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Er will, dass wir schweigen
Er will, dass wir schweigen
Einfach so nebeneinanderzusitzen ist schwerer, als ich gedacht hatte. Aber Larry hat es so entschieden. Und normalerweise muss ich schon das tun, was er mir sagt. Es ist nicht so, dass ich keine eigene Meinung habe, aber handeln tu ich eben nach dem, was er mir sagt. Auch deshalb, weil er einfach mehr Erfahrung hat, mit diesen Sachen.
Er übernimmt die Planung und die Organisation und er sagt mir, was ich tun soll. Und wie. Und dann funktioniert alles ganz einfach. Larry ist gut in seinem Job. Außerdem trägt er ja auch das ganze Risiko. Also ist es nur gerecht, wenn ich tue, was er mir sagt.
Diesmal ist es wohl besonders kompliziert gewesen. Der Markt gibt nicht viel her, im Moment, sagt Larry, so wie überall anders auch. Aber jetzt haben wir sie hier. Sie sitzt auf dem Stuhl und sieht mich schon seit einer halben Stunde an.
Ich bin froh, dass sie nicht mit mir spricht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich sonst beherrschen könnte. Ich sehe kaum zu ihr rüber. Dabei soll ich sie doch nicht aus den Augen lassen. Aber darauf kommt es sicher nicht so an. Das hat Larry sicher nur so gesagt.
Wenn ich sie ansehe, wird mir ganz anders. Sie sitzt da so gerade, wie ich noch nie eine Frau hab sitzen sehen. Ihr Nacken ein wenig nach vorn gespannt. Stolz. Ihre Augen sind auf mich gerichtet, als wollte sie mir etwas mitteilen. Aber sie sagt kein Wort und ich bin froh.
Ich sehe aus dem Fenster, aber unter ihren Blicken rinnt mir der Schweiß den Rücken hinunter. Ich frage mich, was sie wohl von mir denkt. Aber vielleicht will ich das auch gar nicht wissen, denn was sollte sie schon von mir halten. Mein Blick wandert über meine Schulter, obwohl ich alles andere will, als das. Und trifft in ihre Augen. Ich kann ihr nicht standhalten, wende mich wieder ab.
Minutenlang versuche ich, zu deuten, was ich gesehen habe. Eindrücke überschlagen sich in meinem Kopf. Stolz, mit dem sie versucht, alles zu überdecken, aber eben konnte ich dahinter sehen. Habe die Angst gesehen, diese Art von Furcht, die in jede Faser kriecht und man will nur noch weinen, ganz leise, in einer Ecke, in der einen niemand sieht, aber man kann nicht, weil man zu viel Angst hat. Weil es einfach nicht geht. Sie hat Angst vor mir. Und ich bin immer noch froh, dass sie nicht spricht, weil ich sonst mit ihren Worten in den Ohren hier säße. Dann könnte ich die Furcht hören. Dann könnte die Wut, die sich daruntermischt, mich treffen.
Ich ziehe die Schultern ein wenig hoch. Vor dem Fenster geschieht nichts. Und ich verfluche diesen Tag. Ich bin wütend auf Larry, weil er vor Stunden zurück sein wollte. Und er ist noch nicht da. Sie ist nah bei mir. Aber ihr werde ich niemals näher kommen. Eine wie sie, unter anderen Umständen, wer weiß. Wohl nicht. Mir wird wieder heiß, während sich in mir wieder dieses Gefühl ausbreitet, gegen das ich nicht ankann. Dieses Gefühl, seit Ewigkeiten.
Um mich zu beschäftigen, krame ich in meinem Rucksack. Darin sind ein paar zerdrückte Schokoriegel. Ich fische einen heraus und knibbele eine Weile am Papier herum, bis es mir schließlich gelingt, ihn aufzureißen.
Nach zwei Bissen, schmeckt er trocken. Ich denke daran, dass sie bestimmt auch Hunger hat. Zögerlich drehe ich mich um. Ihr Blick bittet mich und ich verstehe, aber ich wünschte, ich hätte es nicht gesehen. Larry hat gesagt, nimm ihr bloß nicht den Knebel ab. Aber ich kann diesen Blick nicht vergessen. Nicht ertragen.
Schließlich gehe ich zu ihrem Stuhl, sehe dabei zu Boden, um nicht ihren Augen zu begegnen. Ich greife nach dem Knoten hinter dem Kopf. Sie beugt sich ein wenig nach vorn und ihre Haare berühren mein Hemd. Es dauert einen Moment, bis ich das Tuch gelöst habe. Als ich sehe, wie schmutzig es ist, könnte ich richtig wütend auf Larry werden. Aber der ist nicht da, und deshalb reicht es mir, was ich tue.
Ich nehme den Riegel vom Tisch und halte ihn ihr hin, noch bevor das Tuch ganz weg ist. Sie sieht mich unsicher an. Aber auch ein wenig dankbar. Bitte sag nichts. Iss einfach und sprich nicht mit mir.
"Danke!", ihre Stimme ist so weich, dass sie sich tief in mir festbrennt. Ich werde unwillkürlich angezogen und sehe in diese tiefen Augen. Sie meint es ernst. Die Furcht ist jetzt gemischt mit Dankbarkeit. Wie kann sie mir jetzt wirklich dankbar sein, nach all diesen Stunden, in denen ich hier sitze. Ich stubse den Riegel weiter in ihre Richtung, damit sie endlich isst und nicht noch ein einziges Wort spricht.
Sie nickt mit dem Kopf nach hinten über ihre Schulter. Ich habe nicht an die Fesseln gedacht. Sie kann den Riegel nicht nehmen. Wenn ich das tue, dann bringt Larry mich um. Auf gar keinen Fall darf ich das. Also schiebe ich den Riegel aus dem Papier, er klebt ein wenig. Dann halte ich ihn so, dass sie abbeißen kann. Wie lange hat sie wohl nichts mehr gegessen? Ich kann spüren, dass sie nervös ist, aber das Essen scheint ihr zu helfen. Immer erst mal was essen, hat meine Mutter gesagt. Früher schon. Und es hilft. Beim letzten Bissen berühren ihre Lippe meine Finger ganz leicht. Die Gänsehaut breitet sich wie Lauffeuer auf mir aus.
"Er wird mich töten." Ich hätte es doch tun sollen. Hätte den Knebel wieder anbringen müssen. Aber ich konnte nicht. Die Vorstellung, ihr das schmutzige Tuch in den Mund zu zwängen, habe ich nicht ertragen.
"Erst wenn Larry wiederkommt. Dann muss es sein." Ich werde seinen Wagen sehen, wenn er vorfährt. Dann ist noch Zeit genug. Seinen Namen zu nennen, ist auch verboten und ich beiße mir auf die Zunge.
"Du weißt, dass er es tun wird." Nein, das will ich auch gar nicht wissen. Außerdem wird er es nicht tun. Sie ist nur eine Geisel, weiter nichts. Also wird er sie nicht töten. "Sie ist unser Pfand", hat er gelacht, "Stell sie Dir als riesige Pfandflasche vor." Seine Art von Humor. Ich soll nicht mit ihr sprechen. Nichts zu ihr sagen, und auf keinen Fall unterhalten.
"Nein, wird er nicht." Ich hätte nicht darauf eingehen sollen. Aber was soll ich denn anderes tun? "Doch, er hat es vorhin gesagt." Ihre Stimme zittert. Ich wage es nicht, mich umzudrehen. Tränen sind zuviel.
"Warum sollte er?" Logik. Das hilft immer. Mir zumindest. Lass Dich nicht einwickeln. Das ist Dein schwerster Job bisher. Aber Larry vertraut Dir. Du musst es schaffen. Halt Dich einfach an seine Regeln. Die sind ganz klar. Wenn nicht, dann wirst Du in Zukunft wieder Schmiere stehen. Für einen Hungerlohn.
"Er hat gesagt, er tut es, wenn sie nicht zahlen." "Na und, wo ist das Problem?" Halt bloß die Klappe! Wenn sie noch ein Wort sagt, rede ich mich hier um Kopf und Kragen. Larry wird wütend werden.
"Sie werden nicht zahlen, verstehst Du? Die sind nicht erpressbar. Ich werde ihnen vielleicht fehlen, aber sie werden mir einen hübschen Grabstein kaufen, für viel mehr Geld, als Larry haben will, und dann weinen sie ein paar Minuten, und das war's dann." Ich glaube ihr kein Wort. Aber sie weint, und warum sollte sie weinen, wenn das nicht wahr ist.
"Wieso?" "Aus Prinzip. Damit es nicht wieder passiert." "Ich glaube nicht, dass Dein Vater seine Prinzipien wichtiger findet, als seine Familie!" Ich glaube es wirklich nicht. "Was glaubst Du, wie er sein Geld verdient hat? Meinst Du, er wäre jetzt so reich, wenn ihm die Familie wichtiger gewesen wäre, als Geld? Mitnichten." Ihr Lachen tut mir weh.
Sie sinkt ein wenig zusammen und ich kann ihr leises Schluchzen hören. Ich fixiere den einzigen Baum draußen und hoffe, dass er ein wenig im Wind schwanken wird, damit er mich ablenkt. Aber er steht so still, als würde er mich beobachten.
Jetzt ist sie ganz plötzlich still. Noch ein lautes Schniefen, dann nichts mehr. Ich drehe mich zu ihr um. Ihr Blick ist noch verschleiert, aber sie sieht entschlossener aus:
"Lass mich gehen. Bitte!"
Ich kann nicht. Mich weder umdrehen, noch etwas sagen. Keine Bewegung, kein Gedanke, ich betrachte nur ihr Gesicht, als könnte es mir etwas mitteilen, was ich unbedingt wissen müsste.
"Bitte!" Sie legt so viel Nachdruck in ihre Stimme, dass sie ganz fremd klingt. Larry hat gesagt: Lass den Knebel drin. Sprich nicht mit ihr. Larry weiß alles besser. Lass sie keinen Moment aus den Augen. Sie ist nur eine Pfandflasche. Ihr wird nichts passieren.
Warum sollte ich auf Larry hören? Er hat auch gesagt, ausgeschlossen, dass ein Vater nicht für seine Tochter zahlt. Aber es scheint möglich. Und jetzt ist er immer noch nicht zurück. Er wollte vor Stunden hier sein. Aber er lässt mich hier allein. Geschieht ihm recht.
"Du bist kein Mörder." Sie sagt das so einfach. Es ist die Wahrheit. Und genauso sagt sie das jetzt, als wäre es einfach eine Feststellung und weiter nichts.
Ich löse die Knoten, ohne darüber nachzudenken. Sie steht langsam auf, ihre Gelenke sind steif. "Danke", flüstert sie, als sie nach draußen geht. Ich sehe ihr nach, wie sie über den Rasen geht, schnurgerade, aber noch gar nicht schnell. An dem einzelnen Baum vorbei und weiter über die offene Fläche. Dann verschwindet sie im Waldsaum und langsam wird mir bewusst, dass Larry mich hier finden wird. Mich und die offenen Seile, und sie nicht.
Während ich hinter ihr her über den Rasen renne, höre ich den Motor an der Biegung aufheulen. Gleich ist er in Sicht.