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Entfremdet

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25.08.2010
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Entfremdet

Entfremdet

Von dichtem Wurzelwerk umschlungen, erwachte Grünauge aus einem bösen Traum. Er hatte geträumt ein Mensch zu sein, ein Mensch! Dieser Gedanke kam ihm absurd vor, obwohl er sich manchmal noch an einen dieser Tölpel erinnerte, wie er verloren und halb wahnsinnig vor Angst durch die Wälder tappte. Woher er kam und was aus ihm wurde, wusste er nicht zu sagen. Doch konnte Grünauge mit den Augen des Fremden sehen, konnte mit seinen Sinnen fühlen und sein Gemüt ergründen. Er vermochte in jedes Wesen zu blicken, das in diesen Wäldern wandelte. Ebenso hatte das leise Plätschern eines Baches, das Rascheln des Blätterdachs, das geheimnisvolle Seufzen der Bäume im Wind eine Stimme für ihn.

Es kam der Tag, als die Stimmen erstarben und nur noch die ältesten von ihnen undeutlich zu ihm sprachen. Der Wald zog sich in sich selbst zurück, als spürte er ein seltsames Ungleichgewicht, die Gegenwart etwas Fremdartigen, ja Unnatürlichen. Beängstigendes Schweigen senkte sich über einen nunmehr toten Ort, der gespenstisch in stiller Ahnung verharrte. Kein Laut war zu hören, kein Anzeichen lebendiger, atmender Natur zu vernehmen. Eine geisterhafte, bedrückend schwere Melancholie zog sich durch Halm, Zweig und Blatt. Selbst der Wind hatte keine Kraft mehr, um die alles umgebende Trostlosigkeit mit seinen Klagen zu erfüllen...

Die einzigen Geräusche rührten von einer auswärtigen Präsenz, die wie ein Pesthauch von sich kündete. Das Knacken splitternder Äste unter stampfenden Füßen war weithin hörbar. Laub wirbelte auf, Baumtriebe knickten, morsches Holz brach. Als Grünauge die Gestalt sah, in ihr schreckenserfülltes Antlitz blickte und den gehetzten Ausdruck des ewig Gejagten darin erkannte, überkam ihn eine tiefe Traurigkeit über die Welt da draußen. Auf diesem Mann lastete ein Fluch, das spürte er deutlich! Gejagt von den Nachtmahren der eigenen Existenz suchte er Zuflucht vor sich selbst, vor der Gesellschaft, die dies eitrige Geschwür der Selbstzerfleischung in ihn setzte. Etwas Krankhaftes, zutiefst Abnormes ging von dem Ausgestoßenen aus. Voller Panik stürzte er über Wurzel und Stein, richtete sich immer wieder auf und rannte wankend weiter. Er achtete kaum auf Äste und Zweige, die ihm entgegenpeitschten und blutige Striemen auf dem ohnehin zerkratzten Gesicht hinterließen. Ein gesunder Geist vermag sich nicht vorzustellen, welch seelisches Grauen der Mann durchlebte. Er hatte zu tief in die alpentstellte Fratze menschlicher Abgründe geschaut - in Abgründe, in die kein Licht der Natur mehr dringen konnte. Nun suchte er den Ort, an dem die Dämonen endlich von ihm lassen würden. Aber auch an diesem unergründlichen Platz erhabener Urkraft hatte sich alles gegen ihn verschworen. Er war ein Fremdkörper in einer fremden Welt, dazu verdammt, nirgendwo Geborgenheit zu finden, bis der Schatten seines Daseins getilgt war.

Grünauge blickte dem Elenden grüblerisch nach, wie er mit einem furchtbaren Schrei auf den Lippen zwischen den Bäumen verschwand. Wenig später kehrten die Stimmen des Waldes zurück und Grünauge schlief unter den nachdenklichen Murmeln einer tiefen Quelle ein.

 

Moi Inuluki,

und herzlich willkommen im Forum! :)

Obwohl es hier ein Anfang, Ende und zwei Protagonisten gibt, verschleiert die dramatisch-postviktorianische Sprache, daß es hier nur einen leichten Hauch an Handlung gibt. Eigentlich ist es mehr ein szenischer Eindruck, der vllt eine Notiz oder Teil einer KG oder eines Romans sein könnte. Extrem genug zum Löschen ist es nicht, aber es würde dem Text sehr gut tun, wenn Du ihn etwas ausbauen könntest - außer vielen tell not shows (etwas ist schrecklich, grauenhaft, gehetzt - und schon vorbei) und Genrestimmung wird nicht viel geboten. Das ist schade um das setting.

Ich wünsche noch viel Spaß hier beim Lesen, Schreiben und Kommentieren!

Viele Grüße,
Katla

 

Hallo Katla,

danke, dass du dir die Mühe gemacht hast, den Text durchzulesen, ihn zu kommentieren und noch nicht zu löschen. Ich stimme dir in allen Kritikpunkten zu. Der Versuch, besonders verdichtet zu schreiben, geht zu Lasten der Handlung. Ich mag es, mich in Sprache, Atmosphäre und Andeutungen zu ergehen, verstehe aber, dass solch eine "Kürzestgeschichte" seltsam unbestimmbar bleibt.

Wohlan, ich verbleibe mit Gnaden wohl beygethan! ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

Jo, ich find das ganz gut gemacht, sprachlich wird da ja ziemlich auf den Busch geklopft, ist - da hat Katla schon recht - viel Blendwerk dabei. Aber es ist schon ein ordentlicher Umgang mit Sprache zu erkennen, wie ich finde.

Was ich mich bei dieser Art von Perspektive immer frage ist: Wieso erzählt man aus der Sicht eines - ja, was ist das? - eines Daches oder anderen Tieres und benutzt dann aber die Gedanken- und Sprachwelt des Menschen. Das ist eine literarische Konvention, der ich wenig abgewinnen kann, und die mir - abstrakter gefasst - sauer aufstößt. Ich halte diesen "Egal, was für Wesen ich beschreibe, sie werden schon unsere Gedankenwelt haben"-Kniff für eine Mischung aus Faulheit und Volksverdummung. Anders gefragt: Wieso sollte ein Dachs an der Mimik eines Menschen abschätzen können, was für infernalen Schrecken er zu entfliehen sucht? Woher sollte der Dachs überhaupt davon wissen? Wenn ein Dachs denken könnte und ein Bewusstsein hätte, worüber würde er dann wohl nachdenken? Wo er was zu fressen herkriegt, wo er wen für den Nachwuchs auftreiben kann und wo er in Ruhe pennen kann, wahrscheinlich. Und einen durch die Gegend rennenden Menschen würde er mit etwas Unmut als nervtötende Störung empfinden.

Es ist eine der größten Stärken der Literatur - und es ist, das werden Puristen nicht gerne hören, gerade heute einer der großen Vorteile der Literatur gegenüber neueren Erzählmedien -, dass man die Möglichkeit hat, komplett die Perspektive eines anderen einzunehmen. Und wenn ich dann in einem Text schon die Möglichkeit habe, eine so ungewohnte Perspektive, wie die eines Tieres einzunehmen, dann ist es ein Betrug am Leser und an dem Medium, dort einfach eine Menschenperspektive vorzufinden, die so tut, als wär's ein Dachs.

 

Hallo Quinn, hab Dank für deine ehrliche Einschätzung.
Es war meine Absicht, den primordialen Charakter (Grünauge) so unbestimmt wie möglich zu lassen, so dass jeder seine eigene Interpretation finden möge. An ein Tier habe ich beim Schreiben nicht gedacht, eher an eine "Entität" (etwas platt formuliert "den Geist des Waldes"). Ich schrieb diesen Text, als ich besonders angeekelt von meiner urbanen Umgebung war. Aber wahrscheinlich ist das Gleichnis zu plakativ und moralisierend geraten...

 

Hallo Inuluki,

herzlich willkommen hier!

Ich schrieb diesen Text, als ich besonders angeekelt von meiner urbanen Umgebung war. Aber wahrscheinlich ist das Gleichnis zu plakativ und moralisierend geraten...
Wenn das dein Leitgedanke ist, dann hast du den nicht zu plakativ und moralisierend umgesetzt, sondern widersprüchlich.
Der Mann ist entsetzt von der Gesellschaft. Er fällt in einen Zustand der Entfremdung. Dazu passt folgende Aussage nicht:
Etwas Krankhaftes, zutiefst Abnormes ging von dem Ausgestoßenen aus.
Hier wird dein Bild, das du vermitteln möchtest, auf den Kopf gestellt. Denn er ist nicht ausgestoßen, sondern er empfindet die Gesellschaft als abstoßend.

Textarbeit:

Als Grünauge die Gestalt sah, in ihr schreckenserfülltes Antlitz blickte und den gehetzten Ausdruck des ewig Gejagten darin erkannte, überkam ihn eine tiefe Traurigkeit über die Welt da draußen. Auf diesem Mann lastete ein Fluch, das spürte er deutlich! Gejagt von den Nachtmahren der eigenen Existenz suchte er Zuflucht vor sich selbst, …
Zunächst wird aus der Außensicht erzählt. Der Mann rennt, macht einen gejagten Eindruck.
Dann, im gleichen Satz (!), schließt Grünauge daraus auf die Traurigkeit der Welt da draußen. Wie geht das? Der Mann kann sich ja auch im Wald verlaufen haben, und voller Panik den Heimweg suchen.
Um aus dem Verhalten näheres zu schließen, bedarf es zunächst der Innensicht. Die wird aber erst danach eingeleitet, mit dem Satz: Auf diesem Mann lastete ein Fluch, das spürte er deutlich! Leider ohne vorherigen Zeilenumbruch oder Absatz.
Umsortieren würde den Text verständlicher machen.

Original:
Die einzigen Geräusche rührten von einer auswärtigen Präsenz, die wie ein Pesthauch von sich kündete. Das Knacken splitternder Äste unter stampfenden Füßen war weithin hörbar. Laub wirbelte auf, Baumtriebe knickten, morsches Holz brach. Als Grünauge die Gestalt sah, in ihr schreckenserfülltes Antlitz blickte und den gehetzten Ausdruck des ewig Gejagten darin erkannte, überkam ihn eine tiefe Traurigkeit über die Welt da draußen. Auf diesem Mann lastete ein Fluch, das spürte er deutlich! Gejagt von den Nachtmahren der eigenen Existenz suchte er Zuflucht vor sich selbst, vor der Gesellschaft, die dies eitrige Geschwür der Selbstzerfleischung in ihn setzte. Etwas Krankhaftes, zutiefst Abnormes ging von dem Ausgestoßenen aus. Voller Panik stürzte er über Wurzel und Stein, richtete sich immer wieder auf und rannte wankend weiter. Er achtete kaum auf Äste und Zweige, die ihm entgegenpeitschten …

Neu sortiert:
Außensicht
Die einzigen Geräusche rührten von einer auswärtigen Präsenz.* Das Knacken splitternder Äste unter stampfenden Füßen war weithin hörbar. Laub wirbelte auf, Baumtriebe knickten, morsches Holz brach. Grünauge sah die Gestalt, ihr Schrecken erfülltes Antlitz und den gehetzten Ausdruck des ewig Gejagten darin.
Absatz und umschalten auf Innensicht.
Auf diesem Mann lastete ein Fluch, das spürte er deutlich! Gejagt von den Nachtmahren der eigenen Existenz suchte er Zuflucht vor sich selbst, vor der Gesellschaft, die dies eitrige Geschwür der Selbstzerfleischung in ihn setzte. Etwas Krankhaftes, zutiefst Abnormes ging in dem Mann vor.
Absatz und Außensicht.
Voller Panik stürzte er über Wurzel und Stein, richtete sich immer wieder auf und rannte wankend weiter. Er achtete kaum auf Äste und Zweige, die ihm entgegen peitschten […]
Absatz und Innensicht.
Da überkam ihn eine tiefe Traurigkeit über die Welt da draußen.

*… die wie ein Pesthauch von sich kündete. Hab ich mal rausgenommen, weil dieser Vergleich nicht zu dem Lärm passt, den der Mann verursacht.

Ob Grünauge eine Entität geologischen Alters ist oder ein besonderer Waldbewohner, zum Beispiel Dachs/Fuchs mit seherischen Fähigkeiten – das liegt deshalb nahe, weil diese Tiere keine grünen Augen haben –, spielt keine Rolle. Der Erzähler bedient sich nur dieser Figur, um ein kurzes Ereignis zu schildern und aus Sicht eines fiktiven, nichtmenschlichen Wesens zu beurteilen.

Gruß

Asterix

 

Hallo,

im Grunde fand ich die Geschichte vom erzählen her super. Aber mir fehlte es doch an Handlung. Einen Anflug gruseliger Stimmung hatte es meines Erachtens schon, allerdings fehlte es mir an der Weiterführung dessen. Denn im grunde ist ja nich wirklich viel passiert, außer das da jemand Panisch durch einen Wald läuft.

Aber ich finde es gut das es nicht so eine konfentionelle horrorgeschichte ist. :)

gruß

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Inuluki.
Große umfangreiche Handlung war wahrlich nicht zu erkennen, aber es war einfach ein schönes Empfinden, das ich beim Lesen verpürte. Die Sätze flossen eines kleinen Baches gleich durch mein Innerstes. Und das war schön.
Habe mir unter Grünauge nichts Besonderes vorgestellt, habe ihn/es einfach hingenommen, seine Betrachtung genossen.
Natürlich muss ich Quinn uneingeschränkt zustimmen was das Anwenden der menschlichen Sprache/Gedanken auf etwas Nichtmenschliches anbelangt. Sowas kann ich im engeren Sinne nicht ernst nehmen.
Aber wie gesagt, ich habe mich auf deine tolle Sprache eingelassen und das Lesen deines Textes keinesfalls bereut. Hut ab und weiter so.

Gruß! Salem

 
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Takk Salem. Es freut mich, dass mein Text zumindest sprachlich dein Wohlgefallen findet. Ich verstehe deine Kritik bezüglich der Anwendung menschlicher Empfindungen und Sprache bei einem nichtmenschlichem Wesen, aber kann mir im Falle dieser "Geschichte" auch nicht vorstellen, inwieweit der primordiale Charakter nicht-menschlich denken sollte. Eine Begründung für die Empathie Grünauges habe ich an dieser Stelle versucht darzulegen: "...konnte [...] mit den Augen des Fremden sehen, konnte mit seinen Sinnen fühlen...".
Die Grundfrage, inwieweit Empfindungen geteilen werden können, erinnert mich an eine Diskussion über Ästhetik, in der untersucht wurde, ob das Schöne und Hässliche universellen Vorstellungen unterliegen.

Asterix, ich werde über deine Vorschläge mal länger nachgrübeln müssen, denke aber, dass sie durchaus berechtigt sind. Danke für deine ausführliche Kritik!

Skymountain, konventionelle Horrorgeschichten versuche ich zu umgehen, da es schon im Leben genügend Schrecken gibt, als dass es dazu noch handfeste Bedrohungen und Tote bräuchte.

 

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