Er
Es war ein ganz normaler Tag. Ich hatte gerade die Hühner gefüttert und nahm Mutters Eimer um Wasser zu holen. Da sah ich ihn stehen. Direkt neben dem Brunnen. Er hielt sein Pferd am Zügel fest und gab ihm Wasser. Nebenbei putzte er es noch ein bisschen. Zügig ging ich zum Brunnen und wollte ebenso zügig wieder fort, als er mich mit seinen sauberen Händen an meinem schmutzigen Arm festhielt und sprach: „Ich möchte dich zum Mittagessen einladen. Mein Vater ist nicht zu Hause und meine Mutter wird nichts gegen dich haben. Bitte, erweise mir die Ehre, dich meiner Mutter vorzustellen.“ Überrascht sah ich ihm in die braunen Augen. Sie lächelten mich erwartungsvoll an. „Ich werde sehen, edler Herr, was ich tun kann. Meiner Schwester geht es immernoch nicht besser und Mutter kann nicht alleine mit ihr bleiben. Mir ist bekannt, dass ihr, edler Herr, ein gutes Herz habt. Ich danke euch zu tiefst für euren Mut mich zu fragen. Ich kann aber nicht länger als zum Mittagessen bleiben.“ „Mehr möchte ich auch nicht verlangen und nenn mich bitte nicht edler Herr! Ich bin nur etwas älter als du, behandle mich bitte auch so! Ich warte hier am Brunnen auf dich. Lauf schnell nach Hause und gebe deiner Mutter Bescheid.“
Ich lief so schnell ich konnte und war noch ganz benommen vor Glück, als ich unsere Wohnung erreichte. Sie bestand nur aus zwei kleinen Zimmern: Eine Kochstelle mit einem Tisch und vier Stühlen, obwohl wir zu acht waren und einem kleinen Schlafraum, wo zur Zeit meine kranke Schwester lag und keuchte. Ich machte ihr frische Wadenwickeln und betete still vor mich hin zu Gott, dass das Fieber bald runtergehen möge. Als ich damit fertig war, ging ich zu meiner Mutter, die an einer Jacke arbeitete, denn sie war Schneiderin. Ich erzählte ihr von der Einladung und überraschender Weise, erlaubte sie mir zu gehen und gab mir sogar ihr Sonntagskleid zum Anziehen.
Er stand immernoch genau da, neben dem Brunnen. Sein Gesicht erstrahlte, als er mich kommen sah. Geehrt beugte ich meinen Kopf ein wenig zum Boden und ging auf ihn zu. Er hob mich auf sein Pferd, sprang hinter mir auf und spornte sein Pferd an. Wir galoppierten aus der Stadt hinaus, vorbei an den schmutzigsten und geruchsintensivsten Bettlervierteln und über eine herrliche Wiese, die wunderbar duftete, durch eine kleine Lichtung und vorbei an einem Heuwagen, durch ein Feld, bis ich in der Ferne ein großes, weißes Haus erblickte, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg. Ich dachte mir gleich, dass dies das Ziel unseres Rittes sein würde und ich hatte mich nicht getäuscht.
„Herr, da seit ihr ja. Eure Frau Mutter erwartet euch. Oh, ihr bringt Besuch! Welch eine Freude. Wie heißt das junge Fräulein denn?“ Erwartungsvoll blickte mich der Stallmeister an. Ich war auf einem richtigen Gutshaus gelandet und brachte vor Aufregung kein Wort über die Lippen. Mein Gefährte übernahm für mich die Beantwortung: „Dieses edle Fräulein, Stallmeister, nennt sich Anna Florentine. Begrüßt sie gebührend!“ Sofort kniete der Stallmeister nieder und gab mir einen Handkuss. Ich lächelte ihn an.
Ein Mann führte uns durch einen langen Flur in ein herrliches Zimmer. Es duftete nach Rosen und der Tisch war bereits gedeckt. Eine ältere Dame saß am Tischende und erhob sich, als mein Begleiter und ich- ich hieß natürlich nicht Anna Florentine- den Raum betraten. „Welch angenehme Überraschung. Kathrin, noch ein Gedeck! Mit wem habe ich denn das Vergnügen?“ Sie ging auf mich zu und ich hatte auf einmal große Angst vor ihr, denn sie sah so anders aus, als meine Familie, aber ich versuchte trotzdem so höflich wie möglich zu antworten: „Ich bin Anna Florentine. Eine Bekannte ihres Sohnes. Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite.“ Ich machte einen Knicks und blickte demütig zu Boden. „Richard, führe deine Bekannte zu Tisch,“ entgegnete die Dame. Richard, wie er wohl hieß, nahm meine Hand und brachte mich an einen Platz, wo gerade ein Dienstmädchen noch einen Platz gedeckt hatte. Er selber setzte sich mir gegenüber und seine Mutter setzte sich wieder ans Kopfende.
Die Teller waren aus Silber, genau wie die Messer. Das Schneidebrett war aus einem dunklen Holz und das Brot, was auf ihm lag, dampfte noch. Ich schnitt der Dame und Richard jeweils zwei Scheiben ab, mir selber eine Scheibe Brot, denn ich hatte zwar großen Hunger, wollte aber nicht unhöflich viel nehmen. Dankend nahmen beide das Brot entgegen und ich dankte meiner Mutter, dass sie mir gute Tischmanieren beigebracht hatte.
Jeder hatte seinen eigenen Silberbecher, wo Rotwein drin war. Eines der Dienstmädchen brachte eine herrlich duftende Suppe, die wir mit dem Brot aßen.
Der nächste Gang war ein wunderbarer Braten. Der Koch persönlich schnitt dicke Stücke ab und reichte jedem soviel er wollte. Dazu gab es ein merkwürdig gelben Püree, der wie Kartoffelbrei schmeckte und eine dicke grünliche Soße, die nach Braten schmeckte.
Kaum waren wir fertig erhob sich Richards Mutter, verabschiedete mich und verließ das Zimmer. Richard fragte mich: „Bist du satt, oder willst du noch etwas?“ „Vielen Dank, aber ich würde keinen Happen mehr runter bekommen! Es hat köstlich geschmeckt, ganz hervorragend!“ „Dann musst du jetzt noch unser Haus ansehen und die Stallungen und die Weiden! Komm mit, ich zeig dir alles!“ Die Begeisterung in seinem Gesicht war unverkennbar, doch ich sagte: „Ich kann nicht länger bleiben, vielleicht ein anderes mal, aber heute nicht. Ich gehe jetzt besser, sonst bin ich nicht vor meinem Vater zu Hause.“ Ich versuchte Richard mein schönstes Lächeln zu schenken und bedankte mich noch einmal ganz herzlich bei ihm. „Warte, ich bringe dich zurück. Sonst verläufst du dich noch! Und sag mir bitte deinen richtigen Namen.“ Ich nickte und wir gingen hinaus aus seinem riesigen Haus zu den Stallungen, wo wir sein Pferd holten. „Luise,“ sagte ich. „Ich heiße Luise.“ „Der Name ist viel schöner, als Anna Florentine. Und er passt zu dir. So einen schönen Namen habe ich noch nie gehört,“ flüsterte er und gab mir einen Kuss auf die Hand. Dann blickte er hoch und sah mir genau in die Augen und ich wusste, dass ich ihn nie vergessen werde.
Der Wind wehte uns ins Gesicht und der Himmel verfärbte sich rosa-rötlich. Richards Pferd jagte über die bunten Wiesen und mein Haar flog ihm ins Gesicht. Wir sagten nichts, um diesen herrlichen Augenblick nicht zu ruinieren.
Bald drang mir der Geruch von Urin und Verschimmelung in die Nase und ich wusste, dass wir der Stadt nahe waren. Plötzlich hielt er sein Pferd an, stieg ab und sagte: „Kann ich dich morgen wiedersehen?“ Ich wusste, dass sein Vater und meiner ebenfalls uns ein weiteres Treffen verbieten würden und ich wusste, dass er gerade dasselbe dachte. Er hob mich vom Pferd und ich sagte: „Wir sind nicht eines Standes. Das Gesetz und die Würde deiner Familie verbietet uns das, was wir tun wollen. Ich werde dich nie vergessen, das schwöre ich, aber ich kann dich nicht wiedersehen, das wäre zu gefährlich.“ Ich spürte, dass sich meine Augen mit Tränen füllten, versuchte sie aber zurückzuhalten. Richard sah zu Boden und nickte traurig. Dann nahm er mich in den Arm und küsste mich auf die Stirn. Er nahm sein Pferd und führte es zurück auf die bunte Wiese. Leidend blickte ich ihm nach. Er drehte sich noch einmal um und verschwand dann für immer.