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Er über sich
... im Alltag genervt, man macht seinen Mist zu Ende, lächelt noch mal oder erzählt einen mittelguten Witz und fährt nach Hause. Und man ist vernünftig, die großen Gefühle gibt es da nicht; wenn ist da nur eins, Angst oder Nervosität, nicht wegen dem, was ist, sondern wegen dem, was wäre, wenn man nicht täte, was normal wäre. Folglich ist man normal; und langweilig und durchwachsen und fühlt sich auch so. So fühlt und denkt man bis man 28 ist, dann fällt es ersatzlos weg.
Man sitzt im Flieger nach Ibiza: neben einem die hübsche, äußerst devote Freundin, deren Vater Zahnarzt ist, vor einem liegen Sonne, Strand und Meer und neben einem klasse Hotel wartet noch ein nagelneuer Porsche auf einen. Praktisch alles, wonach der pubertierende Sohn eines mittellosen Arbeiters in seiner Jugend gierte.
Eigentlich bräuchte er das nicht, er wusste, dass es wieder nur normal sein würde, niemals so schmecken würde wie er es sich damals erträumte. Aber er tat es und musste es tun. Er redete nicht darüber, war sich im Klaren, dass ihn keiner verstehen könnte. Es handelt sich um eine Verbindlichkeit an seine Jugend. Er litt damals, die Krankheit, sie ist längst überstanden, doch die Gedanken, die ihm halfen, sie zu überstehen, waren noch präsent, zwar ohne Gefühl, aber noch sprachlich da, wie die Zeche für einen vor Jahren verprassten Deckel. Er musste ihn einlösen.
So sind auch seine überzogenen Reaktionen auf den Jahres- und Klassentreffen zu erklären. Er schuldete es seinen pubertierenden Fantasien, mit denen er sich noch zu Schulzeiten künftige Jahrestreffen ausmalte. Nur so war es ihm möglich, seine Minderwertigkeitsgefühle zu überstehen. Sie allein waren der Motor seines Ehrgeizes. Und er war dankbar, dankbar dafür, dass er sie nicht beiseite wischte, dass er sich ihnen stellte, sie sich nicht wegredetete, sondern sie sättigte.
Was erst Gedanken an Töchter reicher Väter und Porsches ausfüllten wandelte sich dann in Sprachgehabe. Plötzlich redete der Sprachgossler mit einem Vokabular, das ihm vorne und hinten zu groß war. Sozialer Aufstieg durch Sprache, ja auch er durchlebte es. Später dann wollte er schreiben, nicht son Gesülz, nein Wahrheiten, Lebensveränderndes: Das Lebenshöchste musste es sein. Seine Texte sollten allen die Augen öffnen und man sollte ihn für schlau und groß halten. Diese Phase war echt gefährlich und hatte ihn voll an den Eiern. Tausende Seiten Manuskripte aufzubrennen brachte er nicht fertig, aber seit Jahren wagte er es nicht, auch nur einen Blick zu riskieren. Dort warteten auf jeder Seite emotionale Granaten, die sein Wohlbefinden, seine Gesundheit in Minutenschnelle sprengen konnten. Was solls? Es gibt nun mal Granaten, sie sind in der Welt und man muss sie meiden! Ein Troch, der ein Minenfeld erkennt und weiter wandert.
Und heute lebt er eben so dahin. Es ist okay. Er erinnert sich oft, wie er früher groß fühlte über die Dinge des Lebens, die ihm phantastisch anmuteten. Heute macht man alles und es ist normal. Aber manchmal noch, wenn er im Radio per Zufall Lieder von früher hört, wenn er am Fenster steht und es regnet, , dann erinnert er sich, dass man sich im Leben fantastisch fühlen kann und er genießt den Schmerz, den es hat, wenn er sich dabei ertappt wie ein 17-jähriger geträumt zu haben, aber nicht mehr über den Trost verfügt, dass alle Zeit der Welt noch vor einem liegt und es die Zukunft schon richten werde. Nein, der Trost des Aufschiebens ist dahin und mit ihm der bittersüße Balsam suizidaler Gedanken.