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Entscheidungspartie
»So, das war´s. Ich wär´ dann fertig.« Den Werkzeugkoffer in der Hand wandte er sich dem merkwürdigen Kauz zu, der ihn in dieser stillgelegten Fabrikhalle einen Billardtisch hatte aufstellen lassen – nicht etwa einen dieser kleinen Münztische, wie man sie im Hinterzimmer einer Gaststätte vorfindet, sondern ein exklusives Modell mit feinstem Tuch und offiziellen Turniermaßen. »Ist wohl für´n Fototermin?« Der Monteur grinste verschmitzt. »Schöne Models und so, wie?« Aus der Brusttasche seines Overalls zückte er die Rechnung und hielt sie dem Kunden hin. Titus Tathoff, heute erfolgreicher Unternehmer und Teilhaber einer Technologieschmiede, tauschte das Papier ungelesen gegen ein Bündel Banknoten. »Den Rest können Sie behalten«, sagte er gedankenverloren und ging ein paar Schritte näher an das erworbene Prunkstück heran. Etwas ungläubig, dann aber doch mit freudiger Miene ließ der Monteur das Geld in seiner Tasche verschwinden. »Tja, also wenn ich noch mal ’was für Sie tun kann, ...« Titus nickte flüchtig. Dann endlich ließ ihn der Monteur allein. Frühsommerliche Sonnenstrahlen fielen durch eingeworfene Sprossenfenster, und von irgendwoher waren die Flügelschläge einiger Vögel zu hören, als der Lieferwagen davonbrauste.
Titus verharrte bewegungslos an Ort und Stelle. Sein Blick haftete an dem grünen Tuch und den farbigen Kugeln. Das Szenario einer offenen Feldschlacht, nachgestellt mit runden Zinnsoldaten in bunten Uniformen. Elf Gewinnspiele, neun Kugeln, ein Sieger. Zu bezwingen galt es niemand Geringeren als Roman Posch, damals eine bekannte Größe im europäischen Poolbillard, so wie er selbst. Nie zuvor hatten sie sich in einem Finale gegenüber gestanden, bis zu jenem denkwürdigen 13. Juni. Sein halbes Leben lag das nun zurück, durchaus gute Jahre, in denen aus einem überheblichen Heißsporn ein gut verdienender Geschäftsmann wurde, und doch nicht lange genug, um die Erinnerung an diesen einen Tag verblassen zu lassen.
»Hey, Titus! Tolles Spiel!«, reißt ihn eine unbekannte Stimme aus seinen Gedanken. Gesichter, die er nicht gleich zuordnen kann, umringen ihn. Fremde Hände klopfen ihm auf die Schulter, als er sich seinen Weg nach draußen bahnt, vorbei an den Zuschauerrängen. Andere Partien sind noch in vollem Gange. Auf der Anzeigetafel erlischt das Ergebnis seiner Begegnung und wird durch ein neues ersetzt. Geschafft. Eine Runde weiter. Sein Gegner im Viertelfinale ist noch nicht ermittelt. Olssen oder van Bruiken, beides Spitzenspieler. Besonders van Bruiken hatte ein starkes Jahr. Drei Turniersiege, amtierender niederländischer Meister im 9-Ball. Ob er sich aber gegen Olssen durchsetzen kann, diesen brillianten Techniker mit gutem Sicherheitsspiel, das wird sich zeigen.
An den Infoständen und vor dem Turnierplan im Vorraum der Sporthalle drängt sich eine bunte Menge aus Billardsportinteressierten und von den Plakaten in der Umgegend Angelockten. Dazwischen dickbäuchige Repräsentanten verschiedener Fachverbände und einige der Teilnehmer mit ihren Angehörigen. Draußen auf dem Vorplatz das gleiche Bild. Nur der Geräuschpegel ist deutlich höher. Der Geruch von Grillkohle und verdampfendem Fett liegt in der Luft. Dank des schönen Wetters haben die Essensstände und Getränkebuden gut zu tun. Zu aktuellen Musiktiteln aus überdimensionierten Lautsprechern werden Billardartikel feilgeboten, vom nötigen Equipment über mehr oder minder sinnvolles Zubehör bis hin zu allerlei Alltagsgütern mit Billardmotiven.
Auf den Holzbänken vor dem Bierzelt herrscht eine ausgelassene Stimmung. Einer seiner Gegner aus der Vorrunde prostet ihm anerkennend zu. Andere fachsimpeln über gesehene Partien oder streiten über die Spielstärke namhafter Poolspieler, manche schließen Wetten über den Ausgang des Turniers ab. Zwei Namen fallen immer wieder: Roman Posch und seiner.
»Eine wirklich überzeugende Darbietung. Kompliment, Titus, nur weiter so.« Am Präsidenten des nationalen Billardverbands geht man nicht einfach vorbei. Das angebotene Getränk lehnt Titus höflich ab. Ein paar lobende Worte über den Ausrichter und das variantenreiche Spiel des gerade Besiegten gehören zur Pflicht und lassen zufriedene Mienen zurück.
Auf dem Parkplatz steuert er zielstrebig seinen Wagen an. Die Fahrertür steht offen. Sabines Füße baumeln aus der heruntergelassenen Seitenscheibe, und Titus ahnt bereits, in wessen Schoß ihr Kopf ruht, noch bevor er Roman direkt in die Augen blickt.
»Na endlich!«, stöhnt Sabine, als sie ihn bemerkt, aber selbst in seiner Gegenwart macht sie keine Anstalten, eine andere Position einzunehmen. »Bitte sag’ mir, daß Du verloren hast und wir nach Hause fahren können.«
»Tja, ich denke, ich werd’ dann mal wieder«, bleibt Roman gelassen und steigt aus. Neben Titus hält er kurz inne. Kameradschaftlich klopft er ihm auf die Schulter, erntet dafür aber nur einen abfälligen Blick.
»Wir sehen uns im Finale. Wenn Du es bis dahin schaffst, heißt das«, gibt Titus ihm noch mit auf den Weg. Dann steigt er zu Sabine in den Wagen.
»Und bevor Du fragst, es war nichts, okay?!«, läßt sie ihn augenblicklich wissen. »Ich hab’ nichts gesagt.« »Aber gedacht. Das denkst Du doch immer!« »Nur, wenn ich Grund dazu habe.« »Und das nennst Du also einen Grund, ja? Daß ich mich nicht zu diesen ganzen Verrückten setze, die nichts als Billard im Kopf haben, und daß mir vielleicht langweilig ist, auf die Idee kommst Du wohl nicht?!« »Du hättest zusehen können. Ich hab’ gut gespielt.« »Na klasse! Zugucken, wie zwei Jungs mit Murmeln ’rumknickern. Echt aufregend!« »Poolbillard ist ein Sport. Wir knickern nicht. Und ich zähle zufälligerweise zu den Besten. Ich habe vor, dieses Turnier zu gewinnen, und es wäre schön, wenn Du mich dabei wenigstens ein bißchen unterstützen könntest!« »Pah! Zufälligerweise gehöre ich zu den Besten, und ich habe vor, das Turnier zu gewinnen«, ahmt sie ihn mit quäkender Stimme nach. »Und wenn Du es gewonnen hast, was dann? Welches Turnier ist dann so wichtig, daß das ganze verdammte Wochenende dabei draufgeht, heh? Und was ist mit mir? An welcher Stelle komme ich?« »Von dem Preisgeld könnten wir zum Beispiel in Urlaub fahren, nach Italien oder vielleicht ans Mittelmeer. Dahin wolltest Du doch immer.« »Dann laß uns gleich fahren, hm?«, sie legt ihre Hand auf seine, »... egal wohin, einfach nur weg, die Sonne auf der Haut spüren und sich den Wind durch die Haare wehen lassen, Arm in Arm über Wiesen schlendern und den Tag genießen, nur Du und ich.« »Was, gleich jetzt?« »Ja, jetzt sofort. Was hindert Dich?« »Ich kann jetzt nicht weg! Ich steh’ im Viertelfinale!« »Na und?« »Was heißt hier na und? Bist Du verrückt? Ich kann doch jetzt nicht einfach abhauen! Noch zwei Spiele, und ich steh’ im Finale! Weißt Du eigentlich, was das heißt? Das ist hier nicht irgendeine Dorfveranstaltung!« Sabine zieht ihre Hand wieder zurück und senkt den Kopf. »Roman würde. Hat er gesagt.« »Roman würde was?« »Mich nicht hier alleine sitzen lassen. Und soll ich Dir ’was sagen? Ich würde mit ihm gehen!«
Der plötzliche Stich in der Magengrube war so heftig, daß Titus sich vor Schmerzen krümmte. Schweiß brach ihm aus und überströmte seinen ganzen Körper. Hastig knöpfte er sich den Kragen auf und lockerte die Krawatte. Noch immer nach Luft ringend stolperte er vorwärts bis zum Tisch. Er mußte sich abstützen, um nicht in die Knie zu gehen. Die Augen weit aufgerissen starrte er auf eine der Kugeln, die einmal für so viel mehr gestanden hatten als nur ein Spiel. Da packte ihn die Wut, und mit einem mächtigen Hieb fuhr er achtlos durch das Abbild geschlagener Schlachten, daß trotz der begrenzenden Bande einer der Spielbälle vom Tisch geschleudert wurde.
Ein Raunen geht durch die Halle. »Drittes Foul, Spiel Tathoff. Neuer Spielstand ... drei zu zwei Posch. Game Tathoff. Mister Posch leads three games to two«, verkündet der Schiedsrichter nach Romans drittem regelwidrigen Stoß in Folge. Der Spielverlust bringt Titus wieder bis auf ein Spiel heran. Neun weitere trennen ihn vom Sieg. Der Beginn dieses mit Spannung erwarteten Finales ist von großer Nervosität auf beiden Seiten geprägt. »Quiet, please.« Hunderte von Zuschauern verstummen schlagartig und beobachten Titus, der gerade zum Anstoß der nächsten Partie ansetzt. Die Anspannung aber auch sein Siegeswille stehen ihm ins Gesicht geschrieben.
Die farbigen Kugeln sind zu einem Rhombus aufgebaut. Mit Wucht trifft der weiße Spielball auf den Pulk und sprengt ihn auseinander. Die Bälle jagen über den Tisch, werden von der Bande zurückgeschleudert, kollidieren miteinander, und zwei Farbige gehen in die Tasche. Kurzer Applaus von den Rängen, dann ist wieder Stille. Titus wechselt das Queue. Sorgfältig kreidet er die Spitze und studiert dabei die Lage der Kugeln. Die Reihenfolge ist vorgegeben. Er geht ein paar Schritte am Tisch entlang. Und zurück. Ab und zu beugt er sich bis dicht über das Tuch herunter. Jetzt setzt er zum Stoß an. Mehrmals schwingt er das Queue, bevor die lederne Pomeranze auf die Weiße trifft und sie quer über den Tisch schickt. Die angespielte Gelbe verschwindet in der Ecktasche. Verhaltener Beifall. Wieder prüft Titus die Stellung. Er weiß, daß jede Ablage stimmen muß, will er mit jedem Stoß eine Kugel versenken und damit am Spiel bleiben; bei einem Fehler müßte er die Aufnahme an Roman abgeben. Er zielt. Und locht. Kugel um Kugel. Von Nervosität keine Spur mehr. Endlich zeigt Titus, was er kann. Roman ist zum Zusehen verurteilt, während Titus bereits auf die letzte verbliebene – die gelbgestreifte „9“ – ansetzt ... und sicher senkt.
»Herr Tathoff gleicht aus«, ertönt die Stimme des Schiedsrichters. »Neuer Spielstand ... drei beide. Game Tathoff. Three games all.«
»NEEEIIIIIIN!!!«, brach es nun aus Titus heraus. Längst war es dunkel geworden, und der Regen suchte sich seinen Weg durch das undichte Dach der alten Halle. Ein paar aufgeschreckte Tauben flatterten auf. Und kamen wieder zur Ruhe. Titus sackte in sich zusammen. Er konnte den Film, der vor seinem inneren Auge ablief, nicht anhalten. Vergebens wälzte er sich auf dem naßkalten Steinboden und preßte sich die Hände an die Ohren.
»Herr Posch nimmt eine Auszeit«, tönt es über die Lautsprecher. »Das Spiel wird für zehn Minuten unterbrochen. Time out by Mister Posch. The match will be continued in ten minutes.«
Titus nimmt auf seinem Stuhl Platz, trinkt etwas, und mit einem Tuch fährt er über das Oberteil seines Queues. Aus den Augenwinkeln sieht er seinen Kontrahenten durch die Absperrung und aus der Halle gehen. Viele Spieler nutzen die Auszeit als taktisches Mittel, um den Gegner aus dem Rhythmus zu bringen. ‚Ich werde ihn schlagen’, spornt Titus sich selber an, ‚ich werde Dich besiegen, Du elender, mieser Hund! Nicht mal ein Wunder kann Dich jetzt noch retten!’
Die Minuten vergehen wie Stunden, Sekunden werden zu einer Ewigkeit. Titus stützt seinen Kopf auf und schließt die Augen. Unter den Zuschauern braucht er nicht nach ihr zu suchen. Er weiß, daß sie nicht da ist, nicht mitfiebert, wie andere es tun, sondern nur darauf wartet, daß es endlich vorbei ist. Sie versteht eben nicht, daß es hier um mehr geht als nur einen weiteren Turniersieg, irgend eine Meisterschaft oder ein hohes Preisgeld. Um weit mehr.
Die Geräuschkulisse nimmt zu. Das Publikum wird zunehmens unruhiger. Die Turnierleitung diskutiert mit anderen Offiziellen. Einer deutet auf die Uhr und gestikuliert Unverständliches. Ein Dickbäuchiger reagiert mit Achselzucken. Die Zeit ist längst überschritten, und noch immer keine Spur von Roman Posch. Ratlosigkeit. Dann allgemeines Kopfnicken unter den Offiziellen. Man ist sich einig. Nüchtern verkündet der Schiedsrichter die gefällte Entscheidung. »Spiel, Satz und Sieg Tathoff. Game, set and match Tathoff.«
Unfähig zu einer Reaktion verharrt Titus auf seinem Platz. Der Beifall und die Unmutsbekundungen enttäuschter Zuschauer vermischen sich zu einem lauten Getöse. Der Schiedsrichter gratuliert als Erster. Blitzlichter gehen. Eine Menschentraube nimmt Titus in ihre Mitte. Alle reden durcheinander. Jemand greift zum Mikrophon und hält eine Ansprache. Dann wird Musik gespielt. Die Ränge leeren sich. Endlich faßt Titus die Kraft und steht auf. Hände werden geschüttelt. Jeder will gratulieren oder ihm auf die Schulter klopfen. Die Menschentraube geleitet ihn bis zum Siegertreppchen. Der Drittplazierte, die Sponsoren, Turnierleitung und Veranstalter stehen schon bereit. Die Musik verstummt. Jemand ruft Titus zum Sieger des Turniers aus. Von Beifall begleitet steigt Titus auf dem Treppchen ganz nach oben. Ein korpulenter Mann mit Bart überreicht den Siegerpokal. Einer der Sponsoren händigt Titus einen überdimensional großen Scheck aus. Wieder werden Hände geschüttelt. Links unterhalb von Titus nimmt der Drittplazierte seinen Platz ein. Auch er erhält einen Pokal. An der Stelle des Zweitplazierten bleibt das Treppchen frei. Gruppenfoto. Niemals hat Titus sich einsamer gefühlt oder so betrogen. Dann ertönt die Nationalhymne.
Inzwischen war es dunkel geworden. Und merklich kühler. In den Unebenheiten des Bodens hatten sich Pfützen gebildet. Das marode Dach knarrte. Der böig aufbrausende Wind pfiff durch Spalten und Öffnungen. Flatternde Plastikfolien. Quietschende Scharniere. Irgendwo ein metallisches Klirren.
Titus brummte der Schädel. Leise aufstöhnend rappelte er sich hoch. Gegen den Tisch gelehnt kramte er sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Kopfschmerz ließ allmählich nach. Titus atmete ein paar Mal tief durch. Dann machte er sich auf den Weg nach draußen zu seinem Wagen. Aus dem Kofferraum nahm er sein Spiel-Queue und einen Kanister und ging zurück. Das Queue legte er zu den Kugeln auf den Tisch. Dann schraubte er den Deckel des Kanisters ab und goß den Inhalt über dem Tisch aus. Schon bald war die Luft vom Gestank des Bezins erfüllt. Aus Vorsicht trat er etwas zurück, zündete ein Streichholz und warf es vor sich auf den Boden. Ein nur kurzzeitig helles Aufflammen, begleitet von dem puffenden Geräusch schlagartig verbrannten Sauerstoffs, dann schnellte ein bläuliches Glühen auf den Tisch zu. Es kroch an ihm hoch und breitete sich rasant aus. Aus den Ritzen quoll dichter Qualm, grelle Flammen züngelten ihm nach, umzogen bald den ganzen Tisch, um dann meterhoch nach oben zu schlagen. Das Holz verfärbte sich schwarz, Kunststoffteile warfen Blasen, schmolzen oder platzten ab. Es knackte und knirschte. Funken wurden wie Geschosse herausgeschleudert. Schwarzer Rauch stieg auf, in dunklen Wellen zog er an der Decke entlang und drohte alles einzuhüllen. Die Hitze war unerträglich. Titus nahm den Arm vor’s Gesicht und wich immer weiter zurück. Dann ein Ächzen und Rumpeln. Der Rahmen gab nach, und mit einem lauten Krachen fielen die schweren Schieferplatten nach unten durch. Die Beine knickten ein, und das ganze Gestell brach in sich zusammen. Glut wurde aufgewirbelt, prasselte als Funkenregen wieder zu Boden, dann wurden die Flammen ruhiger und gleichmäßiger.
Erst im Morgengrauen war die letzte und entscheidende Schlacht geschlagen, die verzehrenden Qualen der Erinnerung endlich überwunden. Triumphierend sah Titus auf die bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Überreste des Besiegten. Dann wandte er ihm für immer den Rücken.