Entflogen
Entflogen
Sie betrachtete den Luftballon noch einmal ganz genau, um kein Detail zu übersehen. Seine vielen Farben: Das helle Grün, das bestechende Rot des Klatschmohns. Sie schaute fast bewundernd diesen einfachen Luftballon an. Sanft glitt ihr Hand über seine zarte Gestalt.
Wieder ein Windhauch. Sie ergriff die Schnur etwas fester. Wollte diese vorherbestimmte Zukunft ihres Schatzes noch nicht Wirklichkeit werden lassen. Sie wollte sich noch für einen Moment an ihm ergötzen, sich an ihm erfreuen.
Sie hatte ihn gefunden. Zufällig oder durch das Schicksal geplant, das war ihr egal. Vielleicht hatte auch er sie gefunden. Die Hauptsache war doch, das sie sich gefunden hatten, egal wann und wo.
Als sie ihn fand, war er bis zum Platzen gefüllt. Er barg eine gewisse Spannung, Überraschung. Neugierig hatte sie sich ihm genähert, ihn bestaunt.
Gerade in einem Moment der totalen Zufriedenheit, wo sie sprichwörtlich gar nichts mehr benötigte zum Glücklichsein, einfach nur eins war mit ihrer Welt, flog er an ihr vorbei.
Er wirbelte wie von Zauberhand oder einer übersinnlichen Macht geleitet an ihr vorüber, machte kehrt und legte eine Rast in seinem Flug durch die Welt ein. Nicht irgendwo, sondern genau bei ihr.
Ein weiterer Windhauch. Sie musste ihn mit beiden Händen festhalten, damit er ihr nicht entschwand.
Er hatte alles noch verschönert. Seine bunte Fröhlichkeit und die natürliche Leichtigkeit seines Seins - die sie, die selbst so verankert war in ihren Gedanken, sosehr bewunderte - hatten wie ein rosaroter Schleier, wie ein zusätzlicher Sonnenstrahl, über ihre kleine Welt gelegen.
Der Wind wurde stärker und er wiegte sich in ihm, schien ihr immer mehr zu entfliehen.
Natürlich, seine Farben hatten an Leuchtkraft und Intensität verloren; auch war ihm schon etwas Luft entwichen. Aber sie hatte die Zeit mit ihm so genossen.
Bedrohlich passte er sich immer mehr dem Wind an. Sie konnte ihn doch noch nicht gehen, fliegen lassen. Die Zeit konnte noch nicht verstrichen sein. Nun hielt sie ihn krampfhaft fest, innerlich aber den kommenden Verlust bewusst.
Und dann entschwand er ihr. Machte sich auf seinen Weg, nahm seine neue Route. Traurig blickte sie ihm nach, versuchte nicht zu weinen, nicht zu verzweifeln.
Denn sie wusste doch, das dies die Funktion des Luftballons war: Glück für einen Moment.