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Epinette
Eine zarte Brise durchfuhr seine voluminöse braune Lockenpracht, als Jean Marie in sein Olivenbaguette biss. Genüsslich schmatzte er vor sich hin, als das gleißende Licht der Mittagssonne ihn zum Blinzeln brachte. Er roch an seinen unrasierten Achseln und richtete ein euphorisches Grinsen an seinen Gesprächspartner Gustave, der ungefähr zwei Köpfe größer als Jean Marie und mit einem großen, runden Bauch ausgestattet war.
„Ist das nicht herrlich?“
„Was meinst du? Etwa deinen Gestank?“, fragte Gustave, der etwas unbeholfen wirkte, mit einem kindlichen Lachen.
„Genau das! Ist das nicht wundervoll, Gustave?“
„Eigentlich nicht. Wieso?“
„Gustave, ich meine die Freiheit! Diesen einen winzigen Moment Freiheit, den wir seit Tagen erleben dürfen. Sowie diese Perfektion im Nichtperfekten“, sagte Jean Marie schmatzend als er beim Reden Teile seiner Nahrung unfreiwillig in das Gesicht Gustaves katapultierte.
„Ja. Ja schon… Irgendwie hast du recht.“
Danach trank Jean Marie einen Schluck.
„Hmm. Dieser Pinot Noir ist einfach exzellent. Und natürlich habe ich recht. Das hier ist unsere Heimat; unser Stück Bourgogne. Es sind diese Kindheits- und Jugendgefühle, die jede Schuppe meines Körpers durchfahren. Es ist genau dieser Moment, den ich komplett genieße. Es ist einen Augenblick so wie früher, wie damals in Frankreich.“
Jean Marie öffnete seine Brotdose und zeigte Gustave, der Jean Marie irritiert anschaute, deren Inhalt. Gustave verzog nur angeekelt sein Gesicht.
„Gustave, du Banause! Das sind Weinbergschnecken. Etwas so Köstliches habe ich schon lange nicht mehr gegessen! Du bist doch auch Franzose, so wie ich!“
„Jean Marie, du weißt doch gar nicht, was du sagst. Du siehst so glücklich aus. Lass mich diesen Augenblick festhalten!“
Als Gustave ein altes Smartphone aus seinem Jutebeutel zückte, sprang Jean Marie verängstigt auf und warf das Baguette nach ihm. Das Mobiltelefon fiel dabei auf den Boden der Waldlichtung.
„Du Idiot! Was soll das? Kein Wunder, dass dich die ganze Welt für einen naiven Trottel hält!“
Jean Marie rannte auf Gustave zu und sprang so oft mit voller Wucht auf das Mobiltelefon, bis es zerstört war.
„Ich wollte doch nur, dass dieser Moment unsterblich wird! Einen Moment, den wir nie vergessen“, jammerte Gustave.
„Und genau das…das will ich nicht. Ich will, dass dieser Moment in mir lebt und das bedeutet auch, dass ich ihn in vollen Zügen genieße, bis er wieder stirbt. Er soll nicht gefangen und künstlich am Leben gehalten werden! Er soll einzigartig sein. Du verschwendest qualitative Lebenszeit, indem du solch einen Moment durch ein Foto zerstörst. Der Moment soll auch nicht durch die Interpretationen anderer verfälscht werden. Es ist mein Moment! Ich will ihn nur mit dir teilen, weil ich ihn mit dir erlebe; nicht mit anderen. Du weißt doch genau, wozu dieser Bilderfluch in den letzten Monaten geführt hat!“, sagte Jean Marie erbost.
„Ja. Es tut mir leid. Zum Leben gehört immer der Tod. Alles andere ist unecht.“
Im Hintergrund ertönte das Geschrei eines Säuglings.
„Gustave, siehst du, was du angerichtet hast? Nun ist sie wach und durch dein Handy werden sie uns finden! Und dann werden sie ihr Leben zerstören! Wolltest du das, du Idiot?“
Beschämt schaute Gustave, dessen Gesicht, Hals und Nacken fast vollständig mit einem braunen bärtigen Flaum übersät waren, auf den Boden. Er trug zudem eine braune, mönchsähnliche Kutte.
„Natürlich nicht, Jean Marie. Ich bin auf deiner Seite. Du kennst doch meine Lebensgeschichte. In Frankreich hat alles angefangen und dann kannte mich bald die ganze Welt. Ich will nie wieder zurück, aber auch ich falle noch manchmal in alte Süchte und Muster zurück. Verzeih mir!“, traurig blickte Gustave auf den Boden, ehe er fortfuhr. „Außerdem ist das Handy aus. Dieses Teil hat seit Monaten keinen Akku mehr, aber irgendwie brauch ich es. Es fühlt sich gut an, wenn es in meiner Hand liegt. Ich lebe schon eine gefühlte Ewigkeit ohne jegliche Medien. Das weißt du doch. Aber dieses letzte Andenken hättest du mir ruhig gönnen können.“
Jean Marie rieb sich erschöpft die Augen seines zerkratzen Gesichts. Sein Körper war abgemagert. Er humpelte auf Gustave zu und umarmte ihn.
„Pardon. Ich wollte dich nicht anschreien und dich auch nicht beleidigen. Ich war nicht fair. Ich merke jetzt erst wieder, dass ich geträumt hatte. Es ist die Müdigkeit, die mich halluzinieren lässt. Wir sind gar nicht in der Bourgogne und wir essen auch keine Weinbergschnecken. Es sind nur Regenwürmer! Was mache ich Idiot hier eigentlich? Ich riskiere meine Mission!“
Jean Marie wirkte nachdenklich.
„Gustave, dies ist auch kein Pinot Noir. Es ist Trinkwasser, das sich mit meinem Blut vermischt hat. Wir sind komplett dehydriert. Es tut mir leid. Ich bin dir dankbar für all das, was du für mich tust. Das ist nicht selbstverständlich, obwohl wir beide zufälligerweise Franzosen sind. Ich kenne dich schließlich erst seit drei Tagen.“
Angewidert spuckte Jean Marie einen zerkauten Regenwurm aus und warf das trockene und längst verschimmelte Baguette auf den Boden. Misstrauisch ging er zu seinem großen, blauen Backpackerrucksack. Ein beißender Geruch entfleuchte, als er den Reißverschluss öffnete. Der Geruch zog Gustaves Aufmerksamkeit auf sich.
„Bah. Jean Marie. Sag doch endlich, was du da in deinem Rucksack hast. Es stinkt bestialisch. Es ist einfach nur widerlich!“
Jean Marie kramte eine weitere Trinkflasche hervor und zog den Reißverschluss des Rucksacks schnell zu.
„Das geht dich nichts an, mein Freund! Das ist meine Sache. Früher oder später wirst du es verstehen. Aber jetzt noch nicht.“
Jean Marie trank einen Schluck. Gustave wich Jean Maries leicht bedrohlich wirkendem Blick aus und senkte seinen Kopf. Danach nickte er resignierend. Jean Marie begab sich indes zu einem massiven Baum mit einer großen Einkerbung. Der Baum befand sich inmitten der Lichtung. Er griff dort hinein und zog einen kleinen selbstgeflochtenen Weidenkorb hervor. In dem Korb befand sich ein Säugling. Er war nackt; lediglich in ein weißes Leinentuch gewickelt. Es handelte sich um ein Mädchen, das nicht älter als ein paar Wochen war. Sie weinte ununterbrochen.
„Tsch. Tsch. Alles wird gut. Alles wird gut. Tsch. Tsch. Ich werde dafür sorgen, dass sie dich nicht finden. Ich weiß, du hast Angst, aber das brauchst du nicht. Papa ist da“, flüsterte Jean Marie in ihr Ohr.
Er versuchte sie zu beruhigen, indem er sie hin und her wiegte. Gerade als das Baby nach mehreren schaukelartigen Bewegungen entspannt seine Augen schloss, wurde Jean Marie nervös. Er schaute sich hektisch um, nachdem er ein wildes Rascheln vernommen hatte. Schnell legte er den Säugling zurück in den Korb und verdeckte sein ganzes Gesicht mit dem weißen Leinentuch, sodass das Baby gerade noch Luft bekam.
„Keine Sorge, Jean Marie! Das war nur der einsetzende Passat. Ich glaube nicht, dass dieser Scott uns gefolgt ist. Hier verirrt sich kaum einer hin.“
„Du weißt wie wertvoll sie ist. Ich denke nicht, dass Scott allein ist. Es geht um sehr viel Geld. Das weißt du. Er hat bestimmt Hilfe. Er wird niemals locker lassen.“
„Ich weiß. Ich war selber mal reich. Ich weiß, wozu diese Menschen im Stande sind. Ich war auch nicht besser, aber dieses Leben hat mich nicht erfüllt. Es ging nur um Geld und Ruhm. Weißt du, Jean Marie, ich weiß selber, dass ich nie die hellste Kerze auf der Torte war, aber ich hätte nie gedacht, dass ich aufgrund meines Aussehens und meiner anderen Art für alle nur eine Witzfigur mit vielen Klicks und Likes war, trotz des Geldes. Und jetzt wurde ich durch andere Freaks ersetzt. Das kannst du mir endlich mal glauben! Nun bin ich nichts mehr wert, aber ich war schon lange nicht mehr so glücklich wie mit dir und Epinette, auch wenn unsere Mission gerade anstrengend ist. Dank euch bin ich immerhin ein wertloser Glückspilz.“
Jean Marie hob noch einmal kurz das Leinentuch hoch und blickte in die kugelrunden und rehbraunen Augen des Säuglings. Das Baby war dunkelhäutig und hatte im Gegensatz zu Jean Marie einen exotischen Teint.
„Sie sieht aus wie Zarah!“, sagte Jean Marie und lächelte Gustave dabei an.
„Ich kannte sie nicht, aber nach all dem, was du mir erzählt hast, muss Zarah eine beeindruckende Frau gewesen sein.“
„Natürlich war sie das. Sie war feurig und stark, aber in intimen Momenten war sie auch liebevoll und total verkuschelt.“ Jean Marie wirkte einen Moment gedankenverloren ehe er fortfuhr. „Wir beide haben für eine bessere Welt gekämpft. Sie hat sich für unsere Epinette geopfert. Aber ich muss zugeben, dass die Geburt im Wald eine dumme Idee war! Ich habe dabei Epinette gewonnen, aber so vieles…,so so vieles verloren. Ich hab mir das alles irgendwie anders vorgestellt“, sagte Jean Marie seufzend. „Aber nur so konnten wir garantieren, dass sie nicht registriert wird und sie so vor der möglichen Versklavung ihrer Seele retten. Als ich jung war, da haben Krankenhäuser noch keine Fotos von Neugeborenen gemacht und diese mit den zugehörigen Blut- und Speichelproben an Konzerne verschickt. Aber seit der Fusion der großen Internetmächte ist alles anders.“
Jean Marie wiegte das Baby gleichmäßig in seinen Armen und simulierte mit seiner schnalzenden Zunge den Takt eines Metronoms. Epinette schien sich zu beruhigen. Nachdem sie wieder eingeschlafen war, flüsterte er leise in ihr Ohr.
„Du bist meine Königin. Du bist etwas Besonderes, wie deine Mama. Epinette, du wirst selbstbestimmt aufwachsen, rein und ohne, dass du eine Ware bist. Keine Fotos wird es von dir geben!“ Jean Marie hielt einen kurzen Moment inne. „Es ist nun einmal so, dass schöne Blumen verwelken. Das ist der Lauf der Dinge. Und du gehörst wie Mama zu den schönsten Dingen, die die Natur hervorgebracht hat. Du bist besonders und nicht wie alle anderen.“
Gustave schaute Jean Marie mit großer Skepsis an.
„Jean Marie, du redest wie der Verrückte aus Shining! Übertreibst du nicht ein bisschen? Hier, trink einen Schluck unserer letzten Wasserreserven!“
„Gustave, mein werter Freund. Glaube mir, es dauert nur noch wenige Jahre, vielleicht sogar nur ein paar Monate, bis die ersten Menschen dupliziert und programmiert werden. Unsere genetischen Daten sind überall auffindbar. Seitdem die Krankenhäuser vor fünf Jahren angefangen haben mit denen zu kooperieren, haben wir doch keine Chance mehr. Man muss unsere Daten nur noch kombinieren. Und dann wären wir nichts Besonderes mehr. Unsere Reste würden auf ewig leben. Kinder wie Epinette würden aufgrund des medizinischen Fortschrittes nie sterben und wenn doch, dann kann man sie problemlos klonen….Aber das ist doch kein Leben! Wie viel davon wäre noch die wahre Epinette? Nur der Tod macht das Leben, nach einer hoffentlich langen und erfüllten Zeit, zu etwas Speziellem. Das darf nicht verloren gehen!“
„Wir reden doch erst mal nur über Fotos und Datenspeicherung. Du weißt doch gar nicht, ob dein Freund, der im Ministerium arbeitet, recht hatte und seine Informationen und Gerüchte stimmen.“
„Ich werde es nicht drauf ankommen lassen und wertvolle Zeit durch monatelange Nachforschung vergeuden!“
Jean Marie schaute sich skeptisch um.
„Ich glaube, dass wir hier nicht mehr sicher sind. Wir müssen weiter, Gustave. Komm bitte her und umarme mich, mein Freund.“.
Als Gustave näher an ihn herantrat, flüsterte Jean Marie leise etwas in sein Ohr.
„Stimmt es wirklich, dass der Eingeborenenstamm, zu dem wir aufbrechen fernab jeder Zivilisation liegt? Ich glaub wir werden bereits beobachtet! Ihre Radare und Mikrofone sind sehr präzise“.
„Der Plan ist sicher. Dieser Stamm wurde bis jetzt kaum entdeckt. Es handelt sich um eine radikale Absplitterung der berühmten Korowai, die seit 2020 bereits vermehrt moderne Medien benutzen und von den Gola Galua als verführt und verdorben angesehen werden. Sie grenzen sich bewusst von den Korowai ab. Das Gebiet der Gola Galua befindet sich hundert Kilometer abseits des Gebietes der Korowai. Hier wird uns niemand finden. Sie wohnen bewusst nur im dichten Wald. Sie leben in Baumhäusern, die sich aber nicht auf freien Feldern befinden. Von Helikoptern aus sieht man nichts. Auch Drohnen kommen dort so gut wie nicht hin. Diese Leute leben komplett abgeschieden von der westlichen Kultur. Handys und alle modernen Medien werden als Zeichen böser Geister gesehen. Das gleiche gilt für Menschen mit westlicher Kleidung. Auch dir wird vielleicht der Zutritt verweigert. Durch meine Genmutation stelle ich eine Ausnahme dar. Sie denken, ich sei eine Art Naturgeist oder so. Es klingt total dämlich, aber es klappt. Ich war schon öfters dort. Ich werde behaupten, dass Epinette meine Tochter ist und ich glaube, dass wir beide gute Chancen haben, auf Dauer in den Stamm aufgenommen zu werden. Auch ich will nicht mehr in die alte Welt zurück und werde, solange ich kann, bei Epinette bleiben.“
Jean Marie drehte sich noch einmal beängstigt um, ehe er flüsternd antwortete.
„Ich will nur so weit wie möglich mit euch zu ihrem Gebiet vorstoßen, um meiner Tochter ein normales Leben und irgendwann einen ehrenhaften Tod zu ermöglichen.“
Danach zog Jean Marie seinen Rucksack über die Schulter und hob Epinettes Korb hoch. Die drei machten sich auf den Weg.
Nach einem Marsch durch den dichten Dschungel, der mehrere Stunden andauerte, verließen Jean Marie langsam die Kräfte. Erschöpft übergab er den Korb, indem sich Epinette befand, an Gustave. Jean Marie schnitt mit einem Klappmesser sein Hosenbein auf. Besorgt blickte er an sich herunter. Eine Wunde in seiner Wade hatte sich entzündet. Überrascht schaute Gustave auf die großflächig, entzündete Wunde.
„Warum hast du mir nichts gesagt? Wann ist das passiert?“
„Ich wollte dich nicht beunruhigen. Es war kurz bevor ich dich traf. Ich bin nachts übermüdet in Jakarta vom Roller gekippt, als ich vor Scott und seinem Team geflohen bin. Es war kurz nachdem Zarah…“ Jean Marie hielt kurz inne. „Du weißt schon.“
Leicht verzweifelt und mit schmerzverzerrter Miene schaute er auf Gustave, der zu ihm sprach.
„Das sieht übel aus. Warum hast du es nicht mit einer Salbe behandelt? Dann hätte es sich nicht so entzündet!“
„Dumme Frage! Alle Medikamente und Salben enthalten seit diesem Jahr mikroorganische Peilsender. Ich weiß nicht, ob sie hier in Indonesien auch schon so weit sind. Damit würde man mich vielleicht finden. Angeblich wurde das alles nur gemacht, um uns zu schützen, aber daran glaube ich nicht.“
Gustave wirkte geschockt. Jean Marie rückte erneut an ihn heran und flüsterte in sein Ohr.
„Guck doch nicht so. Ich habe dich verarscht!“ Jean Marie lachte laut. „Es kann gut sein, dass es so was in ein paar Jahren gibt! Aber die Wahrheit ist, dass ich seit meiner Kindheit einfach nur eine höllische Angst vor Ärzten und Medikamenten hab! Ich hasse sie!“
Gustave platzte vor Lachen.
„Du Schwein! Du, du… du hast mich voll verarscht!“
Jean Marie und Gustave lachten beide hysterisch. Es dauerte lange bis sie sich von ihrem Wahn beruhigten. Danach flüsterte Jean Marie wieder etwas in Gustaves Ohr. Er wirkte nun sehr ernst.
„Als ich hörte, dass es einen Mann gibt, der in das medial noch völlig unerschlossene Gebiet der Gola Galua vorstoßen kann, musste ich dich treffen.“ Jean Marie atmete schwer. „Du musst nun ohne mich weiter. Ich will dich nicht beunruhigen, Gustave, aber ich spüre, dass Scott direkt hinter uns ist. Ich halte nicht mehr lange durch. Du musst mit Epinette weiter. Hilfst du mir, mein wertvoller neuer Freund?“
Gustave nickte. Danach schauten sich beide um. Vorsichtig hob Jean Marie seine Tochter aus dem Korb. Dabei wurde ihr Gesicht die ganze Zeit durch das Leinentuch verhüllt, das Jean Marie bewusst so platzierte.
***
Ein Mann mit einer weißen Uniform und weißem Helm zielte direkt auf Gustave und Jean Marie. Auf seinem Helm war ein blaues „G“ abgebildet.
„General Scott, habe die Objekte eins und zwei im Visier. 50 Meter gerade aus vor uns. Objekt drei ist verdeckt. Erbitte Freigabe für Objekt 2 und 3.“
Ein älterer, glatzköpfiger Mann, der eine kreisrunde, feuerrote Narbe unterhalb seines rechten Auges hatte, stellte die Empfangssequenz seines Headsets ein.
„So, so. Epinette heißt sie also. Ladet diese Information sofort hoch. Danach zielt ihr auf den irren Vater und das Baby. Das bringt uns Milliarden ein. Wir sind bald alle stinkreich. Wenn wir von beiden Fotos haben, ist die Mission beendet. Der Vater und das Kind sind die letzten Menschen der westlichen Welt, die uns noch fehlen. Der alte Bär ist wertlos! Das ganze Internet kennt seine Geschichten und seine Daten haben wir schon längst. Verstanden?“
Zwei weitere Assistenten, die ebenfalls eine weiße Uniform und einen weißen Helm mit einem blauen G trugen, tippten die Information mit der Hilfe von zwei Laptops ein. Sofort erschien der Schriftzug „Epinette“ in Brusthöhe auf ihrer Uniform. Dieser blinkte, wie das Licht einer Werbetafel, mehrmals hintereinander auf. Auf dem Bildschirm war ein leeres Profilfoto in einem neuen Account zu erkennen, dessen Name „Epinette“ lautete.
Eine junge Frau auf deren kurzärmeligen Shirt der Ausdruck „Google Life“ geschrieben stand, näherte sich dem General von der Seite.
„Mr. Scott, hieß es nicht ursprünglich, dass wir das Kind vor seinem geisteskranken Vater beschützen sollen, der seine Frau umgebracht und sein Kind entführt hat? Ein anarchischer Rebell und brutaler Verschwörungstheoretiker, der eine Bedrohung darstellt, weil er als Kind jahrelang in einer Nervenheilanstalt gesessen hat… und dazu haben wir jetzt noch einen depressiven ehemaligen Internetstar, der nicht verkraftet hat, dass die Menschen sich nur über sein Äußeres lustig gemacht haben. Sollten wir das arme Kind nicht sofort aus deren Fängen befreien? Worum geht es hier noch, Mr. Scott?“
„Miss Thatching, wurden Sie fürs Fragenstellen engagiert? Zuerst brauchen wir die Daten. Danach alarmieren wir die Polizei. Die werden sich darum kümmern. Ich habe mich doch nicht den ganzen Weg bis hierhin in den indonesischen Urwald begeben, um ein bedeutungsloses Menschenleben zu retten. Hier steht viel mehr auf dem Spiel!“
„Achso. Also ist der Vater doch nicht so geisteskrank! Und den Followern im Netz verkaufen sie geschickt eine andere Story?“, stammelte die Frau vor sich her.
Sie starrte enttäuscht auf den Boden, während Scott sich an seine gesichtslosen Assistenten wandte.
„Feuer!“
***
Jean Marie erblickte ein Objektiv, das durch das Sonnenlicht aufblitzte.
„Gustave! Schnell! Lauf! Bring sie in Sicherheit!“
Mit letzter Kraft warf sich Jean Marie schützend vor Gustave und Epinette. Zwei laute Schüsse ertönten und sorgten dafür, dass sämtliche Vögel des Waldes aufgeschreckt in den Himmel schossen.
„Nein!“, schrie Gustave.
Panisch nahm er das Baby und stülpte es unter seine Kutte. Er hielt es schützend vor seine behaarte Brust. Danach drehte er sich zu Jean Marie, der auf dem Rücken am Boden lag und nervös zuckte. Sein Körper leuchtete rötlich. Tränen schossen aus Gustaves Gesicht und verfingen sich sofort in seinem Bart.
„Jean Marie? Was ist mit dir?“
Langsam drehte Jean Marie sich um.
„Du lebst?“, fragte Gustave und bückte sich zu Jean Marie herunter. Mit letzter Kraft flüsterte dieser etwas in sein Ohr.
„Das waren noch keine echten Schüsse. Das sind Scannshots, die sie aus ihren Smartphones abgefeuert haben; ihre neuste Erfindung! Sie haben mich damit geröntgt. Jetzt haben sie eine Grundstruktur meines Körpers. Blut und Speichel habe ich auf der Flucht verloren. Das haben sie bestimmt bereits von mir. Nun können sie mich eines Tages duplizieren.“
Jean Marie zitterte immer noch stark. Er flüsterte wieder in das Ohr von Gustave.
„Ich bin ab sofort nur noch eine Ware, nichts Besonderes mehr. Meine Daten und Bilder werden nun ins Internet hochgeladen. Für viele Bieter sind Epinette und ich die letzten westlichen Sammelbilder, die ihnen noch fehlen. Aber einen Trumpf haben wir noch! Ich habe mit so was gerechnet und hoffe, dass mein Plan funktioniert. Gustave, bring sie endlich in Sicherheit. Ich werde dafür sorgen, dass sie euch nicht finden. Für meinen Plan muss ich an ihre Laptops gelangen, bevor es zu spät ist. Reiche mir bitte meinen Rucksack. Den brauche ich unbedingt! Und denk daran, solltest du mich eines Tages eventuell wieder sehen, dann werde das nicht ich sein, sondern nur ein Duplikat. Wir beide sagen nämlich jetzt für immer Lebewohl. Verstehst du das, mein treuer Freund?“
Gustave gab Jean Marie seinen Rucksack, der nicht weit von ihm auf dem Boden lag, nickte ein letztes Mal und rannte los, während Epinette anfing, unter seiner Kutte zu schreien.
Jean Marie kramte nervös in seinem Rucksack. Er zückte einen silbernen Colt und versteckte diesen unter seinem Hemd. Danach zog er wieder den Rucksack über seine Schulter und schaute in den Himmel, der durch die Dichte der Bäume kaum zu erkennen war. Ein paar Sonnenstrahlen brachten ihn zum Blinzeln. Er atmete tief ein und schloss genüsslich die Augen, als er das Zwitschern ein paar exotischer Vogelarten vernahm. Er spürte den befreienden Wind in seinen Haaren. Mit letzter Kraft humpelte er auf die uniformierten Gestalten zu.
„Lasst uns verhandeln. Wir geben auf. Habt ihr gehört? Ihr habt gewonnen! Ich will aber auch etwas abhaben! Versteht ihr? Das ist doch nur fair, oder? Lasst uns einen Deal machen!“
Ein letztes Mal drehte er sich kurz nach Gustave und Epinette um.
Gustave rannte weiter und weiter, ohne zurückzublicken. Er kämpfte sich durch den Dschungel, dessen Bäume und Sträucher immer dichter wurden. Epinette strampelte stark unter seiner Kutte.
Nach weiteren Kilometern fiel er erschöpft zu Boden. Er stöhnte kurz vor Schmerz und Angst. Seine Kutte war völlig zerrissen. Gustave inspizierte seinen Körper. Seine Bein- und Armhaare waren mit Blut verklebt. In diesem Moment ertönten genau sechs Schüsse. Gustave schreckte kurz auf. Dann blickte er auf Epinette, welche wie durch ein Wunder, bis auf wenige Kratzer unversehrt war. Sie schlief ruhig. Gustave entledigte sich seiner Kutte. Durch seinen völlig beharrten Körper ähnelte er einem wilden Bären. Schützend hielt er Epinette vor seine behaarte Brust. Nachdem er kurz durchgeatmet hatte, rannte er, leicht unbeholfen und tapsig, weiter. Epinette und er verschwanden im Dschungel, über den langsam die Nacht hinein brach.
Epilog
Jean Marie lag regungslos auf dem Boden. Sein Shirt war in Bauchhöhe mit Blut durchtränkt. Neben ihm lagen die Leichen, der vier Männer und der Frau, die ihn verfolgt hatten. Ihre Ausrüstungen; alle Smartphones, Kameras, Laptops, Headsets und jegliche Sender waren komplett demoliert.
Wie hypnotisiert starrte Jean Marie auf eine kleine Schäfchenwolke am Himmel. Die Sonne war fast verschwunden und schien nur noch auf einen kleinen Baumstumpf, unweit von ihm. Er dachte an seine Zeit mit Zarah, an Epinette und den kurzen Moment mit Zoé.
Ebenso dachte er an eine Märchengeschichte seines Vaters. Er wusste nicht mehr genau wovon sie handelte, aber es ging grob um einen magischen Ort in einem fremden Land, in dem es eine Stelle im Wald gab, an der noch nie ein Lebewesen; kein Mensch, kein Tier und keine Pflanze gestorben war. Es war ein sogenannter reiner und vollkommener Ort. Diese drei Quadratmeter große Stelle, die nur aus einem Baum und zwei Rosenbüschen bestand, brachte kein Leben hervor, aber zerstörte auch nie welches. Diese Stelle hatte in ihrer Umgebung für viele Kriege und mehrere Tote gesorgt, weil sie besonders war und jeder sie besitzen wollte.
„Eine ganz schlimme Geschichte. Ich fand sie immer fürchterlich! Wo ist der Tod, der diese Stelle und somit das Leben so einzigartig macht? Stattdessen sorgt die Perfektion um diese eine Stelle herum für Tod und zudem für Zerstörung. Sie löscht ihre Umgebung aus. Alles stirbt viel zu früh, weil es den Menschen nur noch um Profit geht. Das muss aufhören!“, dachte sich Jean Marie.
Mit letzter Kraft robbte er mit seinem Rucksack, der neben ihm lag, zu der mit Sonnenlicht durchfluteten Stelle. Er öffnete ihn und griff tief mit beiden Händen hinein. Behutsam zog er den leblosen Körper eines kleinen weiblichen Säuglings aus dem Rucksack. Er wickelte ihn in Epinettes Leinentuch, das Gustave zurückgelassen hatte. Danach legte er das Mädchen behutsam auf den einzigen Baumstumpf, der sonnendurchtränkten Stelle. Jean Marie schaute sich wieder misstrauisch um und fixierte mit seinem Blick die zerstörten Kameras. Vorsichtig flüsterte er in das Ohr des Säuglings.
„Ich hätte gerne mehr für dich getan. Dein Leben war kurz, aber perfekt und nun helfen wir deiner Zwillingsschwester dabei, ihr Recht auf das Leben auszuüben.“
Jean Marie vergoss Tränen. Er gab dem Säugling einen Kuss auf die Stirn und legte sich neben den Baumstumpf. Mit seinem kleinen Finger umschloss er die zierliche Hand des Säuglings. Während die Sonne immer weiter sank, dachte er an Zarah und seine Kindheitstage in der Bourgogne. Anschließend schloss er mit einem zufriedenen Lächeln in seinem Gesicht die Augen und schlief ein.