotzte Twingo neben ihr gehörte. Sie kurbelte die Scheibe runter.
„Äh, brauchen Sie Hilfe?“
„Wenn Sie mir Starthilfe geben könnten, wäre mir sicherlich geholfen“, erwiderte sie mit einem Lächeln.
„Ja ist klar, das kriegen wir hin! Sie müssen die Motorhaube aufmachen, sonst komm ich nicht an die Batterie.“
„Ach wirklich? Ist mir neu! Im Motorraum hätte ich als letztes nach der Batterie geguckt“, dachte sie, erwiderte aber nichts und öffnete die Motorhaube.
Der junge Mann hatte in der Zeit schon die Motorhaube seines Twingos geöffnet und fummelte an den Kabeln rum.
„So mal gucken, wie die jetzt da rankommen!“
„Aber mir sagen wollen, wo ich die Batterie finde!“, dachte sie, aber sagte, „Gib mal her. Das rote kommt an Plus. Erst bei mir, dann bei dir. Dann das schwarze an Minus bei dir und bei mir an ein Metallteil am Motor, falls die Batterie kaputt ist.“ Während sie sprach, schließ sie die Kabel an.
Der junge Mann schaute sie verblüfft an. „Sie haben ja ganz schön Ahnung“, sagte er, „Woher wissen sie das?“
„Nun ja, ich hab schon ein paar Jahre auf dem Buckel und mein Auto auch“, sagte sie mit einem Zwinkern.
Innerlich war sie nervös, was wäre wenn das Auto nicht ansprang? „So jetzt muss ich doch zuerst das Auto starten oder?“, riss er sie aus ihren Gedanken.
„Ja und Gas geben bitte“, antwortete sie. Er startete den Wagen und sie setzte sich ebenfalls in ihren. Sie startete den Wagen und nach kurzem Stottern erklang das wunderbare Brummen ihres geliebten Autos. Er sprang aus dem Auto und ein breites Grinsen zierte sein Gesicht. Auch sie lächelte. Zusammen nahmen die beiden die Kabel ab und sie bedankte sich bei ihm. Er winkte ab und stieg in sein Auto.
Eilig schaute sie auf die Uhr, nur noch 45 Minuten. Schnell stieg sie wieder ins Auto und fuhr los. Glücklicherweise erwischte sie eine grüne Welle und war innerhalb von weniger als zehn Minuten zu hause. Natürlich hätte sie noch etwas herumfahren sollen, um die Batterie wieder aufzuladen, aber dafür hatte sie zu wenig Zeit und der Sprit war ihr dafür auch zu teuer.
Sie würde sich das Ladegerät des Nachbarn ausleihen. Jetzt musste sie aber schnell rein und auspacken.
An der Tür fiel ihr, mit den zwei Körben beladen, natürlich erstmal der Schlüssel runter. Geschickt balancierte sie den einen Korb auf dem Bein während sie mit der nun freien Hand den Schlüssel aufhob. Tür aufgeschlossen, aus den Schuhen geschlüpft und ab in die Küche.
Die Körbe nur halb ausgepackt fing sie an Kartoffeln zu schälen. Schnell die Kartoffeln in den Topf geschmissen, kochen würde sie sie, wenn sie Leon abgeholt hatte. Der Rest aus den Körben verschwand auch fix in den Schränken, nur die Erdbeeren ließ sie draußen. Noch fünf Minuten bis sie los musste. Dann konnte sie ja noch die Erdbeeren gleich putzen und zuckern. Das ein oder andere Stück verschwand während dieses Vorgangs auch in ihrem Mund.
Nachdem sie Leon abgeholt hatte, der auf dem Fahrrad unaufhörlich plapperte und auch das ein oder andere Mal einen Unfall fabriziert hätte, wenn sie nicht in den Lenker gegriffen hätte, machte sie sich direkt wieder an die Kartoffeln. Auch die Erdbeeren wurden ab und zu umgerührt.
Der Vierjährige saß derweil vor dem Fernseher. Sie musste sich beeilen, da ihre Tochter in 30 Minuten kommen würde. Für die Soße griff sie auf Tiefkühlgemüse zurück.
Dana kam mit einem Poltern nach Hause, sie war anscheinend nicht gut gelaunt.
„Boah Mama, ich hab ‘ne 4 in Geschichte“, sagte Dana in dem typischen Teenagerton, als wäre ihre Mutter schuld daran.
Das kannte sie schon, daher flötete sie: „Dann musst du nächstes Mal mehr lernen.“
„Die erklärt einfach nichts und die blöden Texte aus dem Buch versteh ich nicht! Und nachfragen bringt auch nichts. Die versteht die Texte selber nicht! Wie soll man denn so was lernen?“, brachte Dana genervt entgegen.
„Ach Süße, nächstes Jahr bekommt ihr doch ‘nen neuen Lehrer, vielleicht wird’s dann besser. Setz dich, das Essen ist fertig“, sagte sie.
Die Tochter setzte sich zerknirscht an den Tisch. Ihre Mutter rief: „Leon! Essen! Fernseher aus!“ Ein dumpfes Pong ertönte, er war vom Sofa gesprungen und mit lautem Getrappel kam auch der Kleine an den Esstisch. Es musste ein anstrengender Vormittag für Leon gewesen sein, er aß ohne Unterbrechung alles vom Teller auf. Ein ungewöhnlicher Anblick für sie.
Nachdem die drei den Tisch abgeräumt hatten, schlug sie vor in den Garten zu gehen. Leon schrie sofort: „Ja, Trampo!“ Na, so erschöpft konnte er doch nicht sein.
Er meinte das Trampolin, was sie von den Nachbarn geschenkt bekommen hatten, da deren Enkel ganz und gar nicht auf körperliche Betätigung standen. Dafür lud sie oftmals sonntags ihre Nachbarn zum Kaffee ein, die beiden freuten sich jedes Mal, vor allem wenn Dana und Leon auf dem Trampolin sprangen.
So ein nettes, altes Pärchen. Draußen stellte sie Getränke, Gläser, Schälchen und Löffel sowie die gezuckerten Erdbeeren auf den Tisch. Die Kinder sprangen schon mit größtem Enthusiasmus auf dem Trampolin. Danas schlechte Laune schien verflogen.
Ihr Blick fiel auf die Schale mit den Erdbeeren. „Erdbeeren? Lecker!“
Der Kleine stimmte sofort mit ein: „Lecker, Erdbeersaft!“
Die Erdbeeren selbst aß er nicht, er fand die kleinen schwarzen Punkte eklig. Beide stürmten zum Tisch. Dana füllte erst sich Erdbeeren auf und dann schaufelte sie ihrem kleinen Bruder den Saft in sein Schälchen. Leon rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her. Erst als Dana fertig war, setzte sie sich.
Sie schaute ihre Mutter an, reichte ihr die Schale und tat sich eine neue Ladung auf. So wie sich Dana benahm, wäre ein Fremder nie auf den Gedanken gekommen, dass sie elf Jahre lang als Einzelkind aufgewachsen war. Dafür war sie viel zu bescheiden und teilte zu gern.
„Mama? Weißt du eigentlich wie der Erdbeersaft entsteht?“, fragte Dana.
„Na, weil ich Zucker drüber gestreut hab“, antwortete sie und wartete auf die Erklärung, die ihre Tochter ihr gleich geben würde.
„Ja schon, aber der Zucker verwandelt sich ja nicht einfach in Wasser. Das liegt daran wie die Zellen aufgebaut sind. Die haben nämlich eine semipermeable Membran, durch die Wasser fließen kann, aber der Zucker kann da zum Beispiel nicht durch. Und wenn du Zucker auf die Erdbeeren machst, dann fließt das Wasser aus der Zelle, weil die Konzentration an Zucker außerhalb der Zelle größer ist als innerhalb. Das ist Osmose!“, erklärte Dana euphorisch.
„Na und jetzt?“, fragte sie.
„Jetzt weißt du wie Osmose funktioniert!“, sagte Dana grinsend und schob sich einen Löffel Erdbeeren in den Mund.
„Ach Dana, als ob ich mir das merken könnte.“ Manchmal fühlte sie sich dumm, wenn ihre 15-jährige Tochter ihr etwas erklärte, trotzdem war sie stolz. Ihre Tochter würde es mal besser haben und nicht wie sie manchmal abends, wenn die Kinder schliefen, weinend vor Rechnungen sitzen.
Sie schob diesen Gedanken beiseite, auch das Auto hatte sie schon wieder vergessen. Jetzt war nur der Moment wichtig, die Kinder auf dem Trampolin, das schöne Wetter, das ihr erst jetzt auffiel, die Erdbeeren und der Erdbeersaft.