Entfremdet
Entfremdet
Von dichtem Wurzelwerk umschlungen, erwachte Grünauge aus einem bösen Traum. Er hatte geträumt ein Mensch zu sein, ein Mensch! Dieser Gedanke kam ihm absurd vor, obwohl er sich manchmal noch an einen dieser Tölpel erinnerte, wie er verloren und halb wahnsinnig vor Angst durch die Wälder tappte. Woher er kam und was aus ihm wurde, wusste er nicht zu sagen. Doch konnte Grünauge mit den Augen des Fremden sehen, konnte mit seinen Sinnen fühlen und sein Gemüt ergründen. Er vermochte in jedes Wesen zu blicken, das in diesen Wäldern wandelte. Ebenso hatte das leise Plätschern eines Baches, das Rascheln des Blätterdachs, das geheimnisvolle Seufzen der Bäume im Wind eine Stimme für ihn.
Es kam der Tag, als die Stimmen erstarben und nur noch die ältesten von ihnen undeutlich zu ihm sprachen. Der Wald zog sich in sich selbst zurück, als spürte er ein seltsames Ungleichgewicht, die Gegenwart etwas Fremdartigen, ja Unnatürlichen. Beängstigendes Schweigen senkte sich über einen nunmehr toten Ort, der gespenstisch in stiller Ahnung verharrte. Kein Laut war zu hören, kein Anzeichen lebendiger, atmender Natur zu vernehmen. Eine geisterhafte, bedrückend schwere Melancholie zog sich durch Halm, Zweig und Blatt. Selbst der Wind hatte keine Kraft mehr, um die alles umgebende Trostlosigkeit mit seinen Klagen zu erfüllen...
Die einzigen Geräusche rührten von einer auswärtigen Präsenz, die wie ein Pesthauch von sich kündete. Das Knacken splitternder Äste unter stampfenden Füßen war weithin hörbar. Laub wirbelte auf, Baumtriebe knickten, morsches Holz brach. Als Grünauge die Gestalt sah, in ihr schreckenserfülltes Antlitz blickte und den gehetzten Ausdruck des ewig Gejagten darin erkannte, überkam ihn eine tiefe Traurigkeit über die Welt da draußen. Auf diesem Mann lastete ein Fluch, das spürte er deutlich! Gejagt von den Nachtmahren der eigenen Existenz suchte er Zuflucht vor sich selbst, vor der Gesellschaft, die dies eitrige Geschwür der Selbstzerfleischung in ihn setzte. Etwas Krankhaftes, zutiefst Abnormes ging von dem Ausgestoßenen aus. Voller Panik stürzte er über Wurzel und Stein, richtete sich immer wieder auf und rannte wankend weiter. Er achtete kaum auf Äste und Zweige, die ihm entgegenpeitschten und blutige Striemen auf dem ohnehin zerkratzten Gesicht hinterließen. Ein gesunder Geist vermag sich nicht vorzustellen, welch seelisches Grauen der Mann durchlebte. Er hatte zu tief in die alpentstellte Fratze menschlicher Abgründe geschaut - in Abgründe, in die kein Licht der Natur mehr dringen konnte. Nun suchte er den Ort, an dem die Dämonen endlich von ihm lassen würden. Aber auch an diesem unergründlichen Platz erhabener Urkraft hatte sich alles gegen ihn verschworen. Er war ein Fremdkörper in einer fremden Welt, dazu verdammt, nirgendwo Geborgenheit zu finden, bis der Schatten seines Daseins getilgt war.
Grünauge blickte dem Elenden grüblerisch nach, wie er mit einem furchtbaren Schrei auf den Lippen zwischen den Bäumen verschwand. Wenig später kehrten die Stimmen des Waldes zurück und Grünauge schlief unter den nachdenklichen Murmeln einer tiefen Quelle ein.