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Entscheidungsfreudig
Ich hielt drei alte, verstaubte Ordner in meiner Hand.
„Maik, meinst du, ich kann die wegwerfen?“
„Wo hast du die denn her?“
„Aus dem Schrank hier.“
„Zeig mal.“
Ich gab Maik die Ordner. Er las die Seitenaufschrift laut vor:
„Ausgangsrechnungen 1985“
Maik und ich waren beide im ersten Lehrjahr und arbeiteten erst seit zwei Monaten bei Schulte. Von den typischen Azubi-Diensten waren wir bisher verschont geblieben, doch heute sollten wir in einem leerstehenden Zimmer die Schränke reinigen. Wir waren fast fertig, als uns die Ordner in die Hände fielen.
„Ich denke, wir sollten lieber Susanne fragen“, murmelte Maik, während er in einem der Ordner blätterte. „Sicher ist sicher.“
„Ja, gute Idee.“
Wir schlenderten ins Büro nebenan und fragten unsere ausgelernte Kollegin, was mit den Ordnern geschehen sollte.
„Eigentlich könnte man sie wegschmeißen. Per Gesetz sind wir nur dazu verpflichtet, sie zehn Jahre aufzubewahren.“
„Also dann weg damit!“, erwiderte ich forsch.
„Na, nicht so schnell. Wir fragen lieber mal Herrn Reusch.“
Herr Reusch war Abteilungsleiter Verkauf II, sein Büro lag am Ende des Flures.
Wir schnappten uns jeder einen Ordner und schlenderten den Flur entlang, klopften schließlich an Herrn Reuschs Tür.
Herr Reusch bat uns herein und erkundigte sich nach unserem Anliegen. Susanne erklärte ihm die vertrackte Situation und wir übergaben Herrn Reusch die Ordner. Dieser ließ sich von seiner Sekretärin erst mal Kaffee bringen. Wir bekamen auch einen.
Er blätterte die Ordner sorgfältig durch, während wir interessiert zuschauten und an unserem Kaffee nippten.
„Puh, gar nicht so einfach“, begann er. „Eigentlich könnte man die Ordner wegwerfen, schließlich sind sie über zwanzig Jahre alt. Die Aufbewahrungsfristen sind Ihnen ja sicherlich bekannt. Andererseits liegt uns hier enormes Datenmaterial vor, das wir eventuell einmal benötigen könnten.“
„Dann bringen wir sie eben ins Archiv“, schlug Susanne vor.
„Das wäre mein nächster Punkt gewesen. Das Archiv ist ohnehin überfüllt und sollte nicht noch weiter überlastet werden, weswegen uns eine Anweisung der Konzernleitung vorliegt, nur wirklich wichtige Dinge, zu archivieren. Ob die Ordner dieser Anweisung gerecht werden, vermag ich alleine nicht zu entscheiden. Ich werde mit Frau Weil korrespondieren. Sie können gerne mitkommen, wenn sie möchten.“
Wir mochten. Und so liefen wir die Treppe hoch in den zweiten Stock, wo sich das Büro von Frau Weil, ihres Zeichens Leiterin Verkauf I, befand. Eigentlich hätten Maik, Susanne und ich wieder weiterarbeiten können, aber Herr Reusch bestand darauf, dass wir ihm folgten. Er wolle uns zeigen, wie man Entscheidungen fällt, oder, wie er sich ausdrückte: „Jetzt lernen Sie mal, wie man geschäftspolitisch wichtige Beschlüsse fasst und in letzter Konsequenz umsetzt.“ Dabei schaute er uns kameradschaftlich an.
Wir klopften und traten ein.
Selbstverständlich ergriff Herr Reusch das Wort und erklärte Frau Weil den Sachverhalt. Diese verwies auf die Arbeitsanweisung, dass eine Archivierung nur zulässig sei, wenn die Unterlagen wirklich, und sie betonte: wirklich wichtig seien. Im weiteren Gesprächsverlauf stritten sich Herr Reusch und Frau Weil über die Wichtigkeit der Ordner. Herr Reusch meinte, dass die drei Ordner die Geschäftsentwicklung wie kaum etwas anderes symbolisierten und ein Sinnbild für die Tradition des Unternehmens seien.
Frau Weil erwiderte, dass dies der größte Schwachsinn sei, den sie je gehört hätte. Sie fragte, was Herr Reusch in Zukunft mit den Ordnern wolle.
Herr Reusch verwies auf das Firmenjubiläum im nächsten Jahr und die dazugehörige Ausstellung. Dennoch plädierte Frau Weil dafür, die Ordner einfach zu entsorgen. Gespannt folgten wir den Ausführungen, abwechselnd betrachteten wir Herrn Reusch und Frau Weil, fast wie bei einem Tennismatch. Maik und ich wollten schließlich lernen, wie man Entscheidungen fällt.
Das Ganze ging noch eine Weile so weiter. Susanne, Maik und ich beteiligten uns rege an der Diskussion. Als es draußen zu dämmern begann, merkten wir, dass schon längst Feierabend war. Herr Reusch und Frau Weil wollten das Thema am nächsten Tag bei der Abteilungsbesprechung abhandeln. Wir verabschiedeten uns, schrieben unsere Überstunden auf und verließen das Gebäude.
Die Besprechung war für acht Uhr anberaumt und dauerte normalerweise zwei Stunden. Mittlerweile war es schon zwölf und sämtliche Mitarbeiter aus Verkauf I und II diskutierten noch immer über die drei Ordner. Der Disput wurde immer heftiger geführt, die anfangs im Kreis sitzende Gruppe hatte sich gespalten und saß sich nun in zwei Lagern am jeweiligen Tischende gegenüber. Die Argumente wurden regelrecht über den Tisch geplärrt, Zettel flogen umher, und selbst vor Beleidigungen wurde nicht Halt gemacht, um die eigene Meinung kund zu tun. Herr Wurf war so in Rage, dass er mit seinem Schreibtischstuhl nach dem „elendigen Befürworterpack“, wie er schrie, werfen wollte. Den Stuhl hatte er schon hochgehoben. Frau Weil konnte ihn gerade noch beruhigen. Frau Weil und Herr Reusch besannen sich und lösten die Versammlung auf, bevor sie in einer handfesten Schlägerei endete. Lange hätte es nicht mehr gedauert. Daraufhin beriefen sie einen Krisenstab ein, bestehend aus vier Mitarbeitern und ihnen. Diese sollten die Lösung bringen.
Der Stab sollte ab nächster Woche so lange tagen, bis das Problem gelöst sei. Doch schon am nächsten Tag nahm er die Arbeit auf, da mehre Mitarbeiter aus Verkauf I und II, noch am selben Abend, in ihrer Freizeit, Lösungsvorschläge erarbeitet hatten. Um die Flut der Anträge zu prüfen, war sofortiges Handeln gefragt. Ohnehin gab es kaum einen Mitarbeiter, der nicht versuchte, zu helfen. Parallel zum Krisenstab wurden in Eigeninitiative Arbeitsgruppen gebildet, die den Krisenstab mit ihren Vorschlägen unterstützten.
Nach zwei Wochen gab es noch immer nichts Neues von der Ordnerfront, wie der Konflikt von den anderen Abteilungen todernst genannt wurde. Die Wettbeiträge waren mittlerweile in utopische Höhen gestiegen. Ich selbst hatte mein gesamtes Monatsgehalt verwettet. Alle anderen Abteilungen waren mittlerweile in den Konflikt verwickelt und versuchten die Entscheidungsträger zu ihren Gunsten zu beeinflussen, und sei es nur um ihren Wettgewinn einzustreichen. Der Betrieb stand so gut wie still, da sich fast alle Mitarbeiter ständig über den aktuellen Zwischenstand informierten. Über das interne Betriebssystem wurde ein Liveticker eingereicht. Auf der Firmenhomepage entstand ein Forum, besser gesagt zwei, eins für jede Partei. Die ersten T-Shirts mit Slogans wie „Pro Archivierung“, „Nein zu Datenmüll“, oder „elendiges Befürworterpack“, gingen in Druck. Letzteres verkaufte sich besonders gut.
Nach einem Monat gab es immer noch kein Ergebnis. Andere Abteilungen wurden um offizielle (inoffizielle gab es schon zur Genüge) Stellungnahmen gebeten, die allerdings auch keine große Hilfe waren. Ständig wurden neue Argumente in die Debatte eingebracht.
Ein Vorstandsbeschluss sollte die Lösung bringen. An der Resolution formulierte der Krisenstab mehrere Tage. Dann dauerte es noch einige Wochen bis jeder Mitarbeiter in den Verkaufsabteilungen es Probe gelesen und abgesegnet hatte. Die Mitarbeiter der anderen Abteilung stellten beim Krisenstab den Antrag, dass Schreiben ebenfalls Probe lesen zu dürfen. Der Antrag wurde aber abgelehnt.
Als der dreißig Seiten umfassende Beschluss dem Vorstand vorgelegt wurde, wusste auch dieser nicht, wofür er sich entscheiden sollte, zu gut waren die Argumente der Pro-, aber auch der Contraseite. Kurzerhand wurde eine Vorstandskonferenz einberufen. Es sollte die längste der Firmengeschichte werden. Die Konferenz wurde mit Kameras festgehalten und über das interne Betriebssystem ausgestrahlt. Selbstverständlich live. Die Glasfront der Empfangshalle wurde abgedunkelt, die Empfangshalle selbst wurde bestuhlt, eine Großleinwand aufgebaut.
Tagelang saßen wir gespannt vor den Bildschirmen oder Großleinwänden, die Firma war in zwei Fanblöcke unterteilt. Die Befürworter der Archivierung und die Opposition.
Die Konferenz wurde erst beendet, als ein Vorstandsmitglied nach drei Wochen, vier Tagen und dreizehn Stunden, so der Stand des Tickers, erschöpft zusammenbrach. In dem Moment, als das Vorstandsmitglied umkippte ging einen Raunen durchs Publikum.
Die Konferenz wurde daraufhin beendet. Der Aufsichtsrat sollte von nun an entscheiden. Dieser sah sich jedoch nicht in der Lage solch eine komplexe Thematik nur im Ansatz zu überblicken.
Deshalb wurde die Konferenz wieder aufgenommen. Nach Monaten zeichnete sich das Ende und somit eine Entscheidung ab.
Doch dazu kam es leider nicht mehr, denn einer der Gärtner hatte wegen seines, seit Monaten ausstehenden Gehalts geklagt und Recht bekommen. Die Insolvenzverwalter beendeten die Konferenz und lösten anschließend den gesamten Konzern auf. Die Insolvenzforderungen wurden mangels Masse abgewiesen. Später erfuhr ich, dass die Putzfrauen die drei Ordner schon vor Beginn der Vorstandskonferenz weggeworfen hatten. Schade, eigentlich.