Engel
Meine liebste Freundin! Du hast mich sehr enttäuscht, nein besser, deine Entscheidung hat mich sehr enttäuscht. So soll ich dich also nie zu Gesicht bekommen, obwohl ich nie einen größeren Wunsch hatte? Ist es für dich so unwichtig, dem Menschen gegenüber zu stehen, der dir näher ist, als dir je ein Mensch war und sein wird? Befreie dich doch von deinen Ängsten und Zweifeln. Es kann nichts passieren. Wir werden uns sehen und endlich wissen, welcher Mensch so wundervolle Worte an den anderen richten kann. Überlege es dir und erfülle mir diesen Wunsch. Gönne mir den letzten Rest dieses Glückes, das ich seit Monaten nicht fassen kann. Es grüßt dich in Liebe, dein Cherub.
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Liebster Cherub! Wie gut du mich doch kennst. Du weißt, dass ich dir diese Bitte, trotz aller Bedenken, nicht abschlagen kann. Dann soll es so sein. Nenne mir Ort und Zeitpunkt und gib mir genügend Zeit, zu planen. Also werden wir uns bald sehen. Ich hoffe so sehr, dass wir uns nicht enttäuschen werden. In Liebe, Seraph.
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Seine Hände würde sie nie vergessen, schmal, mit schlanken Fingern und doch so kraftvoll. Das Funkeln seiner dunklen Augen ließ sie zwischen Faszination und Angst schwanken. Seine heisere Stimme, die immer und immer wieder, „ich liebe dich, nur dich, mein Engel“, flüsterte, trug sie, leiser und leiser werdend, davon.
Sie wollte ihn nie sehen, wollte den Zauber nicht zerstören, der sie beide vom ersten Tag an umgab.
Dieser erste Tag, ein Irrläufer auf ihrer Mailbox. Cherub schrieb an Seraph. Ein kleiner Tippfehler in der Mailadresse. So begegneten sie sich.
Sie schrieben sich, stellten schnell fest, dass ihre Sprache eine war. Und sie hatten eine gemeinsame Leidenschaft, sie waren fasziniert von der fremden Welt der Engel. Wesen, die es nicht wirklich gab und die doch überall anzutreffen waren. Altäre waren geschmückt mit ihnen, es gab Bücher über sie, es wurden Gedichte über sie geschrieben, die Menschen sangen Lieder von Engeln.
Am Anfang schrieben sie sich zwei bis drei Mails pro Woche, dann wurden es mehr und mehr. Nach zwei Monaten wussten sie beinahe alles voneinander, alles, was wichtig zu sein schien. Sie liebten sich auf eine unwirkliche und ferne Weise und dieses Gefühl war größer als alles, was sie je zuvor erlebt hatten.
Nie hatte sie einen solchen Mann kennen gelernt. Die Tiefe seiner Gefühle, seine Wärme, ließen in ihr eine unwirkliche und nie gekannte Sehnsucht aufkommen. Kein Mann vor ihm hatte sie so tief berührt. Doch sie wollte ihn nie sehen, wollte diesen Traum nicht zerstören, der sie mit ihm verband, der ihrem Leben wieder Sinn gab. Diesen Sinn hatte sie längst verloren geglaubt.
Auch Cherub war nie einer Frau begegnet, die ihr nur andeutungsweise nahe kam. Alleine ihre Worte ließen ihre Weichheit und Zärtlichkeit erahnen. Sie war nicht von dieser Oberflächlichkeit, die sich mehr und mehr breit gemacht hatte und ihn fast zum Wahnsinn trieb. Er musste sie sehen, sie berühren, dieses Geschöpf, das nur aus der Ewigkeit seiner Träume stammen konnte und nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte.
„Schweig, mein Engel“, sagte er, als sie sich zum ersten Mal gegenüber standen, „lass uns durch den frischen Schnee gehen, Hand in Hand.“
Sie schwieg, es fröstelte sie bei seinem Anblick und trotzdem konnte sie sich seinem Bann nicht entziehen. Er strahlte etwas aus, das sie nicht fassen, sich nicht erklären konnte. Es machte ihr Angst und zog sie trotzdem an, wie ein Magnet.
Er war ein Stück mit ihr gefahren, sie hatten die Stadt hinter sich gelassen. Jetzt war es still um sie, hier konnten sie nicht abgelenkt werden von Dingen, die nichts mir ihren Gefühlen zu tun hatten.
Sie schwiegen, schauten sich nur selten an, während sie durch den noch unberührten Schnee des Waldweges gingen. Ihre Schritte wurden vom Schnee geschluckt, so als wären sie nicht vorhanden, als würden nur ihre Gedanken miteinander spazieren gehen. Es gab nichts mehr zu reden, sie ahnte es, er wusste es.
Es war nur ein kleines Erschrecken, als er sie zu sich zog und ihr immer wieder den einen Satz ins Ohr flüsterte: „Ich liebe dich für die Ewigkeit, nur dich, mein Engel.“
Seine Gedanken und sein Handeln waren ihr nicht fremd und als er seine Hände um ihren Hals legte, schien es ihr fast selbstverständlich zu sein. Ihre Gegenwehr war gering, als sich seine Hände fester und fester schlossen.
Als er ihren Körper in den Schnee legte, konnte sie seine Worte nicht mehr hören.
„Ich hoffe, dir gefällt, was ich für dich geschrieben habe, vor so langer Zeit. Fast hätte ich aufgegeben, dich zu suchen, doch dann warst du plötzlich da.“
Er kniete sich neben sie in den Schnee und flüsterte:
Engel meines Lebens, Traum aus einer anderen Welt
Engel meiner Sehnsucht, der mein Herz gefangen hält
Engel meiner Träume, ich habe mich in dir verirrt
Engel meiner kalten Nacht, Liebe, die dich töten wird.