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Erdbeeren
Neben unserem Haus war früher ein Erdbeerfeld. Es gehörte einer älteren Frau, vor der wir Kinder einen Heidenrespekt hatten. Wann immer sie uns zwischen den Reihen erwischte, bekamen wir was auf die Finger, wahlweise wurden wir auch an den Ohren gezogen. Und sie war schnell. Verdammt schnell.
Später arbeiteten wir alle bei ihr, wir, das waren die Kinder aus der Nachbarschaft, immer zu erkennen an den charakteristischen scharlachroten Lippen. Wir pflückten kiloweise Erdbeeren, wer auch immer in unserem Dorf eine Erdbeere aß, sie war zu 90% Wahrscheinlichkeit durch unsere Hände gegangen. Und es ist kein Zufall, dass ich mich gerade wie ein Drogendealer anhöre. Wir Kinde waren süchtig nach den sonnig-süßen Früchten.
Bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr spielte sich mein Leben weitgehend zwischen Erdbeerfeld und Schwimmbad ab. Morgens Erdbeeren pflücken, danach ins Schwimmbad, wo ich mir erst mal den roten Saft von den Händen schrubben musste. Nach so einem Tag fielen wir nach Einbruch der Dunkelheit wie Steine in unsere Betten. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich meine Mutter je darüber beklagt hat, dass ich zu spät ins Bett gehe.
Es tat uns gut. Nirgendwo gab es im Sommer so viele schöne Kinder wie in unserer Nachbarschaft. Die Sonne bleichte unsere Haare und bräunte unsere Haut. Kurz, ich mutierte mit meinen hellblonden Haaren regelmäßig zum Kalifornien-Klischee. Gott sei Dank war ich mir dessen nicht bewusst. Kalifornien fungierte bei mir eher als Synonym für Oberflächlichkeit. Wahlweise auch Dummheit.
Es war Katja, die mir mich zum ersten Mal auf diese optische Entgleisung aufmerksam machte. Die blasse Katja, die kurz vor Beginn der Ferien hergezogen war und uns die begehrte Stelle der Kassiererin weggeschnappt hatte. Die unfreundliche Brünette, die im nächsten Schuljahr ihr Abitur machen würde und uns jederzeit spüren ließ, dass sie uns für dumme, trampelige Dorfkinder hielt.
Ich hatte gerade meinen Eimer abwiegen lassen und sah jetzt zu, wie sie die Zahl säuberlich in das Kassenbuch eintrug, als sie auf einmal hochblickte und mich ansah, als wären wir uns noch nie vorher begegnet.
„Du siehst aus, wie so ein typisches All-American-Girl.“ Der verächtliche Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Ach ja?“, knurrte ich zurück, so unfreundlich ich nur konnte. „Kann man von dir ja nicht sagen.“ Sie schluckte eine Antwort herunter und zuckte nur die Schultern. Offensichtlich war ich ihrer Ansicht nicht wichtig genug noch mal in den Genuss ihrer geistigen Ergüsse zu kommen. „Viel Spaß beim Schwimmen noch.“ „Werd ich haben!“
Danach wechselten wir tagelang kein Wort mehr, nicht mal das absolut unverbindliche „Hi“, das ich sonst zu jedem sagte. Nein, bei Katja beschränkte ich mich darauf, sie wütend anzufunkeln, wobei ich immer das Gefühl hatte, dass sie darüber lachte.
Nach exakt acht Tagen, in denen ich mit meinen Freundinnen nach Kräften über diese arrogante Zicke hergezogen hatte, verschlief ich meine Morgenschicht. Als ich am Abend zum Erdbeerfeld radelte, um sie nachzuholen, braute sich am Himmel bereits das unvermeidliche Wärmegewitter zusammen. Dunkle Wolkenmassen türmten sich übereinander und ich schickte ein Stoßgebet zum Chef nach oben, dass es bitte bitte erst nachdem ich ein bisschen Geld verdient hatte, losbrechen würde. Pustekuchen! Ich hatte kaum einen halben Eimer zusammen, da rissen die Wolken auf und sinnflutartige Fluten gingen auf die Welt nieder. Besten Dank auch. Innerhalb weniger Minuten war ich bis auf die Haut durchnässt. Gerade rechtzeitig ereichte ich noch das Kassenhäuschen, schon zuckten grelle Blitze über den plötzlich schwarzen Himmel, dicht gefolgt von einem furchtbaren Donnergrollen. Ich flüchtete mich in den Schutz der Bretterhütte – ausgerechnet zu Katja. Schnell drückte ich ihr das Eimerchen in die Hand. „Da, trag mich ein, ich muss heim, bevor es noch schlimmer wird.“ Sie hielt mich fest. „Kommt nicht in Frage. Schlimmer wird’s nicht. Und bei dem Wetter kannst du nicht Rad fahren.“ Ich wollte mich losreißen, aber ein kurzer Blick durch das einzige kleine Fensterchen brachte mich zum Verstummen. Sie hatte Recht. Es wäre Wahnsinn gewesen. Ich wandte mich wieder Katja zu. Die sonst so überhebliche Miss Supercool zuckte bei jedem Krachen des Donners zusammen. Als sie meinen Blick bemerkte wurde sie rot. Langsam begann ich in den klatschnassen Klamotten zu frieren. Ich zog sie aus, was kümmerte mich Katjas Anwesenheit. Aber ich war doch sehr überrascht als sie es mir nachmachte. „Da“, sagte sie und hielt mir ihr T-Shirt unter die Nase. „Benutz es als Handtuch.“ Mein Stolz verlor die kurze Debatte mit der möglichen Lungenentzündung und ich hörte auf sie. „Danke. Danke, dass es dir nicht zur schade für's All-American-Girl ist.“ „Sorry. Das hatte ich nicht so gemeint.“ Aus irgendeinem Grund habe ich ihr damals geglaubt. Wir haben die Angelegenheit auf sich beruhen lassen und uns auf den staubigen Boden gesetzt, Erdbeeren gegessen und die halbe Nacht geredet.
Am nächsten Tag ging ich zum ersten Mal nicht schwimmen sondern fuhr mit Katja in den Nachbarort ein Eis essen. Am übernächsten Tag nahm sie mich an einen nahegelegenen See mit. Wir küssten uns. Die Woche darauf waren wir zusammen.
Es war die beste Zeit meines Lebens. Wir hingen ständig aneinander, tagsüber half ich ihr beim Verkaufen, am Abend gingen wir zusammen schwimmen und lagen danach noch stundenlang im hohen Gras und sahen dem Himmel beim dunkler werden zu. Zugegeben, wir lagen auch oft genug aufeinander.
Aber meine Unschuld verlor ich im Erdbeerfeld. Ich hatte bei ihr übernachtet und wir hatten uns aus irgendeinem Grund in den Kopf gesetzt den Sonnenaufgang im Feld anzuschauen. Tatsächlich schafften wir es aufzustehen und dort, mitten zwischen den grünen Pflänzchen im Morgentau, während das restliche Dorf noch schlief, passierte es. Von der herrlichen gold-rosa Sonne habe ich jedenfalls nichts mitbekommen.
Ich war so glücklich. Jeden Augenblick wollte ich am liebsten in ein leeres Marmeladenglas einschließen, um ihn später wieder hervorholen zu können. Hätte man mich gefragt, was ich denn so besonders toll fand, ich hätte keine Antwort gewusst. Es waren die gemeinsamen Nächte unter freiem Himmel, das Geräusch, wenn sie Luft holte, die weiche Berührung ihrer Lippen, das Funkeln der Wassertropfen auf ihrem nackten Körper – und noch so viel mehr. Damals wusste ich wie Glück schmeckte. Es schmeckte nach Katja.
Und plötzlich ging alles kaputt.
Wir hatten unsere Beziehung geheim gehalten, uns beiden war klar, dass das die einzige vernünftige Lösung war. Alles in allem war das hier eben doch nur ein Dorf. Ein kleines katholisches Dorf. Und weder meine noch ihre Eltern waren einen Deut besser.
Es war einer der letzten Ferientage, Mittwoch, glaube ich. Es hatte den ganzen Tag geregnet, an kleinen, grauen Perlenschnüren waren die Wassertropfen herabgefallen. Das Erdbeerfeld hatte geschlossen und ich war bei Katja. Sie hatte sturmfrei.
Wir hatten auf ihrem Zimmer Erdbeerpfannkuchen mit Sahne gegessen und waren schließlich dazu übergegangen uns mit den süßen Früchten gegenseitig zu füttern. Ohne Kleider, versteht sich, die könnten ja Flecken bekommen. Ich hatte einen Klecks Sahne am Kinn, Katja beugte sich vor und küsste ihn weg. Ihre Zunge wanderte weiter in meinen Mund, ein Erdbeer-Sahne-Katja-Kuss. Ich schloss die Augen, meine Hände umschlossen ihre Taille, wanderten abwärts...
„Katja, wir sind wie -“ Ihre Mutter stand in der aufgerissenen Tür. Sprachlos, das Entsetzen auf das Gesicht gemalt. Wir sprangen auseinander und versuchten uns mit den Händen vor ihren Blicken zu schützen. Zu spät. „Raus“, sagte sie mit tonloser Stimme. Ich suchte meine Sachen. Katja sah mich nicht einmal mehr an, als ich den Raum verließ.
Drei Tage später, drei bange, tränenreiche Tage, in denen ich kaum aus dem Bett kam, fand ich einen Zettel im Briefkasten. „Die schicken mich aufs Internat. Die schicken mich weg. Verdammt, ich hab sogar ein neues Handy. Es tut mir so Leid. K.“ Den Zettel habe ich immer noch. Aber die Tinte ist unleserlich geworden. Ich habe wohl zu viel geweint.
Der Kontakt brach ab. Die ein oder andere E-Mail, sogar ein Telefonat, aber da war diese Stille zwischen uns, eine Distanz, die nichts mit der räumlichen Entfernung zu tun hatte. Eine Berührung hätte sie vielleicht überwunden, ein Lächeln oder ein Kuss. Aber so blieben wir uns fern und wurden langsam aber sicher Fremde.
Ihre Gesichtszüge verschwammen, auf einem Foto, das sie mir nach einem halben Jahr schickte, erkannte ich sie kaum wieder. ´Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und fragte mich, ob alles nur ein Traum gewesen war. Aber dann blickte ich von meinem Fenster auf das Erdbeerfeld, das still im Mondschein da lag. Es war da. Es existierte. Und alles andere auch.
Ich habe nur noch ein Foto von Katja, eins aus glücklichen Tagen, wir beide strahlen mit Eis in der Hand in die Kamera. An ihrem Kinn ist ein winziger Maracujaeisfleck.
Das Erdbeerfeld gibt es nicht mehr. Die alte Frau starb ein paar Jahre später völlig überraschend an einem Herzinfarkt, ihre Kinder verkauften das Grundstück. Heute stehen ein paar Reihenhäuser da. Ich habe einmal, als ich zu Besuch war, versucht, die Stelle, wo wir den Sonnenaufgang beobachten wollten, wieder zu finden, aber ich konnte sie nicht mehr erkennen. Wahrscheinlich steht sowieso irgendein Haus darauf.