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Engelstränen
Nur der schwache Mondschein erhellt uns, umgibt uns. Kalt und emotionslos. Stumm und leicht zitternd steht sie mit dem Rücken gewandt zu mir. Nur eine leichte Seidenhose verhüllt ihre Beine, ihr Oberkörper ist nackt. Ihre Haut funkelt bleich im Mondlicht, ihre Flügel hängen leblos an ihrem Rücken herunter. Die letzte Beschützerin der Menschheit steht nun, wie viele ihrer Artgenossen zuvor, am Abgrund, blickt in die Tiefe und erkennt mit Schrecken die gleiche bösartige, schwarze Schlucht wieder, die den meisten Menschen innewohnt.
Sie können uns lesen, in unser Herz blicken. Sehen, was wir uns wünschen, was wir träumen. Und genau das wurde ihnen zum Verhängnis. Ihre Rasse war einst gross und stark und bereit, für jeden Mensch und dessen Reinheit der Seele zu kämpfen, auf dass nie ein Mensch leiden muss. Doch Dunkelheit verbreitete sich schleichend. Ein Tropfen Wahnsinn, ein Tropfen Habgier und ein Tropfen Wut. Verderben schlich durch die menschlichen Reihen und auch durch ihre Beschützer, denn kopierten sie ihre Stimmung und veränderten sich mit ihnen, erkrankten mit ihnen. Und starben mit ihnen. Doch bis vor kurzem gab es noch Hoffnung, denn sie hatte überlebt. Sie war noch nicht krank. Und so tat sie, was sie am Besten konnte. Sie half. Sie versuchte zu ändern, zu verhindern, zu bekämpfen. Doch wurde auch ihr helles Feuer des Guten unterdrückt von den dunklen Steinen böser Gedanken. Sie war eine Kerze im Orkan. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie erlöschen würde. Und nun ist es soweit.
Sie spürt meine Gedanken. Liest in mir wie in einem Buch. Wie üblich. Sie dreht sich langsam zu mir um. Ihre azurblauen Augen treffen die Meinen mit einem scheinbar gleichgültigen Blick. „Sarah!“ Mehr als ein Flüstern bringe ich nicht heraus. Ihr Körper erbebt kurz, leuchtet auf. Aus ihrem Auge läuft ein kleiner Blutstrom über ihre Wange zu ihrem Kinn. Engelstränen. Heilen jede Krankheit, ausser jene, die Sie befallen hat. Dem Aufgeben. Ihre Gedanken hüllen mich noch ein letztes Mal ein, betören mich, wie in den ersten Tagen, als wir uns kennen lernten, weit entfernt von dieser Brücke, auf der wir nun stehen. Sie sieht mir ein letztes Mal in die Augen, bevor sie sich fallen lässt und nach unten segelt. Ihr Kopf verschwindet langsam hinter der Brüstung. Ihre Augen entlassen mich aus meiner inneren Zelle. Ich haste nach vorne, in der irrsinnigen Hoffnung sie noch retten zu können. Doch natürlich gelingt es mir nicht. Auch ihre Beine verschwinden aus meinen Blickfeld, einzig ein paar kleine, schneeweisse Federn, schweben noch in der Luft, erhellt vom selben schwachen Mondlicht, das sich nun auch in meinen Tränen spiegelt. Ich sinke zu Boden, gelähmt von dem soeben Geschehenen. Nicht fähig zu denken, zu begreifen. Ich weine. Kleine Schneeflocken fallen auf meine Schultern, schmelzen und rinnen meinen Oberkörper hinunter.
Als mich ein einsamer Wanderer am nächsten Tag entdeckt, knie ich immer noch dort, an der Stelle, an der sie von mir gegangen war. Mein Körper ist völlig zugefroren, mein Herz hat schon lange aufgehört zu schlagen. Der Wanderer erzählte später der Polizei, er hätte schwören können, dass er blutige Tränen gesehen hätte, die aus meinen Augen quollen.