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Erdbeben auf Ischia
Wer über nicht endenden Serpentinen hoch über dem Meer an der almafitanischen Küste entlang fährt und sich die hinter kleinen Buchten an den Bergen hochgerankten Städtchen ansieht, der vergisst andere angebliche Traumstrassen dieser Welt ganz schnell und staunt über diese Kleinode in der Campana.
Er war über Neapel und Pompeji hier her gekommen.
“Un Espresso doppio, Limoncello e un Aqua con Gas per favore”.
Die Augen der Kellnerin blitzten, und sie lächelte.
"Ich spreche auch deutsch, Signore."
Er sah von seinem kleinen Strandtisch zu ihr hoch, und seine Blicke verfingen sich an ihr.
Es war heiß, fast unerträglich, gegen 40 Grad im Schatten.
"Sie tragen wenigstens noch eines dieser wunderschönen leichten Sommerkleider hier aus der Gegend. Mit einem Mille-Fleur-Druck, vermutlich aus Positano. Es steht Ihnen gut."
"Es tut mir leid, aber das Kleid habe ich für zwanzig Euro bei Ihnen in Deutschland bestellt. Bei Zalando. Möchten Sie auch etwas essen ? Wir haben frischen Seewolf."
"Ja klingt gut, nehme ich gern. Sie lassen meine romantische Vorstellung aber ziemlich zur Ader, Signora. Ja, ich habe Hunger," sagte er und sah ihr enttäuscht nach wie sie ohne ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln über die kleine Gasse zum eigentlichen Restaurant ging und in einem niedrigen Eingang verschwand. Er ärgerte sich über sein direktes und viel zu spontanes Kompliment.
Während des Wartens auf Speise und Getränke blätterte er in ausliegenden Prospekten, in denen Tagestouren nach Capri, bunte Porzellane mit frugalen Motiven der Almalfi-Küste und ein Ausflug mit archäologischer Führung nach Pompeji angeboten wurden.
Dort las er Daten über den berüchtigten Ausbruch des Vesuvs kurz nach der Zeitenwende: mehr als 120.000 Atombomben vom Hiroshima-Typ hatten drei Tage und drei Nächte lang pro Sekunde 150.000 Tonnen Gestein bis zu 35 Kilometer Höhe in die Atmosphäre katapultiert, den Berg von 2600 Metern Höhe auf 1300 Meter gekappt und sich zu einer Wolke hoch am schwarzen Himmel von 50 Quadratkilometern ausgebreitet, die langsam ihr erkaltetes Material auf die Erde und Menschen prasseln ließ. Vulkanologen nennen solche Wolken bis heute „plinianische Wolken“, nach Plinius dem Älteren, der noch im Sterben Aufzeichnungen während des Ausbruchs darüber verfasst hatte. Diese Schreckenszeichen der Apokalypse sahen auf alten Mosaiken und Fresken genauso aus wir die Atompilze über Hiroshima und Nagasaki.
Erst nach jenen Schreckenstagen spuckte der Berg unglaubliche Mengen von glühendheißer Magma tief aus der Erde aus, die Pompeji und Herkulaneum unter sich begraben hatten. Bis heute hat man in den erkalteten Lavafeldern noch nicht alle Leichen aus dem Jahr 79 nach Christus bergen können. Übrigens auch im August wie heute 2017 das Erdbeben der auf Sichtweite des Vesuvs gelegenen Insel Ischia.
Wer heute den Vesuv von der Seeseite her studiert, beispielsweise von Iskia aus, kann erkennen, dass aus der Mitte der Bergkette fast die Hälfte von einer unglaublichen Kraft heraus gerissen worden sein musste.
Unter den Prospekt schob sich ein gebratener, nach Rosmarin und Knoblauch duftender Fisch. Daneben seine bestellten Getränke. Die Kellnerin hatte sehr schlanke grazile Hände in einer intensiven braunen Farbe, die keine Sommersonne in vier Wochen bei einer nordeuropäischen Touristin erzaubern konnte.
"So etwas kann hier durchaus wieder passieren", sagte sie zu ihm, weil sie sah, was er gerade las.
"Ein derartiger Vulkanausbruch?"
"Essen und trinken sie erst einmal. Vielleicht erzähle ich Ihnen nach der Mahlzeit davon."
Ein fester frischer Fisch mit einer Beilage aus Mangold und kleinen Zitronenstückchen. Köstlichkeiten an der Costa Divina, der göttlichen Küste, die sich von Sorrent über Positano und Almafi bis nach Salerno hinzieht. Mit dem Espresso stellte sie nach dem Hauptgericht eine Sfogliatella auf den Tisch, einen kleinen schmackhaften Kuchen aus einer Ricotta-Füllung und kandierten Obststücken.
Nachdem er bezahlt hatte, setzte sie sich zu ihm an Tisch und fragte:
"Die Phlegräischen Felder sind eine von Erdbeben und von Vulkanausbrüchen ungeschützte Region, von Neapel über die Inseln Procida und Ischia ist es eigentlich immer ein Leben auf der Rasierklinge. Gerade nach dem Erdbeben diese Woche auf Ischia fliehen wieder tausende von Touristen mit den Fähren vollkommen überstürzt von der Insel. Aber eure Kanzlerin Frau Merkel kommt trotzdem schon seit Jahren nach Ischia, immer im Frühjahr für ein paar Tage.“
„Ja, es hat wohl gesterm zwei Tote auf Ischia gegebeben. Aber totzdem ein Mini-Erdbenen. 4,2 auf der Richterskala. Das ist Essen ist grandios, danke:“
„Ja, aber dieses Erdbeben ist nicht so schrecklich wie im letzten Jahr im Amatrice. Das hatte andere Ursachen. Da schiebt sich die afrikanische Erdplatte in uns hinein. Die Ricotta habe ich selbst gemacht. Kennen Sie das Blutwunder des San Gennaro in Neapel?"
"Sie meinen diesen Hokuspokus um das Blut des Bischofs, der im Mittelater in Neapel enthauptet wurde? Wenn es sich zu bestimmten Zeitpunkten in der Phiole, in der es aufbewahrt wird, nicht verflüssigt, dann droht der Stadt Unheil? Wenn es sich aber verflüssigt, stehen gute Zeiten bevor?"
"Ja, genau. Das Blut des San Gennaro, der Schutzpatron von Neapel. Im letzten Jahrhundert hat es sich zweimal zum erwarteten Zeitpunkt nicht verflüssigt. Einmal folgte daraufhin unmittelbar eine Cholera, das andere Mal ein Erdbeben, von dem die Stadt sich bis heute nicht erholt hat."
Im ersten Augenblick wollte er ihr sagen, dass sich jeder Chemiker aus herkömmlichen Substanzen, die auch schon im Mittelalter bekannt waren, solche eine Posse innerhalb einer Minute zusammen mixen könnte, aber er unterdrückte den Wunsch, ihr das zu sagen und vermutete auch, dass ihr dieser Einwand klar sein müsste.
Statt dessen antwortete er: „Bevor ich hier nach Almalfi gefahren bin und dann mal weiter möchte bis Sizilien, wenn es geht, war ich in Neapel, eine Übernachtung, mit dem Flieger aus Hamburg. Die ganze Stadt stinkt. Meiner Zeitungskenntnis nach, weil die Kommune die Müllentsorgung der Mafia oder Cosa Nostra oder Drangheta oder wie diese Bande auch immer heißt, einfach überläßt.“
„Ja, wir Italiener kriegen organisatorisch eben nichts auf die Reihe. Nichts auf die Reihe, so sagt man doch auf deutsch oder?“
Er dachte kurz darüber nach wie es wohl sein würde, sie als Partnerin zu haben und ihr in einem ihrer aufkeimenden Wutanfälle begegnen zu müssen. Eine Frau voll Blitz und Donner, immer Vollgas, wenn ihr danach war.
Er wollte auf keinen Fall bei ihr als der besserwisserische Tedesco enden, als tumber Hagestolz hinter den nördlichen Alpen, als gerfiertruhenkalter Fischkoppdepp vielleicht sogar, gerade eben, weil sie ihn sehr reizte.
"Haben Sie jetzt dienstfrei? Sie kommen aus dieser Gegend und wissen mehr über das Leben hier darüber als jeder Fremdenführer. Ich würde sie gern einladen dürfen, um mehr von Ihnen darüber hören zu können."
Sie sah ihn an und dachte daran, wie direkt und wie wenig dezent er war. Aber die meisten Deutschen waren so und dieser hier gefiel ihr irgendwie.
"Ich komme von der Zitroneninsel."
"Der Zitroneninsel?"
Davon hatte er noch nie gehört.
„Procida. Ich gehe kurz ins Haus, mache mich etwas frisch und dann können wir zusammen auf dem Marktplatz etwas trinken. Dort ist es schattiger und kühler als hier."
Als sie sich in Almalfi am Andreas-Denkmal unter einen kleinen Arkaden-Bogen gesetzt hatten, erzählte er ihr, dass er heute morgen unterhalb des Vesuvkraters gewandert sei und sich über die fruchtbare Vegetation gewundert habe, beispielsweise über die riesigen gelben Ginsterwälder.
Er war also kein Ischia/Capri-Tourist, der sich wegen dieser kleinen schäbigen blauen Grotte auf die trostlose Insel übersetzen ließ, nur um später sagen zu können, dass er auch da gewesen sei. Er fing wirklich an, ihr zu gefallen.
Und er dachte darüber nach, warum er auf dem Domplatz von Almafi an der Piazza Flavio Gioia in einem schattigen Straßencafé saß und einer zwar gut deutsch sprechenden italienischen Schönen zuhörte, die aber ganz offensichtlich abergläubisch war wie ein mittelalterlicher Ziegenhirte.
"Auf der Zitroneninsel leben meine Eltern und dort ist auch mein zuhause. Auswärtige nennen die Insel Procida. Von dort haben wir immer einen klaren Blick auf den Vesuv. Er ist der einzige noch aktive Vulkan auf dem europäischen Festland. Und das Blut des Gennaro hat sich in diesem Frühjahr nicht verflüssigt."
"Glauben Sie etwa wirklich, dass deshalb der Vulkan ausbrechen könnte?"
"Warum nicht? Zuletzt ist er 1944 ausgebrochen."
"Ihr habt hier tatsächlich in jedem Dorf eine Heilige oder einen Heiligen, der euch Hinweise gibt. So etwas kenne ich aus unserem heidnischen Norddeutschland nicht. Ist der da auch so ein Weissager?"
"Welcher der?"
Er wies auf das Denkmal aus Marmor, das auf dem Domplatz in einem Wasserbrunnen stand und auf der für sie nur erkennbaren Rückseite einen Mann mit einem Heiligenschein an einem Andreas-Kreuz zeigte.
"In der Krypta des Doms werden die Reliquien des Heiligen Andreas, des Schutzpatrons von Amalfi, aufbewahrt. Er war ein Jünger Jesu Christi und seine Gebeine sind vor vielen Jahren von Konstantinopel nach Almafi gekommen. Die Stadt hat dadurch eine riesige Blütezeit erlebt und wurde neben Genua, Pisa und Venedig eine der vier mächtigen italienischen Seerepubliken."
Die Sonne stand rot wie Blut und groß über der Horizontlinie im Westen des thyrennischen Meeres und versank scheinbar innerhalb weniger Minuten darin. Es wurde endlich kühler.
"Diesen Aufschwung hat in ihren Augen der heilige Mann bewirkt?" Er fragte neugierig, eher staunend als verächtlich.
Sie kniff die Lider etwas zusammen und sah ihn lange an, bevor sie antwortete.
"Ich bin eine Frau der Moderne und weiß ungefähr wie die Digitaluhr an deinem Handgelenk funktioniert und kann mich mit dir auch über WhatsApp unterhalten . Heutzutage sorgt der Patron dieser Stadt dafür, dass sie als sogenannter Geheimtipp täglich mehr als tausend Besucher herlockt, alle prosperieren und alle hier ihr Auskommen haben. Auch ich."
"Wenn ich dieses Andreas-Kreuz sehe, dann denke ich an etwas ganz anderes. Darf ich nach deinem Namen fragen?" Genauso wie sie ging er jetzt ungefragt auf das Du als Anrede über.
Sie hieß Giulia. Leider konnte er sich nicht länger mit ihr alleine unterhalten, weil sich ein Paar zu ihnen gesellte und später auch noch ein einzelner Mann, den sie scheinbar gut kannte. Er wollte gehen, aber sie bat ihn zu bleiben.
"Wir halten es hier abends mit der Regel des Varro, Christian. Also bleibe ruhig in unserer Runde, wenn du magst."
Er freute sich sehr, dass sie ihn nun vor ihren Bekannten oder Freunden mit seinem Vornamen ansprach. Sie hatten sich erst wenige Minuten zuvor und Vornamen geeinigt.
Er fragte, was das bedeute und der ihm fremde Mann, der nun neben Giulia am Tisch saß, erklärte es:
"Diese Regel besagt, dass in einer guten und angenehmen Gesellschaft nicht weniger Gäste sein sollten als es Grazien und nicht mehr als es Musen zählt. Der antiken Grazien sind drei und der klassischen Musen sind neun. Wir sind hier nun zusammen fünf Leute am Tisch, eine gute Zahl, um zusammen etwas zu trinken und miteinander zu reden."
Der Abend wurde wirklich unterhaltsam. Man sprach über den neapolitanischen Fußballclub, der endlich wieder in der erste Liga eine Rolle spielte, über die sehr notwendige neue Methangasleitung vom Festland zur Insel Ischia, über die Politik, darüber, warum der Kanzler Gerhard Schröder so gerne im nahen Positano und die Kanzlerin Angela Merkel gerne in San Angelo drüben auf Ischia Urlaub machten. Dann verabschiedete sich freundlich das Paar. Es trat eine kleine Gesprächspause ein, bis Giulia ihr Weinglas hob, ihren Freund oder Bekannten ansah und schließlich sagte:
"Dieser Tedesco hat einen frommen Vornamen, aber dieser Christian denkt beim Andreas-Kreuz keineswegs an das grausame und lange Leiden unseres Padrones. Hast du einen Prospekt vom L´Incontro dabei?"
Der Mann nickte, griff in sein Jackett, legte den Prospekt auf den Tisch, küsste Giulia auf die Wangen und verabschiedete sich ebenfalls von den Beiden.
Nun waren sie wieder allein.
Sie forderte Christian auf das Faltblatt zu lesen mit dem Hinweis, sie werde ihm beim Übersetzen behilflich sein, falls er etwas nicht verstünde.
Er klappte das Papier auf und las etwas von einem Programm. Es handelte sich um die Einladung zu einer Veranstaltung in einer Piano-Bar. Christian liebte diese italienischen Piano-Bars, die sich nicht deshalb so nannten, weil sie über ein Piano verfügten, sondern weil die Musik piano war, also langsam und sanft, zum gefühlvollen Tanzen geeignet. Erwachsene besuchten diese Bars meistens paarweise, anziehend, schön geschminkt und gut gekleidet.
Jedoch wurde in dieser Piano-Bar offensichtlich unter der Devise „Vivi e lascia vivere, una festa fra amici“ anderes geboten als Engtanz. Die Gäste wies man für das Fest darauf hin „strictly dresscode“ zu erscheinen, eine in sadomasochistischen Kreisen international bekannte Bedingung, in welcher Kleidung ein Besuch erwünscht war.“ Il Feticismo e l'orgasmo“ werde durch die Anwesenheit der Donna graziosa ed elegante garantiert, aber auch viele strenge Dogen und Padrones hatten ihr Kommen zugesagt, zudem die zartharte Regina, die sehr devote Schiava und die immer lüsterne Libidine. Auf der Rückseite des Prospektes stand eine Frau mit einer venezianischen Maske, mit weit gespreizten Armen und Beinen am X-Kreuz, gefesselt und sichtbar laut schreiend.
Christian starrte sie an.
"Gefällt dir diese Frau ? Denkst du daran beim Kreuz des Andreas, Christian? Und nur daran, dass sie dir ausgeliefert ist?"
Er konnte Giulias Gesicht nicht mehr deutlich erkennen. Es war nacht geworden und die öffentliche Straßenbeleuchtung hatte man abgeschaltet. Er goss den Rest des Weins aus der Karaffe in ihre beiden Gläser.
"Ich glaube ja. Ich mag diese Art der Erotik. Eben eine besondere, aber auch inzwischen sehr beliebte Form des Spiels mit der Lust."
Giulia nahm ihr Glas und leerte es in einem Zug. Sie hatte sich mit ihrem ersten wirklichen Freund sehr lange in dieser Szene aus schwarzem Leder und roten Damenschuhen bewegt, war hingerissen von der scheinbaren Freizügigkeit und den ausgelassenen Spielen. Aber irgendwann schälten sich da keine Schmetterlinge mehr aus ihren Kokons, sondern es wurde zunehmend trister, berechenbarer, phantasieloser. Sie trennte sich von diesem Freund, auch weil sie diese Art sinnlicher Spiele immer mehr als Zwangsjackett und langweilige Verhaltensnorm empfand.
"Gefällt dir so jede Frau ? Schreiend vor Angst, doch mit lüsternem Leib ? Wehrlos und willig ? Hauptsache sie ist so?"
"Nein, absolut nicht. Mir gefällt keine Frau nur deshalb, weil sie vielleicht die eine oder andere meiner Phantasien bedienen kann." Eigentlich wollte er sich erheben, sich zu ihr beugen und sie zärtlich küssen, aber etwas hielt ihn davon ab.
"In Pompeji lagen die Herren früher bei Storchenzungen und Nachtgallenbrüstchen auf ihren Liegen und sahen zu, wie Sklavinnen auf kleinen Böcken aus Zedernholz blutig geschlagen wurden, während gleichzeitig in ihren Aquarien mit erotischen Mosaiken große Muränen andere Sklavinnen zerfetzten. Sie wurden diesen Riesenaalen mit spitzen Reißzähnen zeitgleich zum Fraß vorgeworfen. Die Muränen waren zuvor völlig ausgehungert worden und mit menschlichen Augen so angefüttert worden, dass sie immer als erstes die Augen eines Menschen zerbissen."
"Das ist ja widerlich," antwortete er und wunderte sich über ihre Assoziationen.
"Nein, das macht angeblich richtig geil. Sagen die Quellen jedenfalls über diese Herrschaften. Warum ? Wenn ein pompejischer Statthalter seine blutige Sklavin über einem Bock nahm und wusste, dass sie gleich nach seinem Erguss zu den Muränen in das Wasser geworfen wurde, was auch sie wusste, hatte er den Überlieferungen nach unbeschreibliche Orgasmen. Gerne kreuzigte man während des Aktes auch noch einen männlichen Sklaven, in Sichtweite, vor dem Muränen-Bassin, meistens den Partner der Sklavin, um den Lusteffekt zu verstärken. Ohnmacht und Qual der Frau, um sich selbst noch erregen zu können. Und aus solchen historischen Vorlagen haben sich diese kleinen billigen Rollenspielchen von heute entwickelt."
"Glaubst du das wirklich, Giulia?"
"Natürlich, diese ganze Sadomaso-Szene nimmt doch ausschließlich gedankliche Anleihen aus historischen Schrecklichkeiten wie eben diesem Muränenbecken, wie aus der Inquisition, wie aus Onkel Toms Hütte und trägt dazu dann gestapoähnliche Klamotten. Wird das auf die Dauer nicht ein bisschen öde?"
"Die meisten Leute halten sich doch heute sehr genau daran, bei ihren Spielen die Gesundheit des Anderen zu achten. Das ist doch etwas ganz anderes als Hexenfolter oder Inquisition oder nicht?"
Guilia wollte die angeregt, aber auch angespannte Stimmung nicht in eine von ihr unerwünschte Richtung kippen lassen und sagte einschränkend:
"Gut, ihr spielt Rotkäppchen und der Wolf, aber ihr seid nicht Rotkäppchen und der Wolf. Braucht Lust so etwas oder reicht da nicht genauso gut ein warmer Strand mit zwei Menschen, die sich wollen?"
Er schwieg und schob das Weinglas zurück. Er schwieg sehr lange, obwohl er gerne eingewendet hätte, das Eine habe nichts mit dem Anderen zu schaffen.
"Ich möchte jetzt mit dir nach Procida oder Praiono fahren, Christian."
Es dauerte nur wenige Autominuten bis zu der kleinen verschwiegenen Bucht in Praiano, die in einem Küsteneinschnitt hinter einem Wäldchen aus wilden Zitronen und Pinien lag. Der Mond stand hoch über dem Meer. Die Zikaden besangen ihn in einem auf- und abschwellenden Crescendo ungezählter Stimmen.
Der kleine Strand war völlig menschenleer. Sie waren allein.
Gegen fünf Uhr morgens stieg die Sonne wieder aus dem Meer. Die Zeit war so schnell zerronnen.
Procida – die Zitroneninesel.