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Epiloge
Irgendwann wirst du sterben. Das ist das Einzige, was ich über dich weiß. Das ist auch gut so. Ich weiß nicht mehr über dich. Ich kenne nicht deinen Namen, nicht deine Haare, nicht deine Haut. Vor allem nicht deine Haut.
Ich habe deine Email-Adresse auf dem Boden liegen sehen, auf einen kleinen Zettel eng gekritzelt. Die Schrift war sehr schön. Ich weiß nicht, ob es deine war. Ich hoffe es.
Warum ich dir schreibe? Du kennst mich nicht, das ist wichtig. Und ich kenne dich nicht, das ist noch viel wichtiger. Ich brauche jemanden zum Reden. Das habe ich lange nicht mehr richtig.
Aber vorher muss ich etwas erklären…
Denn ich kann… Dinge. Wenn ich dich berühren würde, wenn meine Hautzellen deine auch nur kurz befühlen, dann sehe ich dich. Ich sehe, wer du bist und wer du warst und wer du sein wirst. Ich sehe, wann du deine ersten Schritte gemacht hast und wann du deine letzten machen wirst. Ich sehe, wann du etwas bereut hast oder später mit Reue zurückschauen wirst und ich sehe, ich sehe jedes einzelne Detail deines Lebens, jede Sekunde, jede Minute, Stunde und für mich ist es als würde ich es selbst leben. Als wäre ich du; ich lebe dein Leben und dann wache ich auf und ich bin wieder ich und es ist keine Sekunde verstrichen, obwohl dort doch ein Leben war.
Ich weiß, es klingt viel zu anormal, nicht real. Du musst mir auch nicht glauben. Aber ich brauche jemanden, der mir zuhört. Jemanden, dessen Leben ich noch nicht gesehen und dessen Gedanken ich noch nicht gespürt habe.
Ich hoffe du antwortest. Bitte schau nicht, wem die Adresse gehört. Dies alles ist ein Geheimnis zwischen zwei Fremden. Bitte.
Du antwortest nicht. Das ist okay. Das habe ich erwartet. Wahrscheinlich hältst du mich für eine Verrückte, Geisteskranke, die dir jetzt solche bescheuerten Spam-Mails schreibt. So ist es nicht. Vertrau mir. So ist es nicht. Bitte. Bitte, antworte. Es steht was Schreckliches bevor und ich möchte nicht allein sein.
Ein letztes Mal: Bitte.
Was wird Schreckliches geschehen?
Meine Mutter… Sie wird…
Sie wird in zwei Wochen sterben.
Sie weiß es noch nicht. Sie übergibt sich die letzten Wochen sehr häufig, hat Kopfschmerzen und sie kann nicht mehr richtig stehen. Ich sage ihr, sie solle zum Arzt gehen. Ich sage ihr, dass es was Ernsthaftes sein könnte. Aber sie arbeitet einfach weiter. In zwei Wochen wird sie hinfallen, erschöpft zu Boden gehen. Eine Notoperation wird durchgeführt. Und sie wird sterben.
Sie weiß nichts von… dem. Ich versuche es schon mein ganzes Leben geheim zu halten. Aber… aber jetzt... Sie ist die einzige Person, die ich noch habe. Mein Vater starb kurz vor meiner Geburt.
Vielleicht liegst du falsch.
Oh. Oh, wie sehr ich mir das wünsche. Aber ich liege nicht falsch, ich lag nie falsch. Meine Deutschlehrerin hatte mich mal berührt. Und auch bei ihr sah ich alles. Aber vor allen Dingen sah ich, wie an dem Tag ihr Auto nicht ansprang, sie den Bus nehmen musste und auch noch diesen verpasste. Dann gewitterte es. Sie lief über die Straße, ein Auto sah sie nicht und…
Ich habe schon viele Leben gelebt. Ich bin schon oft gestorben. Aber jeder neue Tod fühlt sich falsch an. Jeder neue Tod beendet eine Geschichte, die nicht ihren Epilog erreicht hat.
Ich habe versucht, ihr den Epilog zu schenken. Auch wenn ich wusste, dass meine Mühen vergebens sein werden, denn ich hatte mich ja schon selbst gesehen, in ihrem Leben. Wie ich versuche ihr einzureden, ein Taxi zu nehmen. Wie ich ihr sage, dass vielleicht jemand von ihren Kollegen sie mitnehmen kann. Aber es führte zu nichts. Sie ist tot.
Ich hatte das Leben meiner Mutter schon in meiner Kindheit gelebt und ich hatte so sehr gehofft, so sehr gewünscht, dass die Krankheit vielleicht doch nicht einsetzt. Und jetzt höre ich, wie sie sich im Badezimmer übergibt.
Und heute sah ich einen Jungen in der Schule. Er streifte nur kurz meinen Arm, er stolperte und ließ seine Sachen fallen. Ich half ihm und berührte ihn nur noch mehr. Daraufhin lebte ich auch seine Geschichte.
Er hat Depressionen. Jeder Tag ist für ihn eine Qual, jede Stunde fragt er sich, warum er noch durch die Hallen der Schule wandert und jede Minute wundert er sich, warum er nicht einfach verschwindet und geht. Ich fühlte jede einzelne Sekunde und sie schmerzten alle.
In einer Woche wird er es tun. Am 17. Dann wird er gehen.
Und als ich da so kniete und ihm half, da wollte ich so viele Dinge sagen. Ihm sagen, dass er falsch liegt, dass sich das Leben lohnt und er nur weiter stark bleiben muss, aber… ich konnte es nicht. Ich hatte nur den Tod meiner Mutter vor Augen, diesen nichtsnutzigen Tod und für einen kurzen Augenblick verstand ich ihn.
Das Leben ist wertlos. Denn was ist eine Geschichte ohne ein gutes Ende?
Du solltest mit ihm sprechen.
Du verstehst es nicht. Ich kann es nicht ändern. Die Zukunft ist fest. Ich kann sie sehen, aber nicht beeinflussen. Ich sah mich nicht in seinem Leben; ich sah nicht, wie ich mit ihm in Kontakt trete. Ich werde es nicht tun.
Du solltest es versuchen. Wenn du mit ihm sprichst, veränderst du schon die Zukunft. Manchmal sind es die Augenblicke in einem Leben, die alles verändern, nicht die großen Taten.
Es wird vergebens sein.
Vielleicht nicht. Du hast eine Gabe. Eine besondere Eigenschaft. Irgendeinen Nutzen wird sie haben.
Manche können gut schreinern und machen perfekte Stühle, manche schauspielern und hauchen ergreifenden Geschichten Leben ein. Manche malen und bewegen die Menschheit mit Emotionen.
Du siehst die Zukunft, verdammt. Die Zukunft von so vielen Menschen. Aber vielleicht ist es nicht die eine Zukunft, sondern eine mögliche und sehr wahrscheinliche.
Du musst die Wahrscheinlichkeit ändern. Es wird schwierig sein. Aber du musst es versuchen.
Ich kann ihm aber im Moment nicht helfen. Und es ist keine Gabe. Eine Gabe wäre ein Geschenk. Aber hiermit verzweifle ich nur.
Weißt du… weißt du, wie schwierig Sex ist? Die ständige Berührung des anderen, die ständige Konfrontation mit seinem Leben. Dies ist kein Geschenk.
Du antwortest nicht mehr. Das verstehe ich. Wahrscheinlich hast du deine eigenen Probleme und kannst dich nicht nur um mich kümmern. Morgen ist die erste Woche rum. Ich bin gestern mit meiner Mutter ins Kino gegangen und ich habe sie den Film aussuchen lassen. Der Abend war schön. Aber er hatte ein Ende.
Dann hat das Leben doch gute Enden. In den kleinen Momenten.
Es wertet nicht ein ganzes Leben auf.
Doch. Manchmal … manchmal schon. Du hast noch eine Woche. Eine Woche, um die Zukunft zu ändern. Nutze diese Zeit. Es ist möglich.
Was macht dich da so sicher?
Gestern war der 17. Du lagst falsch. Ich bin noch hier. Ich lebe noch.
Du…Du warst der Junge.
Ja, ich war es. Und du hast mein ganzes Leben gesehen und dennoch wusstest du nichts von diesen Nachrichten. Du hast nicht die Zukunft gesehen, die durch einen Augenblick verändert wurde, durch dich, weil du mir eine E-Mail geschrieben hast.
Ich habe mir festgesetzt, dass ich überlebe. Dass der 17. nur ein weiterer Tag bleibt. Und hier bin ich.
Aber du bist nicht geheilt.
Nein. Das bin ich nicht. Aber du hast mir einen weiteren Tag geschenkt. Vielleicht
kannst du deiner Mutter noch einen Epilog schenken.
Versuche es.
Hallo?
Antworte doch.
Sie lebt.