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Engel

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05.07.2010
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Engel

Es war viel zu früh als sie den Schulbus betrat. Obwohl sie sich geschworen hatte dieses Schuljahr nicht mehr zu schwänzen hat sie heute irgendetwas dazu bewegt, es die letzten beiden Stunden trotzdem zu tun. Mit ihren Noten stand es schlecht und einen weiteren Anruf zu Hause konnte sie sich nicht erlauben, der in jedem Fall kommen würde, würde sie noch einmal früher wegfahren. Als die 15-jährige ihre Münzen auf die Geldablage legte, warf ihr nicht nur der Busfahrer befremdende, paradoxe Blicke zu, auch alle Passagiere schienen sie zu beobachten. So schnell wie es ihr möglich war und ohne dabei zu desorientiert auszusehen, suchte sie sich den nächstbesten Sitzplatz neben einer alten Dame. Dieser Sitzplatz befand sich direkt neben der Tür, in der Mitte des Busses, welche immer wenn sie sich öffnete an das Fensterglas stieß, vor dem die junge Schülerin saß. Das Mädchen fühlte sich immer noch beobachtet. Selbst die alte Frau neben ihr warf ihr Blicke zu, die sie nicht unterordnen konnte.
Nirgendwo konnte sie mehr hinsehen, ohne das Gefühl vermittelt zu bekommen, die Leute würden sie, auch wenn nur unauffällig, beobachten. Das Mädchen starrte zu Boden, woanders konnte sie nicht hingucken und versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Sie musste jetzt über etwas anderes nachdenken und natürlich kam das dabei heraus, woran sie am ungernsten dachte. Ihre Zukunft. Ihre Mutter würde bald geschieden sein und ihre Schwester würde bald ausziehen. Dann war sie auf sich allein gestellt, mit ihrer Mutter zusammen, der sie irgendwie aus dem Weg gehen musste. Ihre Mutter wollte, dass aus ihr etwas wurde, nicht so wie sie, eine einfache Hausfrau, mit nichts in der Hand. Muter trieb immer voran, doch sie selber wusste nichts davon, wie es war immer alles geben zu müssen. Sie versuchte noch nicht einmal ihr Kind zu verstehen. In letzter Zeit war Mutter besonders schlimm, bald würden die Scheidungspapiere unterschrieben sein und sie waren alleine. Ihren Frust ließ sie an ihrem einen Kind aus, der 15-jährigen Mae, da ihr anderes so gut wie nie zu Hause war, so wenig, dass es dementsprechend wenig Ärger kriegte, wenn es zu lange wegblieb. Mae beneidete ihre Schwester, aber wenn sie erst mal 18 sein würde, würde sie verschwinden, weit weg. Und nun bereute sie es, in den Bus gestiegen zu sein, denn wenn sie so an ihre Mutter dachte, war dies, ein Streit, so schmerzhaft und laut wie jeder andere, eigentlich nicht wert.
Worauf genau sie hinarbeitete wusste sie auch nicht genau. Sie hatte schon lange keinen festen Berufswunsch . Natürlich als sie ein Kind war wollte sie tausend Dinge werden, wie jeder in ihrem Alter. Als das mit dem Barbie spielen anfing, wollte man Prinzessin werden und als Britney Spears berühmt wurde, wollten alle Sängerin werden. Mit dem Alter erkennt man wie das Leben wirklich ist und das Leben hat einen nicht mit allen Gaben auf der Welt ausgestattet. Wahrhaftig hatte das Leben sie nicht mit glänzender Schönheit beschenkt und auch nicht mit einem glänzendem Charakter. Das Leben hat sie auch nicht mit einer übergroßen Intelligenz ausgestattet und auch nicht mit der perfekten Figur.
Im Grunde war sie langweilig und hatte wenig Stärken, so fand sie, auch wenn ihre Freunde etwas anderes sagten, doch auf diese hörte sie schon lange nicht mehr. Denn wer so eine Unreife hatte und eine solch oberflächliche Meinung vertritt, auf den konnte man nicht mehr zählen. Sie könnte sagen, ihre „Freunde“ wären nur Ablenkung auf dem Weg zum Ziel. Doch sie kannte ihr Ziel nicht, kannte es eigentlich noch nie. Orientierungslos auf der Suche nach einer Herausforderung, verirrt wie ein Eisbär in der Wüste.
Mitten in ihren Gedanken klatschte plötzlich die Tür gegen das Glas vor dem Mädchen. Sie schreckte auf. Der Bus wurde zur geöffneten Seite gesenkt und eine Frau mit Kopftuch schob angestrengt ihren Kinderwagen den Bus hinein. Sie stellte den Wagen in der Ecke für Kinderwagen und Rollstühle ab und marschierte nach vorne, um die Busfahrt zu bezahlen. Von der Mutter sah Mae nicht besonders viel, doch was sie sah war, dass sie keine sehr junge Mutter war. Sie schätzte sie auf Ende 30. Die Mutter machte einen sehr bedrückten Eindruck, doch so wie sie südländische Familien kannte, hatten es die Frauen dort nie besonders leicht. Wenn man so Geschichten hörte machte es einen traurig, besonders wie die Frauen in solchen Familien behandelt wurden. Die Männer arbeiteten, das reichte und selbst wenn sie zu Hause waren, mussten sich die Frauen neben den Kindern um den Haushalt, einkaufen und kochen kümmern, ohne nur ein negatives Wort darüber verlieren zu dürfen. Natürlich gab es Ausnahmen, davon war sie überzeugt, doch alleine von manchen ihren Klassenkameradinnen, die auch aus südländischen Familien stammten, wusste sie, dass die meisten Familien noch sehr kulturell waren.
Mae wurde neugierig und spähte zu dem gerade mal 1-meter von ihr entfernten Kinderwagen. Im Inneren des Wagen starrten sie zwei große, runde Augen eines Jungen mit einer schönen Bräune und großer Lockenpracht an. Mae kannte sich nicht sonderlich gut mit Kindern aus, ja eigentlich mochte sie keine Kinder und wenn sie ehrlich war wollte sie später auch keins haben. Doch der Lockenkopf, der vor ihr im Kinderwagen saß, faszinierte sie ungemein und sie konnte nicht aufhören ihn anzustarren. Er war geschätzte 1 Jahr alt. Doch mit dem Alter von Kindern kannte sie sich ebenfalls nicht aus. Vielleicht war er noch ein Baby oder vielleicht war er schon älter. Doch die Gedanken verblassten, da Maes Blick voll und ganz in seinen Augen gefesselt war. Große, haselnuss-braune Augen mit den vollsten Wimpern, die sie je gesehen hat. Sein schöner, unschuldiger Blick bohrte sich tief in ihren, als würde er etwas von ihr wollen. Sie suchte in seinen Augen etwas, was darauf hinweisen lassen konnte, was genau er verlangte. Doch Lockenkopfs Mutter kam zurück zum Kinderwagen und hielt Mae davon ab weiter zu suchen. Sie wendete den Blick ab, wurde jedoch wieder gefangen, als sie sah, dass die Mutter sich einen Sitzplatz, etwas weiter entfernt von ihrem Kind gesucht hatte, weil ihr das Durchschütteln, des Busses im Stehen nicht gut bekam. Zwei Stationen weiter hielt der Bus auf einer komplizierten, sehr befahrenen Straße auf der es zuging wie auf der Autobahn, nur mit Kreiseln, Einbahnstraßen, Bushaltestellen und vielen Gebäuden am Rande.
Die Menschen stiegen ein und der Bus setzte sich wieder in Bewegung, doch nicht für lange, denn eine junge Frau kam herbeigeeilt, einen Rollstuhl vor sich herschiebend. Der Busfahrer zeigte Mitleid, öffnete die Hintertüren und senkte den Bus zur Seite, damit die Frau den Rollstuhl hineinschieben konnte. Als sie das getan hatte schob sie den Rollstuhl in eine andere Ecke und war beschäftigt damit den Rollstuhl zu sichern.
Sie sicherte den Rollstuhl.
Und ganz plötzlich schnappte Mae nach Luft, denn genau das geschah, was keinem Kind und keiner Mutter passieren sollte. Denn einen Kinderwagen zu sichern war genau so aufwändig wie ein Rollstuhl, wäre der Wagen gesichert worden, hätte sie es in ihrer lauernden Aufmerksamkeit, die sie dem Kinderwagen und dem Inhalt geschenkt hatte gemerkt.
Und als Mae merkte wie der Kinderwagen direkt vor ihr vorbeirollte stockte ihr Herz und Atem. Wäre die Scheibe nicht gewesen, die sie von ihrem Lockenkopf trennte, hätte sie einfach nach dem Wagen greifen können. Sie schloss die Augen und ihr war klar, das es keine Zeit für Zählen gab. Sie sah den Wagen gerade den Bus verlassen, da krallte sie sich an die Stange neben ihr, zog sich mit Schwung hoch, nutzte den Vorteil der nach unten gerichteten Rampe um Geschwindigkeit zu kriegen und lief, als würde es um ihr eigenes Leben gehen. Das erste Auto musste 10 Zentimeter vor ihr stoppen und es gab ein großes Gehupte. Das Mädchen blendete ihre komplette Umgebung aus. Hätte sie auf jedes Auto geachtet das kurz davor war sie zu überfahren, hätte sie ihr Ziel schnell aus den Augen verloren. Doch jetzt vernahm sie jeden Schrei und jedes Hupen nur als das lästige Ticken einer Uhr und jedes Auto und jede Person als gesichtslose, schwarze Gestalten.
Die Straße führte bergab und sie verfluchte die Erde dafür, dass sie diese Straße so schief geschaffen hat. Sie war nie besonders sportlich gewesen doch nun hatte sie ein Ziel und bot alle ihr zu Verfügung stehenden Kräfte auf, um es zu erreichen. Maes Augen waren fest auf ihr Ziel geheftet, bisher hatte der Insasse des Kinderwagens Glück gehabt, doch nun kamen der Kinderwagen und das Mädchen, das dem Wagen gerade mal einen halben Meter davor entfernt hinterher jagte, zu einer besonders gefährlichen Stelle und dem Mädchen grauste es.
Sie überlegte zu springen, den Wagen zu packen und zu stoppen, doch dann würden sie gemeinsam auf der Straße liegen und den Autos ins offene Messer laufen.
Ihre vor Angst und unermesslicher Anstrengung zitternden Händen waren ausgestreckt, der Wagen zum greifen nahe und doch reichte es nicht. Zu gerne hätte sie einen verzweifelten Schrei ausgebracht, vielleicht gab dieser sogar Energie. Doch sie kannte gerade nichts anderes außer laufen, nichts außer ihr Ziel in den Augen zu behalten. Sie spürte das Adrenalin in ihrem Körper aufsteigen, spürte ihr Herz klopfen wie es immer schneller und immer lauter wurde, ihr Atem, der immer wieder stockte und dann in einer Form von keuchen wiedergegeben wurde.
Gleich würde der Wagen am Bordstein aufprallen und mitten auf der Straße stoppen, einen Moment musste sich Maes Blick von dem Kinderwagen mit dem nicht sichtbaren Lockenkopf darin lösen, und auf die bald kommenden Autos blicken, von denen jedes einzelne Lockenköpfchen zerquetschen könnte. Ein alter Volvo war ganz vorn, dann ein verkommener Golf und in einem größerem Abstand zu den anderen Autos ein glänzender Mercedes, der jedoch so schnell raste, dass er die anderes Autos bald zu überholen schien. Man konnte von innen nicht besonders viel sehen, doch das was man sah wies auf einen recht jungen Menschen hin und durch die Übermut mit der, der Mercedes gefahren wurde, wurde es nur bestätigt. Der Volvo zog auf der letzten Spur vor dem Bordstein vorbei und verschwand um die nächste Kurve, der Golf ebenfalls und dann wurde Maes Blick wieder zu dem Kinderwagen gezogen. Dieser rollte gerade unmittelbar, wenige Meter von dem schwarzen Mercedes entfernt. Der Mercedes machte keine Anstalten zu stoppen.
Sah dieser Vollidiot etwa nicht was sich vor seinen Augen abspielte?
Der Kinderwagen prallte in seiner Wucht gegen den Bordstein, federte ab und blieb mitten auf der Spur stehen. Nun kam alles von ganz allein. Ein Schrei der Verzweiflung entglitt dem Mädchen das mit der Hand nur noch wenige Zentimeter von dem Wagen entfernt war.
Nun war keine Zeit zu verlieren, würde sie erst auf den Bordstein rennen und den Wagen hinaufzerren, wäre es zu spät und der Mercedes würde in seiner Übermut den Kinderwagen zu Brei fahren. Für einen letzten Atemzug blieb Zeit, dann griff sie den Kinderwagen, sah in den Augenwinkeln den Mercedes immer näher rücken und stieß ihn mit aller Kraft auf den Bürgersteig. Noch währenddessen spürte sie, wie sie flog. Ja sie flog. Wie viele Meter waren es wohl? Vielleicht 10 oder 50 Meter? Für Augenblicke spürte sie nichts mehr, spürte nur ihr Herz in ihrem Brustkorb schlagen, so fest, dass es weh tat. Einige Augenblicke und sie hustete. Ein Aufschrei des Schmerzes. Und dann ein innerer Aufschrei, da ihre letzten Energiereserven nun in diesem letzten Schrei aufgebraucht wurden. Erst jetzt merkte das Mädchen, dass sie in einer Lache mit ihrem eigenen Blut lag. Beim Husten, musste sie undenkliche Schmerzen an ihren Rippen ausstehen und sie spürte einen stechenden Schmerz an ihrem Arm. Sie wollte untersuchen woher das Blut kam, wollte ihren Körper untersuchen, doch es war ihr unmöglich sich zu drehen. Ihren Blick bekam sie aber doch zum Wenden. Wie kamen nur Glassplitter in ihren Arm? Glassplitter gehörten nicht in Arme. Ihre Gedanken waren wild zerstreut und sie versuchte sich in hysterischer Unruhe an das Geschehen zu erinnern. Langsam beruhigte sich ihr wild pochendes Herz und wurde langsamer. Nach oben blickend, sah sie in tausende von verschwommenen Gesichtern, die sich über das arme Mädchen lehnten, sie hunderte Fragen stellte und miteinander diskutierten, dies bekam Mae doch nur im Hintergrund mit. War es immer noch die Ausblendung? Oder war sie taub? Hatte sie einen Hörschaden? Ihr rechte Bein fing urplötzlich an zu schmerzen, sodass sie gerne erneut aufgeschrien hätte, was ihre restliche Kraft jedoch nicht mehr zuließ. Ihr Atem ging flach, sie spürte ihr Herzschlag nicht mehr und hätte gerne versucht an ihr Herz zu fassen, um sich zu vergewissern, dass es noch da war. Nun waren ihr die Tatsachen klar. Sie schloss die Augen für einen Moment, doch sie durfte keine Zeit verlieren und nicht das Risiko eingehen einzuschlafen. Ihre Gedanken waren nun geordneter und sie wusste, was sie zutun hatte. Das Mädchen, das da auf der Straße, vor einem schwarzem Mercedes mit zersplitterter Windschutzscheibe in ihrem eigenen Blut lag nahm ihre letzte Kraft auf, denn sie durfte ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. Sie nahm die letzte Kraft der Hoffnung, kniff die Augen zusammen und wand sich voller Schmerz zur Bordsteinseite. Als sie dalag und Kraft sammelte um ihren Kopf zu wenden, damit ihre nachgebenden Augen nach ihrem Ziel suchen konnten, atmete sie flach und keuchend. Ein Zittern umgab plötzlich ihren Körper. Warum war es auf einmal so kalt hier? Sie fröstelte. Es war Sommer.
Sie merkte, ihr Körper würde ihr nichts mehr nützen können, so wendete sie mit letzter, schmerzender Kraft ihren Kopf und blickte in große, verschwommene Kulleraugen
Ein letzter gekeuchter Atemzug. Dann lächelte sie und schloss die Augen. Nun hatte sie keine Schmerzen mehr.

 

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