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Er liebte mich - irgendwie
Die Kälte fuhr mir erbarmungslos unter die Kleider, als ich aus der Haustür trat. Schneidend schlug der eisige Wind um meine Nase. Ich zog die Jacke noch ein wenig höher. Dann fiel die Tür hinter mir zu.
Vorsichtig trat ich aus dem Schatten des Vordaches und warf einen prüfenden Blick nach oben. Trotz der Dunkelheit, die mich umgab, wirkten die verschwommenen Konturen der Wolken über mir bedrohlich.
Der Schnee war schon wieder matschig geworden. Gerade noch vom Himmel gefallen, schon zertreten und von Autos durchpflügt. Aber gut, auf geht’s.
Warum ich an jenem Abend überhaupt aus dem Haus ging? Jeden Abend um Viertel vor sieben. Nicht aus Routine, aus Sehnsucht.
Ich zitterte. Meine Füße patschten unbeholfen durch den Schneematsch.
Um zur Bushaltestelle zu gelangen musste ich durchs halbe Dorf gehen, aber das machte mir nichts aus. Auch bei diesem Wetter nicht.
Ich kam an vielen Fenstern vorbei, erleuchteten Fenstern. Nette Leute die sich da hinter den Fenstern in der warmen Atmosphäre ihrer Familien einigelten. Nette Leute, das aber war auch schon alles. Ich kannte sie alle und sie kannten mich. Sie grüßten mich nett auf der Straße und ich grüßte zurück.
„Wie geht es deinen Eltern“, „dein Vater kommt doch zum Kegeln am Dienstag, oder“, die Fragen waren immer dieselben. Jetzt war ich allein.
Meine Eltern waren angesehene Leute, alle mochten sie. Eigentlich war die ganze Familie angesehen, zum größten Teil zumindest. Ich glaubte sogar, dass einige der Menschen hier mich wirklich mochten.
Noch hatte ich etwa zehn Minuten, bis der Bus kam, ich würde wohl noch etwas an der Haltestelle warten müssen. Aber das war schon in Ordnung.
Ich überquerte die Heinzstraße und folgte der Hauptstraße.
Kein Mensch auf der Straße, von Zeit zu Zeit ein einsames Auto das vorsichtig durch die Kurven schlich. Die Laternen, als einzige Lichtquellen, tauchten die ehemals weiße Schneedecke in ein unheimliches Licht. Wie an jedem Abend im Winter. Fast bedauerte ich, dass es bald wieder Sommer würde. Es würde wärmer werden, auch abends, wenn ich zum Bus ging.
Ich war fast an der Haltestelle angelangt und der Bus kam erst in fünf Minuten. Bei dem Schnee würde es vielleicht aber auch länger dauern. Wer weiß. Ich würde warten, wie jeden Abend.
Fünf Minuten mit ihm allein sein, nur er und ich. Ich würde wieder die erste sein, die ihn an diesem Abend sah. Nur ich und er, bis wir zu Hause ankamen. Dann würde es heißen, er und der Rest der Familie. Aber ich hatte ihn zuerst gesehen, zuerst mit ihm geredet und vielleicht mochte er mich dann ein wenig mehr. Bestimmt würde er sich freuen, dass jemand in der Kälte auf ihn gewartet hatte. Auch wenn nur ich es war, die auf ihn wartete. Er würde sich freuen.
Warum ich an jenem Abend überhaupt aus dem Haus ging? Jeden Abend um Viertel vor sieben ging ich meinen Vater an der Bushaltestelle abholen, wenn er von der Arbeit kam.
Ich strich mir die widerspenstigen Haare aus der Stirn, die dort wie angeklebt zu sein schienen. Ging ein Stück auf und wieder ab, vergrub die Hände tief in den Taschen meiner Jacke. Es war eisig.
Er musste sich einfach freuen, wenn jemand auf ihn wartete. Den ganzen Tag auf der Arbeit schuften - da freute man sich doch, wenn jemand sich die Mühe machte einen abzuholen. In der Kälte.
Gleich musste der Bus kommen. Ich freute mich. Für fünf Minuten. Vielleicht waren diese fünf Minuten die glücklichsten des Tages, vielleicht.
Ich war anders als mein Vater, anders als die meisten in der Familie. Sie taten ihre Pflicht, für sie zählte der Erfolg. Sich bloß nicht beschweren, sich immer gut benehmen und bloß niemals die Meinung sagen. Was passierte, passierte.
Ich war nicht so, vielleicht musste ich als Jüngste auch die Rolle das schwarzen Schafes übernehmen. Alle anderen Rollen waren ja schon besetzt. Und so war ich also anders, als mein Vater und der Rest meiner Familie, außer meiner Mutter. Sie mochte wie ich war.
Meine Füße wurden feucht und kalt. Ich ging wieder ein paar Schritte.
Hinter mir erhob sich riesenhaft, fast drohend die schwarze Silhouette der Dorfkirche. Es war die katholische Kirche, wir waren evangelisch. In diesem Punkt waren wir anders als der Rest der Leute im Dorf, unter anderem. Vielleicht versuchten sie aus diesem Grund so normal zu sein, um nicht zu zeigen wieviel anders wir eigentlich waren. Ich beschwerte mich nicht.
Jede Minute musste jetzt der Bus um die Ecke biegen. Ich wartete. Die Türen würde sich öffnen und mein Vater hinaustreten. Mir sagen wie sehr er sich freute mich zu sehen, würde er. Die glücklichsten Minuten des Tages. Ich begrüße ihn als erste. Wenigstens dieses eine Mal am Tag kam ich an erster Stelle.
Gleich würde der Bus kommen.
Und dann kam der Bus, brummend bog er um die Kurve, seine Reifen pflügten durch den schmutzigen Schneematsch. Wild wirbelte eine Rauch und Dampfwolke aus seinem Auspuff, verlor sich im Dunkel der Nacht. Der Bus hielt.
Fünf Minuten gehörte er mir. Ich war die erste.
Quietschend öffneten sich die Türen, eine Dunstwolke entwich dem Innenraum.
Angestrengt trat er aus dem Bus, den Blick versteinert in die Kälte der Nacht gerichtet. Er sah geschafft aus, hatte den ganzen Tag gearbeitet. Mißmutig schlug er seinen Kargen hoch.
„Du weißt doch ich habe es nicht so gern, wenn du bei der Kälte draußen bist,“ er blickte mich verärgert an, „du wirst nur wieder krank.“
Wir gingen los, ich ein Stück hinter ihm, aber doch in seiner Nähe. Die Kälte war nicht so schlimm. Er liebte mich, irgendwie.
Fünf Minuten später waren wir zu Hause und hatten nichts mehr geredet. Wahrscheinlich war er zu müde, er hatte ja den ganzen Tag gearbeitet. Ich hatte ihn als erste begrüßt. Als wir zu Hause ankamen nahm er meine Mutter in den Arm, wünschte allen einen schönen Abend.
„Wie war denn euer Tag?“ Seine Stimme war wunderbar warm, wir waren zu Hause. Meine Mutter sah mich traurig an und ich lächelte zurück.
Warum ich an jenem Abend überhaupt aus dem Haus ging? Wie jeden Abend um Viertel vor sieben, zu schweigen aber die erste zu sein.
Und so wartete ich auf den folgenden Abend, hoffentlich würde es wieder so kalt werden.