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Envian und sein Bewunderer
Habt Ihr, gespannte Leser und gespannte Leserinnen, schon einmal vom Land Klerün gehört? Kennt Ihr den kleinen Envian, der dort lebt? Wenn nicht, will ich mir erlauben, Euch nun seine Geschichte zu erzählen.
Klerün liegt gar nicht so weit weg, wie Ihr womöglich annehmt. Ihr braucht nicht zum Ende eines Regenbogens zu reisen, auch nicht am Boden eines Kaninchenlochs danach zu suchen und schon gar nicht einen alten Kleiderschrank zu durchstöbern. Klerün liegt so nah und doch so fern. Hinter jeder unbemalten Leinwand befindet sich ein Teil dieses unendlich großen Landes. Denn jede noch so kleine weiße Fläche – selbst ein Fetzen Papier – kann zu einem Fenster nach Klerün werden.
Um in diesem Fenster einen farbenfrohen Landstrich erblicken zu können, braucht es jedoch ein Menschenkind, das Freude am Zeichnen hat. Die Bewohner von Klerün, auch Klerünier genannt, sind allesamt hilfsbereite Künstler. Daher sind sie gleich zur Stelle, um dem Menschenkind die Hand zu führen – also bei dem behilflich zu sein, was Erwachsene Inspiration nennen.
Wovon ich Euch, überraschte Leser und Leserinnen, hier erzähle, mag vielleicht zuerst verwirrend klingen, ist aber mit der Geschichte von Envian leicht erklärt. Envian gehört seit kurzem zu den Morgenmalern. Sie sind diejenigen, die allen kleinen Zeichnern beim schwierigsten Teil des Malens helfen – den ersten Strichen.
Die Morgenmaler zeigen sich dabei aber zuerst überhaupt nicht. Erst, wenn sie ihr Tagwerk zu ihrer vollen Zufriedenheit beendet haben und sie sich bei dem Menschenkind bedanken wollen, tauchen sie auf der Zeichnung auf. Ihre Gestalt wählen sie dabei selbst: Sie können als Riesen-Igel genauso erscheinen wie als schiefer Türstock.
Obwohl die Morgenmaler bei ihrem Schaffen unsichtbar bleiben, kann jeder, der seine Ohren spitzt und nahe an eine unbemalte Leinwand hält, hören, wie sie durch die weiße Gegend ohne Formen und Farben hetzen. Sie müssen ja zur rechten Zeit an der richtigen Stelle sein. Da es aber keine Hindernisse für die Morgenmaler gibt, sind sie wohl die schnellsten Wesen überhaupt.
An seinem ersten Arbeitstag konnte also auch Envian über nichts stolpern. Trotzdem war er schrecklich aufgeregt. Um ihn herum herrschte weißeste Nacht, während er hin und her flitzte, um seinen Einsatz auch ja nicht zu verpassen. Schließlich sah er, wie der Morgenmaler Horizonti den ersten Pinselstrich zu fassen kriegte und ihn in die richtigen Bahnen lenkte. Horizontis Spezialität war immer schon der Himmel, also erschuf er wieder mal Sonnenstrahlen, die sich über Klerün ausbreiteten. (Manchmal zog er auch Wolken auf, wenn es ihm nicht so gut ging.)
Genau dieses Tageslicht nutzte die Morgenmalerin Silvae, um die Natur dieses einzigartigen Landstrichs von Klerün sichtbar zu machen. Derweil wusste der ruhelose Envian nicht einmal, was er überhaupt zeichnen sollte. Die fürsorgliche Silvae rief ihm zu: „Ein Dorf fehlt noch, am besten am Rand von dem Wald, den ich gerade wachsen lasse. Geh schon mal dort hin und beruhige dich ein wenig.“
Envian beruhigte sich aber kein bisschen, denn die Kunstfertigkeit von Horizonti und Silvae schüchterte ihn ein. Horizonti entschied sich diesmal für grüne Sonnenstrahlen und Silvae für orangefarbenes Gras und rote Baumkleider. Envian tat einen verblüfften Rundblick in diese Kopfstand-Landschaft: Horizontis Himmel sah aus wie eine unendlich sattgrüne Wiese und die Wolken wie von Moos überzogene Steine. Währenddessen verteilte Silvae noch Nebelschwaden zwischen ihrem Orangen-Gras und ihren Feuer-Bäumen. Damit war der umgedrehte Sonnenaufgang beinahe perfekt.
Als Envian an die Reihe kam, war er nicht mehr eingeschüchtert – viel schlimmer – der Neuling unter den Morgenmalern bekam lähmende Angst. Envian wollte sich nicht vor den anderen Morgenmalern blamieren.
Wenigstens hatte er seinen Blick längst von Silvae abgewandt, um sich auf seine eigene Arbeit einstimmen zu können. Ein Dorf zu zeichnen, war eigentlich keine schwere Aufgabe, schon gar nicht, weil Silvae ihm freundlich zurief: „Ich komme gleich zu dir, um dir ein paar Tipps zu geben.“
Trotzdem war ein wildes Klappern und Scheppern zu hören. Vielleicht waren es nur die Zähne und Farbdosen des schlotternden Envian, als er sich an seiner ersten Hausecke versuchte. Vielleicht waren Envians Füße aber Trommeln und seine Knie Schellen, die Musik machten, weil er hin- und herzappelte. (Jeder Mensch, werte Leserinnen und werte Leser, hat ein anderes Bild von einem ungezeichneten Klerünier.)
Silvae war inzwischen zu Envian getreten und fragte: „Soll das Haus etwa eine Mauer bekommen, die aussieht wie eine Welle in Schweinchenrosa?“. Envian stockte. Dutzende Fragen überschlugen sich in seinem Kopf: „Was meint sie bloß? Gefällt ihr die Wellenmauer oder nicht? Soll ich weitermachen? Schaffe ich das überhaupt?“ Envian musste schnell eine Antwort finden. „Ich … Ich … weiß nicht“, brachte er gerade noch hervor.
Gutmütig meinte Silvae: „Ganz ruhig, Envian. Ich mag außergewöhnliche Dinge. Außerdem ist hier in Klerün nahezu alles möglich. Aber beeil dich ein wenig. Horizonti und ich sind schon fertig, nur bei dir ist noch ein weißer Fleck zu sehen.“
Den letzten Satz hätte sich Silvae besser verkniffen, obwohl sie ihn nicht böse meinte. Als sich Envian darauf nämlich kurz umdrehte, war er überwältigt vom farbenprächtigen Umland. Envian wandte sich schnell wieder ab, doch es war zu spät. Am Boden zerstört starrte er auf seine mickrige Linie. „Wie soll daraus nur ein Dorf entstehen, das zur Landschaft passt und nicht lächerlich aussieht“, fragte er sich verzweifelt. „Ich schaffe das nie“, seufzte er, warf seinen Pinsel von sich und lief weg. Dabei glitt ihm sein Farbtopf aus der Hand und hinterließ einen Fleck wie eine herabgefallene rosa Träne.
Silvae wollte ihn zurückholen, aber das Dorf konnte sich nicht von selbst zeichnen. Sie führte Envians Idee zu Ende: Sie ließ die Häuser so aussehen als wären sie jahrzehntelang am Grund des Meeres gestanden, wodurch ihre Mauern Wellenform bekommen hatten.
Nachdem sie fertig war, machte sie sich auf die Suche nach ihrem Schützling und fand ihn zusammengekauert in einem weißen Punkt von Klerün. Inzwischen hatte sich Silvae selbst gezeichnet, war also für jedermann sichtbar: Um Envian aufzuheitern, erschien sie ein bisschen lächerlich – ihre Hasenohren warfen ihren Schatten voraus. Ein riesiger Hase mit Farbflecken auf der Stupsnase hoppelte auf Envian zu, blieb stehen und richtete sich auf. Trotz seiner Traurigkeit konnte sich Envian ein Kichern nicht verkneifen, als Silvae ihre Vorderpfoten in ihre flauschigen Hüften stemmte.
Doch die Freude war nur kurz. Missmutig brummte er beim Anblick der Sonne. Horizonti hatte sie – passend zu den grünen Sonnenstrahlen – als prächtiges Stück Kopfsalat in den Himmel gesetzt.
Was konnte Silvae nur gegen solche schlechte Laune tun? Ratlos kratzte sie sich an ihrer Stupsnase. Ihre knopfförmigen Augen leuchteten auf wie Diamanten, als ihr einfiel, dass sie Envian ja fröhlich zeichnen konnte. Mit geschickten Strichen verlieh sie ihm ein Clownsgesicht, das aber nur kurz grinste und dann die Mundwinkel tief nach unten zog.
Silvae überlegte, was sie mit diesem Trauerclown nur anstellen sollte. Da erinnerte sie sich an ein altes klerünisches Sprichwort: „Kleidung macht doch Leute, oder?“ Also verpasste sie Envian silbern funkelnde Hosen und einen strahlenden goldenen Mantel. Envians Unmut war jedoch sogar stärker als sein neu gewonnener Schimmer. Er verblasste und sah mit einem Mal aus wie ein ausrangierter Roboter.
Silvae seufzte. Sie war kurz davor aufzugeben, als sie einen letzten Einfall hatte. Silvae sprach: „Wir wollen keine kostbaren Worte verschwenden, indem wir reden. Kaum sind sie gesprochen, schon sind sie verschwunden. Hier, ...“ Hinter ihrem Hasenrücken zog sie einen Stapel übergroßer Kleeblätter hervor, alle vierblättrig. „ ... da hast du Seiten für Zeichnungen, Worte und Musiknoten. Male, schreibe und komponiere dir von der Seele, was dich so traurig macht.“
Silvae ließ Envian alleine. Er starrte bekümmert auf die Kleeblätter. Envian wollte eigentlich schon immer seine Erfahrungen aufschreiben. Aber sicher hatte das vor ihm jemand bereits viel besser gemacht. Er wollte schon immer ein Lied komponieren, das seine Stimmung ausdrückte. Gewiss war dieses Lied längst anderswo mit großem Applaus aufgenommen worden. Er wollte zeichnen, wie er die Welt sah. Ein schöneres Bild hing aber bestimmt seit Jahren in einem Museum.
Envian kam es so vor, als ob jedes Kunstwerk, das er je gelesen, gehört oder gesehen hatte, nur dazu da war, um über seinen Geschichten, seinen Bildern oder seinen Liedern zu thronen. Dabei war Envian noch jung, es wäre ein Wunder gewesen, wenn er an seinem ersten Tag so gut gezeichnet hätte wie Silvae oder Horizonti. Envian brauchte noch reichlich Erfahrung. Fehler durfte er sich auch leisten, ja, er musste es sogar tun, denn selbst Horizonti und Silvae hatten auf diese Weise ihr Können erlernt. Leider wollten sich die beiden sonst sehr weisen Morgenmaler nicht daran erinnern, ebenfalls einmal versagt zu haben. Daher gaben sie Envian auch nicht den nützlichen Ratschlag, die eigenen Fehler schätzen zu lernen.
Eine solche Ermunterung hätte den immer noch aufgebrachten Envian sicher beruhigt. Zornig, wie er war, packte Envian die Kleeblätter und zerknitterte sie. Envian wollte die Blätter schon zerreißen. Plötzlich schaffte es einer der vielen Gedanken, die gerade in seinem Kopf wild durcheinander schrieen, alle anderen zu übertönen: „Etwas zu zerstören ist doch leicht.“ Envian hielt inne und ließ den Gedanken ausreden. „Dafür ist es umso schwerer, etwas zu erschaffen – selbst, wenn es nicht vollkommen wird.“
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, schrieb Envian drauflos. Doch er verwendete nicht nur schlichte Worte, sondern zeichnete manchmal die Bilder hinter den Worten. Wenn Bilder nicht genügten, verwendete er Noten und Takte.
Als er fertig war, hatten die Morgenmaler ihre Pinseln und Farben schon zusammengepackt. Sie bereiteten sich darauf vor, durch die weiße Wüste von Klerün zum nächsten Landstrich zu ziehen, der darauf wartete, gemalt zu werden.
Envian betrachtete derweil die Kleeblätter, die alle zusammen ein noch nie da gewesenes Kunstwerk ausmachten. Er freute sich darüber, was er geschaffen hatte – aber nur kurz. Die Furcht überwältigte ihn erneut: Nun zitterte er davor, dass niemand sein Werk gefallen oder verstehen würde. Envian meinte, schon wieder nichts Großartiges vollbracht zu haben. Abermals wollte er die Blätter zerreißen. In seinem Kopf gab es so viele Gedanken, die dagegen sprachen. Leider fielen sie sich alle ins Wort, sodass Envian keinen von ihnen hören konnte. Es sah wirklich nicht gut aus für die Kleeblätter.
Silvae blickte ihm zum Glück über die Schulter. Sie hatte sich in der Zwischenzeit umgezeichnet und war nun als Wind durch Klerün unterwegs. Auch sie hielt Envians Schöpfung für ganz schön ausgefallen – selbst für klerünische Verhältnisse. Silvae wusste jedoch auch, dass es unglaublich schade gewesen wäre, die Blätter zu vernichten. Daher nutzte Silvae ihre windige Gestalt: Mit einem kurzen rettenden Stoß trug sie die Kleeblätter auf ihren Armen fort, und zwar weit über das Land Klerün hinaus.
Envian war Silvae dankbar, dass nun kein Klerünier sein Werk schlecht machen konnte. Vollauf glücklich fühlte er sich aber auch nicht, als er in Richtung der weißen Wüste stapfte, um zu den Morgenmalern zurückzukehren.
Vermutlich ist Envian heute noch traurig, dabei hat er doch einen großen Bewunderer – nämlich mich, den Autor dieser Geschichte. Leider kann er zwei Dinge nicht wissen: Erstens, dass ich, verehrte Leser und Leserinnen, die Kleeblätter gefunden habe. Und zweitens, dass jedes einzelne Blatt eingerahmt in meinem Zimmer hängt.
Warum ich mir die Mühe gemacht habe? Weil niemand außer Envian dieses Kunstwerk hätte schaffen können. Envian widme ich daher auch dieses Märchen. Warum Märchen? Ich muss gestehen, nie in Klerün gewesen zu sein. Vielleicht gibt es keinen Envian. Vielleicht gibt es hinter den weißen Leinwänden unserer Welt auch gar kein Land Klerün. Ich habe die Blätter aber gefunden und sie sehr lange bewundert. Mit der Zeit dachte ich mir, dass die Geschichte ihrer Entstehung nur so lauten muss, wie ich sie eben niedergeschrieben habe.
Das Original meiner Geschichte habe ich trotzdem dem Wind übergeben – in gutem Glauben, dass Klerün tatsächlich existiert und Envian dort lebt. Vielleicht bringt Silvae ja meine Zeilen zurück zu dem missmutigen Envian. Vielleicht trägt sie die Geschichte aber auch zu jemand anderem. Jemandem, der sich etwas nicht traut, weil er verängstigt ist. Und vielleicht wird dieser Jemand mutiger, wenn er sich vorstellt, dass ihm irgendwo ein ferner Bewunderer die Daumen hält.