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Er nannte sie Laura
Der Wunsch Laura wieder zu begegnen, war ihm längst schon zur fixen Idee geworden.
Morgen wird es soweit sein. Mit fahriger Bewegung drückte er nach einigen Zügen die Zigarette wieder aus. Der Aschenbecher war mit nur halb angesengten Stummeln angefüllt. Seit er die Antwort hatte, der Wunsch sich der Realisierung näherte, drehten sich seine Gedanken nur noch um die Begegnung. Der Griff zur Zigarette etablierte sich seither als Handlanger seiner Ungeduld. Das Bild von Laura zog seinen Blick erneut magisch an. Er kannte jede Locke, die sich da lose herab kringelte.
In der Erinnerung schweifte er zurück, wie er damals in Mailand mehr zufällig, er langweilte sich, die Film- und Fotomesse besuchte. Montags hatte er einen Geschäftstermin in der Stadt und war bereits zum Wochenende angereist.
Ein Aussteller bot die Möglichkeit, selbst Aufnahmen von Models zu machen. Die Ausrüstung wurde zur Verfügung gestellt. Als er in den Atelierraum trat, sah er sie auf einem Stuhl sitzen, jedoch nicht so, wie man ihn normalerweise benutzt. Auf einer der Armlehnen hockte sie seitwärts, die Füsse auf der Sitzfläche, in kauernder Stellung. Sie wollte sich erheben, doch er bat sie, diese Position beizubehalten.
Sie wirkt unverstellt, natürlich, als hätte ich sie in einem unbedachten Moment überrascht. Ein Augenblick, der Selbstversunkenheit.
Die Kamera war auf Vollautomatik eingestellt, einzig die Schärfeeinstellung musste er noch wählen. Es war das erste Bild, das nun großformatig gegenüber seinem Schreibtisch einen Blickfang darstellt.
Die anderen Aufnahmen mit ihr erzielten nicht mehr den gleichen Effekt. Ihre Nacktheit ist da zwar augenscheinlicher, doch das Besondere, welches sie in der ersten Pose ausstrahlte, ging verloren. In diesem Aktbild sieht man eigentlich nichts Aufreizendes, da ihr Arm selbst noch die Brüste verdeckt. Es ist, als ob sie imaginär bekleidet wäre, alles offen gelegt und doch die Entblössung verdeckt.
Das Bild zog Gion Cathomen seither in den Bann, wenn sein Blick darauf fiel, und beunruhigte ihn zugleich. Auch nach einem Jahr war die Faszination noch ungebrochen, welche ihr Anblick in ihm auslöste. Ihre Augen von einem durchlässigen Grau wirkten kühl und doch ansprechend. Sie machten den Eindruck ihm zu folgen, wenn er sich bewegte. Der halb offene Mund deutete an, sie könnte im nächsten Augenblick sprechen. Ihr namenloses Dasein ertrug er nicht lange, er nannte sie Laura.
Bei einer neuerlichen Visite an der Messe in Mailand wurde Gion enttäuscht. Laura war dieses Jahr keines der engagierten Models. Der Aussteller erklärte ihm rigoros, dass er die Namen und Adressen von Models nicht bekannt gibt. Nicht einmal ihren Vornamen wusste er.
Doch vielleicht lautet ihr Name wirklich Laura, dachte er, er passt zu ihr.
Gion beauftragte eine örtliche Agentur sie ausfindig zu machen. Nach drei Wochen erhielt er ein Dossier mit einem Bild, das sie in professioneller Ablichtung zeigte, und den gewünschten Daten. Sie hiess Bianca und wohnte in Bologna. Nicht in Mailand. Eine Studentin, die gelegentlich als Fotomodel arbeitete.
Seine schriftliche Kontaktaufnahme mit Terminvorschlag beantwortete sie innert Wochenfrist. Einem Fototermin in Bologna stand nichts entgegen.
Telefonisch vereinbarten sie ihr Treffen auf vierzehn Uhr im Hotel. Für die ersten Aufnahmen hatte sie als geeignete Kulisse die Strassen und Gassen der Stadt vorgeschlagen. Mit keinem Wort hatte er erwähnt, dass dies nicht sein Beruf war. Die Fotoausrüstung, die er sich anschaffte, war dafür von bester Qualität.
Der Portier meldete ihm pünktlich, dass Frau Bianca Orsini, die er in Gedanken noch immer Laura nannte, ihn in der Eingangshalle erwarte.
Als er aus dem Lift trat, fühlte er sich verunsichert.. Die Spannung, mit welcher er diesen Moment herbeigesehnt hatte, löste sich bei ihrem Anblick.
Sie wirkt sehr selbstsicher, jung und ihrer Wirkung bewusst. Die überschlagenen Beine, wie sie da in einem gelben Sommerkleid im Fauteuil sitzt, wirklich rollengerecht.
Seine Aufregung unterdrückend trat er auf sie zu.
Für sie ist es doch nur ein üblicher Modeltermin. Was erwarte ich eigentlich davon? Es war ihm noch weniger klar als bisher.
«Bianca, schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten.»
Sie reichte ihm die Hand. «Es freut mich Sie kennenzulernen, Gion.»
Sie hat anscheinend keine Erinnerung an mich. Er bedauerte, keinen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben, auch wenn er sich klar war, dass er nur einer unter vielen Amateurfotografen war, die dieses Fotoshooting nutzten.
Die Gassen und Häuser bildeten einen malerischen Hintergrund in dem Quartier, in das sie ihn führte. Als sie eine posierende Haltung annahm, da er keine Anweisungen gab, begann er mit Aufnahmen.
Sie erwartet von mir sicher Regieanweisungen, aber wie macht dies ein professioneller Modefotograf? Vielleicht ab und zu eine Bemerkung, wenn eine Szene als gelungen erscheint?
«Gut so», «Ja behalte diese Stellung» oder «Halte die Hand ein wenig erhoben», warf er ab und zu ein, sich nicht bewusst, dass er sie duzte.
In einem Strassencafé, in dem sie einen Espresso tranken, fragte sie ihn.
«Seit wann fotografieren Sie, Gion?»
Ihre Frage war in normaler Tonlage gehalten, eher neugierig klingend, doch ihm war zumute, als ob sie ihn bei etwas Obszönem ertappt hätte. Er meinte, das Blut aus seinem Gesicht weichen zu spüren und nestelte an seinem Foulard herum, als ob es ihm zu eng geworden sei.
«Seit zwei Jahren, aber eigentlich bin ich Amateur.»
Sie blieb ruhig und schaute ihn nur erwartungsvoll an. Da die Empörung, die er schon befürchtete, ausblieb, vertraute er ihr seine wahren Motive an.
«Das Bild gewann für mich einen Kultwert, es war nicht einfach eine Abbildung. Wäre es dies, hätte ich irgendein anderes Model wählen können. Nein, das Faszinierende an dem Bild ist, dass es Sie in einer Weise darstellt, die über die Pose eines Models hinausgeht, es zum eigentlichen Kunstwerk erhebt. Ich weiss, es klingt beinah übertrieben, ja pathetisch. Es ist die Ihnen eigene Natürlichkeit, die ich nochmals einfangen wollte.
Ihr Gesicht war ernsthaft geworden, doch als er endete, zeigte sie wieder ein Lächeln.
«Dies klingt etwas verrückt. Sie investieren ein kleines Vermögen in Fotoaufnahmen, die Sie dann nicht verkaufen können.»
Ihre Worte liessen ihn hohl schlucken. Er rang nach Worten, überlegte, was er sagen könnte, um nicht, wie ein Idiot dazustehen.
«Wissen Sie Laura, andere leisten sich eine Reise in die Karibik, und was ihnen bleibt, ist eine schöne Erinnerung.»
Er hatte nicht gemerkt, dass er sie mit dem von ihm gewählten fiktiven Namen ansprach. Da sie nicht antwortete, fuhr er mit seiner Rechtfertigung fort.
«Hätte ich nicht versucht Sie zu finden, würde der Gedanke, die Chance verpasst zu haben, Ihnen nochmals zu begegnen, mich wohl ein Leben lang verfolgen.»
«Ich verstehe das. Es gibt Träume, die man im Leben realisieren muss, damit man sie beiseitelegen kann.» In ihrer Mimik spiegelte sich jedoch ein Widerstreit von Verstehen und Ablehnung. Ihr Lippen pressten aufeinander, ihr Blick wirkte kühl und forschend, als zweifelte sie an seinen Worten.
Jetzt habe ich es vermasselt. Ich hätte behaupten sollen, dass ich versuche eine Karriere als Fotograf aufzubauen. Es hätte wahrscheinlicher gewirkt als die Wahrheit. Sie muss jetzt denken, ich hätte unseriöse Absichten. Am besten reise ich heute noch ab.
Ein klirrendes Glas hinter ihm liess ihn zusammenfahren. Einem Kellner war ein Missgeschick passiert.
«Meine Mutter hatte bei einem solchen Anlass jeweils bemerkt, dass Scherben Glück bringen.» Diese Worte entfuhren ihm ungewollt.
Bianca, die ihn beobachtet hatte, während er seinen Gedanken nachhing, lachte.
«Das sagt man bei uns auch. Glauben Sie denn nicht daran?» Ihr Blick hatte jetzt beinah etwas Spitzbübisches.
«Ich weiss nicht. Es wäre schön, wenn es ein Körnchen Wahrheit enthielte.»
«Gion, wenn Sie mögen, zeige ich Ihnen noch einige Sehenswürdigkeiten von Bologna.»
Der Vorschlag verunsicherte ihn.
Sie hat es wohl Leid für einen Amateurfotografen zu posieren, aber ich gab ihr ja Anlass dazu.
«Darf ich Sie dabei weiterhin fotografieren?», fragte er dennoch.
Lachend quittierte Bianca seine Frage. «Selbstverständlich, Sie haben dafür bezahlt Gion, und solange es Ihnen Freude bereitet, bin ich dabei.»
Sie posierte nun nur noch vereinzelt wie ein Model, gab sich locker und machte auch Scherze dabei. Ihm war, als ob das Graziöse des Bildes, welches ihm die Inspiration gab, zum Durchbruch kam. Für ihn überraschend, bat sie auch mal eine Passantin, von ihnen beiden zusammen ein Foto aufzunehmen. Als er mit Blick auf den Monitor der Kamera ein historisches Gebäude anvisierte, um es aus einer fotogenen Perspektive zu erfassen, trat sie einige Schritte beiseite und telefonierte mit ihrem Handy.
Sie lacht. Sicher spricht sie mit ihrem Freund. Eigentlich hätte ich sie ja gerne zum Abendessen eingeladen, doch das kann ich nun vergessen.
«Darf ich Sie zum Abendessen zu mir nach Hause einladen?» Bianca stand wieder neben ihm.
Er war überrascht, dies hatte er nicht erwartet. Als ob sie seine Gedanken erraten hätte.
Soll ich es ihr doch vorschlagen? Nein, die Atmosphäre nur zu zweit ist zweifellos romantischer.
«Ja gerne, da sage ich nicht Nein.»
Um Biancas Lippen kräuselte ein Lächeln, ein anmutiger Gedanke schien ihre hellen, grauen Augen aufblitzen zu lassen.
«Ich habe eine Überraschung für Sie», fügte sie an.
Als sie die Wohnung betraten, rief Bianca: «Mama, wir sind da».
Aus der Tür, hinter der sich die Küche befand, trat eine elegant gekleidete Frau. Er bemerkte sofort ihre Augen. Das gleiche helle Grau wie das von Bianca. Auch sonst stand sie in Attraktivität und Ausstrahlung ihrer Tochter in nichts nach, nur wirkte sie reifer. Sie musste etwa in seinem Alter sein.
Der Tisch war auf einer Terrasse gedeckt, von der man einen Ausblick über die Stadt hatte. Als sie zum Weinglas griffen, sagte Biancas Mutter zu ihm gewandt:
«Ich heisse Laura.»
Vor Verblüffung wäre ihm beinah das Glas aus der Hand geglitten. Laura und Bianca lachten darüber herzlich.
Meine Intuition war doch nicht so falsch, sie Laura zu nennen.
Im Laufe des Abends fiel es Gion je länger schwer, sich an den richtigen Namen von Bianca zu halten. Nicht beide mit Laura anzusprechen, da sie bei seinem Blick auf den Kameramonitor, ihm immer ähnlicher schienen.