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- 04.08.2001
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Er will doch nur Gutes tun
Der Abend war bitterkalt und sternenklar. Die schneebeladenen Bäume standen still im Schein des Mondes und ertrugen stumm ihre Last. Es war eine heilige Ruhe über dem Wald und auch in dem kleinen Städtchen, das daneben schlummerte.
Die Schritte von schweren Stiefeln durchbrachen die Ruhe. Er stapfte durch den Wald geradewegs auf die Stadt zu, unbeirrt und ohne auf die eisige Schönheit der mächtigen Tannen zu achten. Ein Lächeln auf seinen Lippen, die, kaum zu sehen, durch seinen dichten weißen Bart schimmerten. Ein schwerer Sack lag auf seinem Rücken, welcher der Grund war, dass er nur mühsam aufrecht gehen konnte.
Er verließ den Wald und gelangte fast übergangslos zu den ersten Häusern. Es waren Einfamilienhäuser, die das Glück und das Lebensziel der Menschen hier bedeuteten. Ein Garten darum, umfriedet von einem kleinen Zaun und im Vorgar-ten ein Rosenbeet, mehr brauchte es nicht für die vorstädtliche Idylle.
Er suchte sich ein besonders hübsches, gut gepflegtes Haus aus und öffnete die kleine Tür zum Vorgarten.
Niemand, der ihn hätte beobachten können.
Langsam schritt er den schneeberäumten Weg hinauf bis zur Haustüre, dort blieb er stehen und stellte seinen Sack ab. Er stemmte die großen, schwieligen Hände in die Hüften und drückte stöhnend den Rücken durch. Dann kratzte er sich am Kopf. Von drinnen war Kinderlachen zu hören.
Er betätigte die Türglocke, und augenblicklich verstummten die Kinderstimmen. Langsam wurde sie geöffnet.
Ein kleines rundes Gesicht, umrahmt von zwei Zöpfen, erschien im Türspalt. Die Augen waren groß und erstaunt, und sofort tauchte über diesem Kopf ein zweiter auf, diesmal der eines Jungen, aber genauso gespannt und ebenso überrascht. Die Kleine mochte im höchsten Falle vier, der Junge annähernd sechs Jahre alt sein.
Die Tür wurde hastig wieder zugeschlagen und während sie nervös die Kette lösten, konnte man hören, wie sie sich aufgeregt unterhielten.
„Der Weihnachtsmann! Das ist der Weihnachtsmann!“, flüsterte das Mädchen. Der Junge brummte nur leise.
„Mach auf, schnell!“ Das Mädchen riss die Tür auf und blickte erwartungsvoll hinauf. Ihr Bruder schien skeptischer zu sein, aber die Kleine fasste den Gast bei der Hand.
„Komm“, sagte sie vertrauensvoll. „Komm rein! Wir wollen anfangen, wir wollen unsere Geschenke!“
Er folgte ihr tapsig. Sie führte ihn durch die Diele, einen Flur entlang, hinein in ein Zimmer, das sich ausladend und prächtig über die gesamte Front erstreckte. In der Mitte des Raumes stand eine strahlend geschmückte Tanne und am Rande, ganz leise, spielte Weihnachtsmusik, die den festlichen Rahmen bildete.
So stand er mit seinen klobigen Stiefeln mitten im Wohnzimmer und lauschte „Jingle bells“ in einer kitschigen Version, und um das Bild abzurunden, wären nur noch Vater und Mutter mit leuchtenden Augen vonnöten gewesen.
Wie auf Zuruf gab das Mädel einen Hickser von sich. Er drehte sich um und sie erklärte: „Ich hole Mum und Dad runter.“ Damit war sie aus der Tür verschwunden.
Ihr Bruder stand neben dem Türrahmen und musterte ihn mit Interesse. Unglauben und Erstaunen, aber auch Respekt im Blick, so stand er da, die Hände in den Taschen und sagte kein Wort.
Mit einem Seufzen schaute sich der Mann um und fand, direkt neben dem Baum, wonach er suchte: Ein kleiner Hocker, gerade wie für ihn platziert.
Also stellte er den Sack neben sich und ließ sich auf dem Schemel nieder. Der Junge starrte ihn immer noch an und er versuchte, ihn etwas zu beruhigen, indem er ihm zulächelte, obwohl man es durch seinen Bart kaum erkennen würde.
Der Junge drehte sich um und rannte aus dem Zimmer.
Doch gleich darauf hörte er Schritte und das aufgeregte Geplapper des Mädchens. Er setzte sich zurecht und war gespannt, auf das, was kommen würde.
Eine Frau betrat den Raum und gleich hinter ihr ein Mann - Vater und Mutter, wie er annahm - und um die Beiden herum kam das Mädchen gesprungen.
Die Frau musste geweint haben, sie hatte ganz rotgeränderte Augen, der Mann hatte Zorn in seinem Blick. Doch als sie beide ihn da sitzen sahen, in seinem dicken roten Mantel und den Stiefeln, unter ihrem Baum, auf ihrem Schemel, die Hand zum Gruß erhoben und freundlich lächelnd, erstarrten sie und hielten inne. Die Mutter zog ihre Tochter zu sich heran. Der Vater zögerte nur kurz, dann verließ er hastig den Raum und kehrte einige Momente später wieder zurück, in den Händen eine doppelläufige Schrotflinte, Kaliber 12. Er stellte sich vor seine Familie und funkelte den Eindringling drohend an.
„Wer sind Sie?“, fragte er laut, eine Spur zu scharf.
Der Mann auf dem Hocker sah ihn ungläubig an. „Ich...“, stammelte er, als ihn der Hausherr auch schon unterbrach: „Was suchen Sie hier?!“
„Ich verstehe die Frage nicht“, brachte er erstaunt hervor. „Ich verstehe den Sinn Ihrer Frage nicht.“
Der Vater hatte einen Gedankenblitz. Er fragte sich, warum ihn dieser Kerl mit seiner Weihnachtsmannkostümierung so verdammt an Bruce Willis erinnerte. Und dann fiel es ihm ein: Stirb langsam! Ho-Ho-Ho!
Sofort schob er, ohne den Eindringling aus den Augen zu lassen, seine Familie aus dem Zimmer. Seine Frau und seine Tochter ließen es mit sich geschehen, wandten aber ebenso den Blick kein bisschen ab von dem Mann im roten Mantel, die Frau schaute ängstlich, das Kind erwartungsfroh.
Als sie draußen waren, blieb der Hausherr in der Tür stehen. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und förderte ein Handy zutage. Ohne lange draufzuschauen wählte er eine Nummer und hob es dann ans Ohr. Der Eindringling beobachtete ihn interessiert. Er spürte, dass sein Gegenüber Angst hatte.
Auch als der Mann ins Telefon sprach, flüsternd und abgehackt, blickte er unstet hinüber zu dem seltsamen Mann, der unter seinem Weihnachtsbaum saß. Kaum vier Sätze, und das Gespräch war beendet. Der Eindringling fragte sich, wen der Hausherr angerufen haben mochte. Sein Blick jedenfalls war nicht weniger nervös als vor dem Anruf.
Er blieb in der Tür stehen und schob seine Tochter unsanft zurück, als diese sich um die Ecke wagte und dem Mann mit dem Bart zuwinkte.
„Sie bleiben, wo Sie sind, Mister!“, sagte er unsicher. Er versuchte lässig zu stehen, doch es gelang ihm nicht, immer wieder wechselte er fahrig die Stellung.
„Mister, vielleicht sagen Sie mir, was Sie hier wollen“, schnarrte er nach einer Weile, und er blinzelte mit den Augen, als der Eindringling seinen Blick erwiderte.
„Ist das nicht offensichtlich?“, fragte der und ein Lächeln war wieder unter seinem Bart zu vermuten. Er strahlte eine Ruhe aus, die unsicher machte.
„Hören Sie auf, mich zu verarschen, Mann!“ Das war jetzt wirklicher Ärger, der da in der Stimme des Hausherrn mitschwang. „Halten Sie uns nicht zum Narren! Kommen hier rein und bedrohen uns.“
„Bedrohen? Aber wieso bedrohen?“ Der Eindringling schaute überrascht. „Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie bedrohen könnte?“
Seine Hand wanderte langsam zu dem Jutesack, der immer noch zu seinen Füßen stand wie ein treuer Hund.
„Lassen Sie die Hand da, wo sie ist!“ Mit schneidendem Ton bellte der Hausherr seine Drohung ins Zimmer. Er hatte seine Waffe jetzt wieder direkt im Anschlag und seine Augen funkelten wild. „Ich werde für nichts garantieren, Mister, wenn Sie nicht sofort Ihre Hand wieder auf den Schoß legen.“
Während der Eindringling noch beruhigend „Schon gut“ flüsterte, konnte man in der Ferne zwei Martinshörner jaulen hören, die schnell näher kamen. Wieder ein Lächeln, diesmal eines zurück, das aber kalt und gehässig wirkte.
Keine zwei Minuten später waren die Sirenen so nah, dass sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft befinden mussten, und dann waren sie aus.
Vor dem Fenster konnte man die Lichtblitze der Rundum-leuchten erkennen, gespenstisch flackernd und ohne Laut.
Die Türglocke ging und der Mann wandte sich um. Seine Frau verschwand im Flur. Einige Momente später war Getrappel vieler Füße zu hören. Bewegung kam in die Diele, und der Hausherr drehte sich um.
Diese Sekunde der Unachtsamkeit hätte nun der Eindringling zur Flucht nutzen können. Er hätte aufspringen und sich in letzter Not durch das Fenster stürzen können. Doch er tat es nicht. Mit ehrlichem Interesse verfolgte er das Geschehen.
Ein Mann stürzte ins Zimmer, bekleidet mit einer martialischen Polizeiuniform und bewaffnet mit einer 45er Magnum. Hinter ihm betraten vier weitere Polizisten den Raum, ebenso ausgerüstet und uniformiert, mit denselben verkniffenen Mienen.
„Guten Abend“, sagte der Eindringling freundlich und beugte sich etwas vor. Sofort bewegten sich die Hände der Polizisten zu ihren Waffen, doch nur der erste, offensichtlich der Vorgesetzte, zog den Colt und legte an.
„Bleiben sie ganz ruhig sitzen, Mister. Wir werden Ihnen nichts tun, solange Sie sich nicht bewegen und ruhig bleiben.“
Er wirkte nervös und fahrig. Seine vier Mitstreiter, die hinter ihm standen, schienen nicht viel sicherer zu sein. Die Familie des Hauses drängte sich im Eingang vom Flur und verfolgte gespannt, was geschehen würde. Der Hausherr war ruhiger geworden und beobachtete entspannt das Geschehen.
„Mister, sagen Sie uns Ihren Namen und den Grund Ihres Hierseins!“, blaffte der Polizist.
Der Eindringling lächelte.
„Sagen Sie uns Ihren Namen!“ Der Ton wurde schärfer.
Eine unausgesprochene Frage erschien im Gesicht des Ein-dringlings. Trotzdem lächelte er immer noch.
Das wiederum machte den Polizisten unruhig und er wurde wütend. Völlig unangemessen schrie er: „Sagen Sie Ihren verdammten Namen!“
Der Eindringling zuckte heftig zusammen, und durch diese Bewegung aufgeschreckt zogen drei der vier hinten stehen-den Gesetzeshüter ihre Waffen aus dem Holster und stellten sich in Positur, bereit, ohne Warnung zu feuern.
Die Familie des Hauses wich zurück. Leise sagte der Eindringling: „Aber ich bin der Weihnachtsmann.“
Eine unbestimmte Bewegung von den Polizisten. Das Mäd-chen dahinter sagte leise: „Der Weihnachtsmann! Ich hab’s euch doch gesagt!“
„Kennen Sie mich denn nicht? Ich komme jedes Jahr und bringe Geschenke für die Kinder. Süßigkeiten und Spielsa-chen.“ Er schaute erwartungsvoll. „Sie müssen mich doch kennen, meine Herren. Der Weihnachtsmann, Santa Claus.“ Er begann zu singen: „Santa Claus is coming...“ und blickte wieder auf die Polizisten.
Der Boss der Fünf begann leise zu lachen und drehte sich kurz zu seinen Kameraden um, so dass sie in sein Gelächter einfielen. Der Familienvater stimmte mit ein und auch seine Frau, sowie sein Sohn. Nur das kleine Mädchen blickte ernst zu dem Eindringling hinüber.
„Mister! Für wie dämlich halten Sie uns?“ Schlagartig war wieder Stille, nur die Stimme des rangobersten Polisten zerschnitt den Raum. „Der Weihnachtsmann, lächerlich.“
„Aber ja“, rief der Eindringling. „Sehen Sie!“ Und damit beugte er sich hinab zu dem schweren Sack und griff hinein.
Sofort spannten sich die Leiber der Polizisten, der Vorgesetzte kreischte: „Hand da raus!“ Mit einer plötzlichen Bewegung richtete sich der Eindringling auf. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Ein Schuss hatte sich gelöst. Einer der Polizisten hat-te den Zeigefinger am Abzug bewegt. Der Gesetzeshüter wurde nach hinten geschleudert, hatte sich aber zwei Schritte zurück wieder unter Kontrolle. Alle Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Er schaute seine Kollegen entsetzt an, dann sah er auf seine Waffe, die er immer noch in seiner Hand hielt und schließlich ging sein Blick in Richtung des Eindringlings.
Der seltsame Mann mit dem roten Mantel und dem dichten weißen Bart lag der Länge nach ausgestreckt unter dem Weihnachtsbaum neben dem Sack. Ein daumengroßes Loch zeichnete sich auf seiner Brust in der Nähe des Herzens ab. Dass die Wunde blutete, sah man erst, als die Flüssigkeit auf den Boden tropfte. Der rote Mantel hatte exakt dieselbe Farbe. In die atemlose Stille hinein flüsterte das kleine Mädchen entsetzt: „Er hat den Weihnachtsmann erschossen!“
Die polizeiinterne Untersuchung wurde zugunsten des Polizisten abgeschlossen, er wurde von aller Schuld am Tod des mysteriösen Eindringlings freigesprochen.
Dieser Eindringling allerdings gab den Behörden einige Probleme auf. Eine Identität des Fremden war, solange man auch suchte, nicht zu ermitteln. Er trug keinerlei Papiere bei sich, es lag keine Vermisstenmeldung vor, die auf ihn passte und er war auch nicht zur Fahndung ausgeschrieben.
Eine Sache erschien am rätselhaftesten: Der Inhalt des Jutesackes, den er bei sich getragen hatte. Er war voller Pakete, und diese enthielten Geschenke für Kinder – Süßigkeiten und Spielsachen.
So wurde der Unbekannte in einem namenlosen Grab am äußersten Rand des städtischen Friedhofs beerdigt.