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Engelsbotschaft
Landschaften flogen am Busfenster vorbei, Bäume und Wiesen, weiße Flachbauten und kleine Ziegelhäuschen traten kurz aus dem Nebel hervor, um sogleich wieder von ihm verschluckt zu werden.
„Hoffentlich wird da oben das Wetter besser“, murmelte Katharina leise und fragte sich wieder einmal, ob die Reise eine gute Idee war. „Weihnacht auf der Insel“. Auf jeden Fall war es gut gemeint gewesen von ihren Söhnen, als die beiden sie mit der Anmeldung überrascht hatten. „Damit du nicht so einsam bist“, hatte David ihr gemailt. Sie betrachtete die silbergrauen und strahlendweißen Schöpfe, die über die Lehnen der anderen Sitze ragten und strich sich dezent über ihren schwarzgefärbten Pagenkopf. Welche Leute fuhren im Winter schon zur See? Sie fühlte sich einsamer als zuvor.
Katharina stellte sich ihre Söhne vor: David bei seinem Auslandsstipendium in Amerika, Marten mit seiner Freundin im Schweizer Skiurlaub. Wirklich erwachsen, nicht wie damals, beim ersten Mal auf der Insel. Da waren sie drei und fünf Jahre alt gewesen, im Kindergarten, und sie selbst gerade Witwe geworden. Ihr ganzes Leben war nur Wochen vorher explodiert und sie, um ihre Liebe und Hoffnung betrogen, hatte jede Faser dafür aufwenden müssen, weiter zu existieren und ihre Kinder durchzubringen. Wie ein Wunder war ihr da die Mutter-Kind-Kur im „Haus am Meer“ erschienen: sich an einen freundlich gedeckten Tisch zu setzen, ohne planen, einkaufen, kochen zu müssen, gemeinsam mit ihren Kindern und anderen Menschen zu essen und nachher noch mit Erwachsenen sprechen zu können, hatte sie stabilisiert. Dazu die kinderfreien Zeiten, in denen ihre Sprösslinge sich mit Basteln, Flötenspielen oder beim Buddeln im Sand austoben konnten, und ihre eigenen Spaziergänge oder einfach der Blick auf Meer und Wellen hatten ihr geholfen, ihre Kräfte wieder zu erlangen.
Der Bus hielt an, und sie griff nach Handtasche und Proviantbeutel und schritt mit den anderen hinüber zur Fähre. Gemeinsam gingen sie an Bord, und Katharina versuchte, den Anschluss nicht zu verlieren. Alle Gesichter der Gruppe waren ihr unbekannt, unterschieden sich nicht von anderen Reisenden. Wie sollte sie sich merken, zu wem sie gehörte? Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster und versuchte, dem Gespräch der anderen zu folgen.
„ Das ist jetzt mein einundzwanzigstes Mal an der Nordsee“, sagte die Frau mit dem blauen Kleid und sammelte bewundernde Blicke und „Oh“-Laute ein.
„Ich war vor vier Jahren mit meinem Mann hier“, erzählte eine Dame mit einem roten Pelzimitat, „doch vor zwei Jahren ist mein Mann gestorben“.
„Meiner ist jetzt zwei Jahre und acht Monate tot“, pflichtete ihr eine andere bei.
Wo bin ich denn hier gelandet, fragte sich Katharina und fühlte sich unwohl.
„Ich bin seit elf Jahren Witwe“, versuchte das blaue Kleid wieder ins Gespräch zu kommen, mit triumphierendem Unterton.
„Und ich seit dreiundzwanzig Jahren“, hörte Katharina sich plötzlich sagen und war erstaunt über ihre eigene Stimme. Die Frau ihr gegenüber atmete schnappend ein und zog ihre strichförmig aufgemalten Augenbrauen zusammen.
„Das kann ja nur eine kurze Ehe gewesen sein“, sagte sie gedehnt, „nicht wie meine siebenunddreißig Jahre.“
In das betretene Schweigen hinein stand Katharina auf und stieg die Stufen zum Deck hinauf. Ein kalter Wind schlug ihr entgegen, feucht von Regen und aufgestiegener Gischt. Sie knöpfte hastig ihren Mantel zu und schlang sich das Tuch um Kopf und Hals. „Was wissen die denn schon?“, entfuhr es ihr, und sie war erstaunt über ihre eigene Bitterkeit. Seit mehr als zwanzig Jahren hatte sie sich ein neues Leben aufgebaut, den Beruf gewechselt, ihre Söhne durch Kindheit und Jugend begleitet und sich glücklich geschätzt. Was war nur los mit ihr?
Das Schiff drehte einen Bogen, und in der Ferne kam die Insel in Sicht. Wie oft hatte sie davon geträumt, von dieser Anfahrt, dieser ersten Aussicht, bei der die Häuser und der Leuchtturm sich langsam abzeichneten? Wie hatte sie sich nach der Sprache des Meeres gesehnt, nach dem Gefühl, anzukommen?
„Hier bin ich wieder“, flüsterte sie in den Wind. Wie eine Antwort schrie eine Möwe schräg über ihr, eifrig bemüht, gegen den Wind mit dem Schiff mitzuhalten.
Die Fähre schwankte plötzlich auf und ab, und, um nicht zu fallen, krallte Katharina die Hände um die Reling. Das Brausen der Wellen mischte sich mit dem heulendem Wind, und sie ließ sich von dem Schiff führen, schwang mit der Bewegung mit wie ein Baum in der Böe. In ihrem Magen breitete sich ein merkwürdiges Gefühl aus, unbekannt, doch überraschenderweise nicht unangenehm. Allmählich glitt das Schiff wieder ruhiger durch die Fahrrinne, und Katharina kehrte in den Salon zurück, um sich mit den anderen aufzustellen und später an Land zu gehen.
Sie wurden mit einem Sonderbus zum Haus gefahren, wo ihre Koffer schon auf sie warteten. Noch vor der Besichtigung der Zimmer und dem Auspacken wurden sie zum Kaffeetrinken geladen, und so saß sie bald mit anderen an einem Tisch am Fenster. Während sie sich mit Kuchen und duftendem Kaffee stärkte, blickte sie hinaus über die Wellen jenseits der Promenade, die wieder und wieder an den Strand gespült wurden.
„Wie liebevoll das hier gedeckt ist“, sagte die Frau, die ihren Pelz abgelegt hatte, „da fühlt man sich doch gleich willkommen.“
Auch Katharinas Blicke streiften jetzt über die Kerzen und Tannenzweige auf dem Tisch zu den Kärtchen, auf denen neben dem Namen für jeden ein kleiner Engel aufgemalt war. Ihr Engel stand vor einem abfahrenden Bus und hatte Ähnlichkeit mit der Orakelkarte, die sie vor der Abreise bei ihrer Freundin gezogen hatte. Was war das noch gewesen? Release? Sie hatten die Bedeutungen nachgeschlagen: Entbindung, Befreiung, Erlösung ...
Wenig später stürmte sie hinaus, am Haus entlang, über die Promenade bis zur nächsten steinernen Buhne, an der sie hinunterklettern konnte zum Strand, und mit eiligen Schritten weiter durch den Sand, über eine Halde von angeschwemmten Muscheln und vereinzelten, vom Meer eingegrabenen Steinen und durch vom Wind zerpflückte Gischtgebilde bis hin zum Wasser.
„Und jetzt?“, schrie sie gegen den Wind an und ging noch einen Schritt weiter auf den Saum des Wassers zu, horchte auf eine Antwort, den Kopf ein wenig schief gelegt. „Ich bin den Weg gegangen, die ganzen langen Jahre hindurch“, setzte sie wieder an. „Sie sind erwachsen, und was mache ich jetzt?“ Das Wasser umspülte ihre Stiefel, unter denen in kleinen Kuhlen der Sand wegsackte. „Umkehren“, sagte eine leise Stimme in ihr, „einen neuen Weg suchen, ein neues Leben führen.“ Wieder schwappte eine Welle über ihren Stiefel, höher diesmal, so dass sie unwillkürlich zurücksprang. Sie lachte. Weihnacht auf der Insel, das war neu. Und danach? Das würde sich schon zeigen. Sie atmete tief durch, um sich dann auf den Weg zu machen.