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Engeline
Engeline
Als die kleine Jana tief in der Nacht die Augen aufschlug, blickte sie ganz plötzlich direkt in ein helles Licht. Komisch, sie hatte sich doch gerade erst ins Bett gelegt, das konnte doch noch nicht die Morgensonne sein, die da in ihr Zimmer blinzelte? Oder hatte sie vor dem Einschlafen etwa ihre Nachttischleuchte angelassen? Nein, das wusste sie ganz genau!
Durch ihre Wimpern blinzelte Jana hoch und sah ein Mädchen an ihrem Bett sitzen, das in so etwas wie ein langes weißes Nachthemd gehüllt war. Verwundert bemerkte Jana, dass das Licht irgendwie aus ihm herauskam, so als sei das Mädchen eine Lampe! Jana setzte sich auf und rieb die Augen, Angst hatte sie eigentlich keine, die Gestalt lächelte sie an. Gespenster lächelten doch nicht, oder?
"Bist du ein Geist? Oder ein Spuk? Normale Menschen leuchten doch nicht von innen!", fragte Jana neugierig. Die Gestalt schüttelte den Kopf, so dass golden strahlende Locken um ihren Kopf flogen wie Lametta am Weihnachtsbaum. "Naja,", meinte die leuchtende Unbekannte. "Ein Mensch bin ich natürlich nicht, da hast du Recht. Aber ein Gespenst auch nicht. Keine Angst. Ich bin eine Art vom Himmel beauftragte Aufpasserin für dich, ich bin dein Schutzengel! Mein Name ist Engeline."
Jana war verblüfft: "Kommen denn alle Schutzengel ihre Kinder mal besuchen? Niemand von meinen Freunden hat mir je erzählt ..." – "Wir Schutzengel können uns leider nur ganz selten zeigen, die Menschen würden sonst vielleicht zu sorglos", sagte Engeline und schüttelte den Kopf. Leuchtende Funken lösten sich dabei aus ihren Lametta-Haaren, schwebten knisternd zur Zimmerdecke und blinkten dort wie Sterne kurz auf, bevor sie erloschen. Jana schaute ihnen fasziniert hinterher und Engeline musste sie anstupsen, damit sie ihr weiter zuhörte.
"Dass ich dich heute Abend besuche, hat einen besonderen Grund: Wegen dir muss ich unendlich viele Überstunden machen und bin völlig überlastet!" – "Echt?", fragte Jana interessiert. "Echt!", nickte Engeline nachdrücklich und fuhr fort: "Allein nur mal gestern: Hinter deinen Freunden her wolltest du über die Ampel rennen, aber die war schon rot, erinnerst du dich? Wenn ich dich nicht im letzten Moment am Kragen gepackt hätte, wärst du vor das nächste Auto gelaufen!"
Jana überlegte kurz und nickte, richtig, sie hatte dort an der Ampel tatsächlich so ein merkwürdiges Ziehen im Nacken gespürt und war doch lieber stehengeblieben. "Und so geht das bei dir in einer Tour", fuhr der Engel fort. "Wenn ich nicht gewesen wäre, wärst du ...", Engeline blickte auf einen golden schimmernden Notizblock nieder, "... genau 17 Mal vom Baum gefallen, 4 Mal überfahren und zwei Mal sogar fast entführt worden! Du solltest nie wieder so leichtsinnig sein und so nah an ein fremdes Auto herangehen. Man kann auch rufen, wenn man jemandem den Weg oder eine Adresse erklären will! Wie soll denn das nur weitergehen mit dir, ich kann doch nicht überall gleichzeitig sein, ich bin schließlich auch nur ein einfacher Engel!"
Jana war platt. Einige Minuten dachte sie still über Engelines Worte nach. Ihr Schutzengel hatte völlig Recht: Oft schon war es ihr passiert, dass sie sich erst nachher Gedanken gemacht hatte, ob jetzt zum Beispiel ein Auto hätte kommen können, wenn sie auf der anderen Straßenseite angekommen war. Und der Mann, der sie letztens nach einer bestimmten Straße im Dorf gefragt hatte, hätte sie wirklich ins Auto zerren können, schließlich hatte sie sich beim Erklären des Wegs sogar tief in die offene Beifahrertür gebückt. Glücklicherweise war ihr nichts passiert, aber möglicherweise hatte sie das ja alles nur "ihrer" Engeline zu verdanken!
Reumütig versprach Jana ihrer Engeline Besserung, während diese sich verabschiedete, vor Janas Augen durchsichtig wie Nebel wurde und schließlich verschwand. Nur ein paar Leuchtfünkchen schwebten noch eine Weile im Kinderzimmer herum, bis auch sie verblassten. Nachdenklich lag Jana noch lange wach und als sie schließlich einschlafen konnte, träumte sie von den vielen Gefahren, die manchmal Menschen und insbesondere Kinder bedrohen konnten, aber auch von den Engeln, die Tag für Tag ihr Bestes gaben, um sie zu beschützen.
Am nächsten Morgen war Jana sich nicht mehr ganz sicher, ob die Engel-Begegnung vielleicht doch nur ein Traum gewesen war. Aber ob Traum oder nicht, sie nahm sich fest vor, von nun an vor allen schnellen Entschlüssen immer wenigstens ganz kurz an die gestresste Engeline zu denken ...