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Episode im Zug

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09.09.2001
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Episode im Zug

Episode im Zug

Es war spät am Abend. Ich hatte es mir in einem ansonsten leeren Waggon des Regionalexpress bequem gemacht. Ich lauschte dem eintönigen Rattern der Räder auf den Gleisen, blätterte in einer Zeitschrift und sah hin und wieder in die Nacht hinaus.

Der Zug hielt. Die Türen klappten. Ein junger Mann und eine junge Frau kamen herein. Sie blickten sich um und wählten das Abteil vor mir.

Beide waren ungefähr Mitte Zwanzig. Er war kräftig gebaut, mit einer sportlichen Figur, und trug sein dunkles Haar sehr kurz. Sie war groß und schlank, ihr Gesicht schmal, die Nase stach ein kleines Stück zu weit hervor, ihr Mund war dünnlippig, aber nicht breit. Ihre Haare, blond und in der Mitte gescheitelt, fielen in einer sanften Welle bis fast auf die Schultern hinab. Sie war eine herbe Schönheit.

Der Mann nahm in Fahrtrichtung Platz, mit dem Rücken zu mir. Die Frau zögerte für einen Moment und setzte sich ihm gegenüber.

Sie sprach mit ihm, fragte ihn nach seiner Meinung über dies und das, lächelte, lachte, beugte sich ihm weit entgegen und lächelte und lachte wieder. Aus der Art der Bewegung ihrer Schulter und ihres Oberarms schloss ich, dass sie ihn auch berührte.

Er hingegen blieb kurz in seinen Antworten oder brummte kaum Verständliches. Er saß sehr gerade. Er mied ihren Blick und sah oft zur Seite.

Einmal stand er auf und trat an das Fenster. Sie erhob sich ebenfalls. Sie blieb weniger als einen Schritt von ihm entfernt hinter ihm stehen. Ihre Hand schwebte über seiner Schulter. Jetzt, wo sie sich unbeobachtet glaubte, lächelte sie nicht mehr. Ihre Maske fiel. Sie enthüllte Traurigkeit, Entsagung, Sehnsucht und Schmerz. Sie senkte die Hand, ohne ihn zu berühren, und starrte, groß und schlank, mit hilflos hängenden Armen, an ihm vorbei durch das Fenster in die Dunkelheit.

An einer der nächsten Stationen stiegen sie aus. Ich ließ die Zeitschrift, in der ich vorgegeben hatte, intensiv zu lesen, sinken.

Ich habe die junge Frau nie wieder gesehen. Ich würde sie vermutlich nicht wiedererkennen. Und doch, ihren Gesichtsausdruck, die Facetten ihrer Qual in diesem einen, kurzen Augenblick, habe ich bis heute nicht vergessen können.

(c) by StarScratcher, November 2001

 

Die Abgründe des Menschen werden immer nur für Sekunden sichtbar und selten passiert es, das jemand die Traurigkeit hinter einem Lächeln sieht. Deine Geschichte kommt mitten aus dem Leben. Sehr ehrlich, sehr treffend, ein wenig traurig und einfach gut.

grüße, Luftgängerin

 

Jeder Mensch liebt Masken, hinter denen er sich verstecken kann um nicht wirklich erkannt zu werden.Vieles wird dadurch einfacher da das Leben leichter (v)erträglich erscheint.
Die Mimik war früher überlebenswichtig.Man las am Gesicht des Führers seine Stimmung ab und verhielt sich dementsprechend.
Heutzutage ist es genau gleich.Wir versuchen es allen recht zu machen,allen zu gefallen. Viele vergessen dabei aber, dass das eigene Lebensgefühl auch wichtig ist um andere glücklich zu machen.

Grosses Lob an dich sehr gutes Thema + Verarbeitung

 

Die Geschichte hat mir gut gefallen. Es sind die kurzen Momente, in denen die Fassade fällt, die Menschen noch interessanter machen, vielschichtiger.
ich beobachte gern Menschen, ganz besonders auch in Zügen. So eine Situation hast Du gut eingefangen und auf den Punkt gebracht.
nach Deiner Geschichte tue ich jetzt, was ich sonst in Zügen tue: denken: Warum?

 

... und noch eine nette Kritik hinterher. *g*

Das ist eine meiner liebsten Geschichten von Dir. Ich schließe mich ganz den Worten von Luftgängerin und arc en ciel an. Besser kann ich es auch nicht sagen.

Nur hier bin ich einmal kurz ins Stocken geraten:

ihr Mund war dünnlippig, aber nicht breit.
Hier gefällt mir das "aber" irgendwie nicht. Das klingt für mich so, als impliziere das Attribut "dünnlippig" automatisch eine breite Mundform und als fungiere das "aber" deshalb als Einschränkung. Ich sehe da allerdings keinen Zusammenhang und für mich liest es sich missverständlich.

Ansonsten eine sehr berührende Geschichte.

Ginny

 

Hallo!

Und noch ein Lob für dich!!!
Deine Geschichte ist wirklich sehr gut gelungen. War schön zu lesen..... Danke für den netten Beitrag!!!


:thumbsup:

rolligirl

 

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