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Epiloge

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01.03.2017
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Epiloge

Irgendwann wirst du sterben. Das ist das Einzige, was ich über dich weiß. Das ist auch gut so. Ich weiß nicht mehr über dich. Ich kenne nicht deinen Namen, nicht deine Haare, nicht deine Haut. Vor allem nicht deine Haut.
Ich habe deine Email-Adresse auf dem Boden liegen sehen, auf einen kleinen Zettel eng gekritzelt. Die Schrift war sehr schön. Ich weiß nicht, ob es deine war. Ich hoffe es.
Warum ich dir schreibe? Du kennst mich nicht, das ist wichtig. Und ich kenne dich nicht, das ist noch viel wichtiger. Ich brauche jemanden zum Reden. Das habe ich lange nicht mehr richtig.
Aber vorher muss ich etwas erklären…
Denn ich kann… Dinge. Wenn ich dich berühren würde, wenn meine Hautzellen deine auch nur kurz befühlen, dann sehe ich dich. Ich sehe, wer du bist und wer du warst und wer du sein wirst. Ich sehe, wann du deine ersten Schritte gemacht hast und wann du deine letzten machen wirst. Ich sehe, wann du etwas bereut hast oder später mit Reue zurückschauen wirst und ich sehe, ich sehe jedes einzelne Detail deines Lebens, jede Sekunde, jede Minute, Stunde und für mich ist es als würde ich es selbst leben. Als wäre ich du; ich lebe dein Leben und dann wache ich auf und ich bin wieder ich und es ist keine Sekunde verstrichen, obwohl dort doch ein Leben war.
Ich weiß, es klingt viel zu anormal, nicht real. Du musst mir auch nicht glauben. Aber ich brauche jemanden, der mir zuhört. Jemanden, dessen Leben ich noch nicht gesehen und dessen Gedanken ich noch nicht gespürt habe.
Ich hoffe du antwortest. Bitte schau nicht, wem die Adresse gehört. Dies alles ist ein Geheimnis zwischen zwei Fremden. Bitte.

Du antwortest nicht. Das ist okay. Das habe ich erwartet. Wahrscheinlich hältst du mich für eine Verrückte, Geisteskranke, die dir jetzt solche bescheuerten Spam-Mails schreibt. So ist es nicht. Vertrau mir. So ist es nicht. Bitte. Bitte, antworte. Es steht was Schreckliches bevor und ich möchte nicht allein sein.

Ein letztes Mal: Bitte.

Was wird Schreckliches geschehen?

Meine Mutter… Sie wird…
Sie wird in zwei Wochen sterben.
Sie weiß es noch nicht. Sie übergibt sich die letzten Wochen sehr häufig, hat Kopfschmerzen und sie kann nicht mehr richtig stehen. Ich sage ihr, sie solle zum Arzt gehen. Ich sage ihr, dass es was Ernsthaftes sein könnte. Aber sie arbeitet einfach weiter. In zwei Wochen wird sie hinfallen, erschöpft zu Boden gehen. Eine Notoperation wird durchgeführt. Und sie wird sterben.
Sie weiß nichts von… dem. Ich versuche es schon mein ganzes Leben geheim zu halten. Aber… aber jetzt... Sie ist die einzige Person, die ich noch habe. Mein Vater starb kurz vor meiner Geburt.

Vielleicht liegst du falsch.

Oh. Oh, wie sehr ich mir das wünsche. Aber ich liege nicht falsch, ich lag nie falsch. Meine Deutschlehrerin hatte mich mal berührt. Und auch bei ihr sah ich alles. Aber vor allen Dingen sah ich, wie an dem Tag ihr Auto nicht ansprang, sie den Bus nehmen musste und auch noch diesen verpasste. Dann gewitterte es. Sie lief über die Straße, ein Auto sah sie nicht und…
Ich habe schon viele Leben gelebt. Ich bin schon oft gestorben. Aber jeder neue Tod fühlt sich falsch an. Jeder neue Tod beendet eine Geschichte, die nicht ihren Epilog erreicht hat.
Ich habe versucht, ihr den Epilog zu schenken. Auch wenn ich wusste, dass meine Mühen vergebens sein werden, denn ich hatte mich ja schon selbst gesehen, in ihrem Leben. Wie ich versuche ihr einzureden, ein Taxi zu nehmen. Wie ich ihr sage, dass vielleicht jemand von ihren Kollegen sie mitnehmen kann. Aber es führte zu nichts. Sie ist tot.
Ich hatte das Leben meiner Mutter schon in meiner Kindheit gelebt und ich hatte so sehr gehofft, so sehr gewünscht, dass die Krankheit vielleicht doch nicht einsetzt. Und jetzt höre ich, wie sie sich im Badezimmer übergibt.
Und heute sah ich einen Jungen in der Schule. Er streifte nur kurz meinen Arm, er stolperte und ließ seine Sachen fallen. Ich half ihm und berührte ihn nur noch mehr. Daraufhin lebte ich auch seine Geschichte.
Er hat Depressionen. Jeder Tag ist für ihn eine Qual, jede Stunde fragt er sich, warum er noch durch die Hallen der Schule wandert und jede Minute wundert er sich, warum er nicht einfach verschwindet und geht. Ich fühlte jede einzelne Sekunde und sie schmerzten alle.
In einer Woche wird er es tun. Am 17. Dann wird er gehen.
Und als ich da so kniete und ihm half, da wollte ich so viele Dinge sagen. Ihm sagen, dass er falsch liegt, dass sich das Leben lohnt und er nur weiter stark bleiben muss, aber… ich konnte es nicht. Ich hatte nur den Tod meiner Mutter vor Augen, diesen nichtsnutzigen Tod und für einen kurzen Augenblick verstand ich ihn.
Das Leben ist wertlos. Denn was ist eine Geschichte ohne ein gutes Ende?

Du solltest mit ihm sprechen.

Du verstehst es nicht. Ich kann es nicht ändern. Die Zukunft ist fest. Ich kann sie sehen, aber nicht beeinflussen. Ich sah mich nicht in seinem Leben; ich sah nicht, wie ich mit ihm in Kontakt trete. Ich werde es nicht tun.

Du solltest es versuchen. Wenn du mit ihm sprichst, veränderst du schon die Zukunft. Manchmal sind es die Augenblicke in einem Leben, die alles verändern, nicht die großen Taten.

Es wird vergebens sein.

Vielleicht nicht. Du hast eine Gabe. Eine besondere Eigenschaft. Irgendeinen Nutzen wird sie haben.
Manche können gut schreinern und machen perfekte Stühle, manche schauspielern und hauchen ergreifenden Geschichten Leben ein. Manche malen und bewegen die Menschheit mit Emotionen.
Du siehst die Zukunft, verdammt. Die Zukunft von so vielen Menschen. Aber vielleicht ist es nicht die eine Zukunft, sondern eine mögliche und sehr wahrscheinliche.
Du musst die Wahrscheinlichkeit ändern. Es wird schwierig sein. Aber du musst es versuchen.

Ich kann ihm aber im Moment nicht helfen. Und es ist keine Gabe. Eine Gabe wäre ein Geschenk. Aber hiermit verzweifle ich nur.
Weißt du… weißt du, wie schwierig Sex ist? Die ständige Berührung des anderen, die ständige Konfrontation mit seinem Leben. Dies ist kein Geschenk.

Du antwortest nicht mehr. Das verstehe ich. Wahrscheinlich hast du deine eigenen Probleme und kannst dich nicht nur um mich kümmern. Morgen ist die erste Woche rum. Ich bin gestern mit meiner Mutter ins Kino gegangen und ich habe sie den Film aussuchen lassen. Der Abend war schön. Aber er hatte ein Ende.

Dann hat das Leben doch gute Enden. In den kleinen Momenten.

Es wertet nicht ein ganzes Leben auf.

Doch. Manchmal … manchmal schon. Du hast noch eine Woche. Eine Woche, um die Zukunft zu ändern. Nutze diese Zeit. Es ist möglich.

Was macht dich da so sicher?

Gestern war der 17. Du lagst falsch. Ich bin noch hier. Ich lebe noch.

Du…Du warst der Junge.

Ja, ich war es. Und du hast mein ganzes Leben gesehen und dennoch wusstest du nichts von diesen Nachrichten. Du hast nicht die Zukunft gesehen, die durch einen Augenblick verändert wurde, durch dich, weil du mir eine E-Mail geschrieben hast.
Ich habe mir festgesetzt, dass ich überlebe. Dass der 17. nur ein weiterer Tag bleibt. Und hier bin ich.

Aber du bist nicht geheilt.

Nein. Das bin ich nicht. Aber du hast mir einen weiteren Tag geschenkt. Vielleicht
kannst du deiner Mutter noch einen Epilog schenken.
Versuche es.


Hallo?

Antworte doch.

Sie lebt.

 

Hej Sim123,

deine zarte und traurig intonierte Geschichte über eine Protagonistin mit einer seltsamen Gabe las sich wirklich schön.

Ich weiß nicht mehr über dich, nicht deinen Namen, nicht deine Haare, nicht deine Haut. Vor allem nicht deine Haut.

Dieser Anfang hat mich aber beinahe verschreckt. Es klingt ziemlich befremdlich ich weiß nicht deine Haare :hmm:

Zum Glück hab ich weiter gelesen, denn der Email- Dialog ist spannend und überraschend, mitfühlbar und interessant, kurzweilig und dennoch nicht überladen oder rührselig.

Zwei scheinbar verlorene Seelen, die sich stützen und Mutmachen. Zugegeben ein spezielles Lieblingsthema von mir und ich bin eben sehr empfänglich dafür, aber sicher bin ich nicht allein damit.

Die Idee, diese Handlung in einen anonymen Email-Austausch zu betten, benötigt für meinen Geschmack keine äußeren Merkmale. Ich habe nicht das Bedürfnis, mehr über sie zu wissen, als du preisgibst.

Das Ende kommt natürlich unerwartet und wird nicht eingeleitet. Das ist schon leicht unbefriedigend, denn der letzte Stand war ja, die Mutter wollte nicht zum Arzt gehen. Aber gut, dein Entschluss.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hey Kanji,
freut mich, dass dir die Geschichte generell gefallen hat!

Ja, der Satz sieht so betrachtet wirklich eigenartig aus. Ich überlege ihn zu ändern.
Vielleicht:
Ich weiß nicht mehr über dich. Ich kenne nicht deinen Namen, nicht deine Haare, nicht deine Haut.

Ich glaube "Kennen" ist möglicherweise eine bessere Formulierung, oder? Ich ändere ihn jetzt erstmal so, bevor er tatsächlich noch Leser abschreckt.

Zum Ende:
Ja, ich wollte gerne dem Leser ein wenig überlassen, sich zu überlegen, wie sie das schließlich tatsächlich geschafft hat. Es existiert auch eine Version, in der sie das erklärt, aber so finde ich es ein wenig schöner und überraschender.
Die Tatsache, dass sie anscheinend ein paar Tage nicht antwortet, war hier die Einleitung für das Ende. Sie schien zu beschäftigt zu sein. Anscheinend ist mir das aber dann nicht so gut gelungen.

Danke nochmal für deine Rückmeldung,
Sim123

 

Hallo Sim123,
verwirrend liest sich Dein Text zunächst, klärt sich dann auf und macht am Schluss einen überraschenden Bogen, der eine wirklich gute Pointe ist. In der Sprache durchwegs stimmig empfinde ich Deinen Text. Und das ist dann auch die Sache, die mich letztlich den Text gut finden lässt, wo ich zwischendrin ein wenig hin- und hergerissen bin, ob mir die Philosophie über die letzten Dinge, über Sinn und Unsinn des Seins, über vorherbestimmtes Schicksal und Möglichkeiten des Einflusses darauf nicht zu rührselig erscheint. Das, finde ich, ist ein sehr schmaler Grat, der auch schnell ins abgeschmackt Frühstücksphilosophische abgleiten kann, ins Spruchkartenklugschwätzerische. Aber nein, das ist es bei Dir für mich nicht. Dazu ist der Text schön unaufdringlich in der Formulierung, eben nicht aufgebauscht theatralisch, sondern bei sich und gefasst. Und dann berühren auch die Personen im Zusammenhang mit der Theorie, ob man jetzt was verändern kann oder nicht und so weiter. Passend ausgearbeitet finde ich auch die magische Fähigkeit der Briefschreiberin, die in der Form, soweit ich mich erinnern kann, öfter durch Erzählungen geistert, in Stephen Kings Dead Zone zum Beispiel. Aber egal, das Thema wirkt bei Dir im Briefwechsel schlüssig. Dass der Briefkontakt auch sehr unwahrscheinlich ist, stört dabei nicht. Ihre Fähigkeiten sinds ja auch nicht. Aber es geht ja, wie gesagt, vor allem um die Metaebene und die spürt man deutlich aus dem Verlauf.
Herzliche Grüße
rieger

 

Hey rieger,
Danke auch dir für die Rückmeldung!

Schön zu lesen, dass der Text so geklappt hat, wie er funktionieren sollte. Philosophische Themen sind - wie du richtig sagst - ein schwieriges Feld, dass sehr leicht in Melodramatik und Facebook-schöne-Bilder-Zitate abgleiten kann. Da es mir schwerfällt, objektiv über diesen Text zu schauen, ist es sehr beruhigend, wenn das Ziel auch bei anderen erreicht wurde.

Ich fühle mich bei den Kräften ein wenig an die Figuren aus NUMBERS erinnert. Die konnten sehen, an welchem Tag jemand stirbt. Wirklich originell sind die Kräfte der Erzählerin wirklich nicht.

Freut mich, dass dir der Text gefallen hat und danke nochmal für die Rückmeldung,
Sim123

 

Hej Sim123,

Kennen ist durchaus passender. Nicht verwirrend während der Auflistung.

Du hast recht, es ist völlig irrelevant, wie es dazu kam, das die Mutter noch lebt.

Mit der vergangenen Zeit während des Dialogs ist es wirklich kompliziert. Mehr Leerzeilen? :hmm:

Da bin ich überfragt.

Aber beim zweiten Mal lesen, gefiel sie mir noch besser und ich wurde interessierter, wem sie noch so begegnen wird und ob die Gabe temporär ist, oder sie besser damit zu leben lernt ... :D

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hey Kanji,

Hm. Ja, ich hatte mal überlegt, Uhrzeiten neben den Nachrichten zu schreiben, aber ich finde sowas stört den Lesefluss. Ich probiere mal ein wenig rum...

Weiterhin schön, dass du Gefallen dran findest, aber ich bezweifle ein wenig, dass das eine Serie wird. Dafür ist mir die Gabe dann schlicht nicht originell und "einzigartig" genug und ich glaube, das Ganze funktioniert als kurze, kleine abgeschlossene Geschichte besser. Aber ich sage bei sowas niemals nie.

LG Sim123

 

Ich möchte mich rieger anschliessen, in ihrer Schlichtheit und der sanften Pointe liegt die Stärke des Textes. Die Pseudoweisheiten sind zweitrangig, denn es reicht zu wissen, dass sie die Gabe hat. Wer anfängt zu hinterfragen, hat bereits verloren. So liess ich mich vom Moment bezaubern, auch wenn mir solche Telegramm/SMS/Whats... auch immer Geschichten nicht so zusagen.

Kleine Anmerkung zum Stil:

Du…Du warst der Junge.
Weißt du… weißt du, wie schwierig Sex ist?
Dieses gesprochene Zögern passt nicht zu einem email Verkehr.

Gern gelesen,
Gruss dot

 

Hey dotslash

Danke fürs Lesen und Kommentieren!

Richtig, es ist nur eine kleine Geschichte, die an manchen Stellen absichtlich nichts weiter erläutert, da sonst ihre Schlichtheit flöten geht.

Zu den Anmerkungen:
Erste Skizzen hatten noch mehr von diesem gesprochenen Zögern und ich hatte schon viele rausgekürzt. Bei manchen habe ich aber das Gefühl, dass sie auf ihre Art und Weise den Text nunmal so verzögern, wie es der Leser vielleicht braucht.
Die Tatsache, dass es vielleicht nicht gewöhnlich ist, ich und eine Freundin aber tatsächlich manchmal mit diesem eigentlich gesprochenen Zögern per whatsapp schreiben, hat mich dazu verleiten lassen, die ein oder andere Wiederholung drin zu lassen.
Ich schaue mal, ob es nicht doch einen anderen Weg gibt.
LG
Sim123

 

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